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"Ein gewisser Zustand des Glücks" | Hochbetagt | bpb.de

Hochbetagt Editorial Psychologie des hohen Lebensalters: Der aktuelle Forschungsstand "Ein gewisser Zustand des Glücks": Wie Hochbetagte um sich selbst Sorge tragen Seniorensitterinnen? Globale Dienstbotinnen? Personenbetreuerinnen! Dementia Care Management: Menschen zu Hause optimal versorgen Das vierte Lebensalter in Japan: Kulturelle und gesellschaftliche Rahmenbedingungen Gesetzentwürfe zur Sterbehilfe Zum kulturgeschichtlichen Kontext der Verhandlungen über das Lebensende Hochbetagter Der assistierte Suizid aus der Perspektive einer Ethik des Helfens Selbstbestimmt sterben – eine Fiktion?

"Ein gewisser Zustand des Glücks" Wie Hochbetagte um sich selbst Sorge tragen

Heinrich Grebe

/ 18 Minuten zu lesen

Mediale Bilder des hohen Alters sagen wenig aus über die Selbstsorgepraktiken, von denen Hochbetagte berichtet haben. Die so gewonnenen Einsichten machen soziokulturelle Voraussetzungen eines guten Lebens im hohen Alter deutlich.

Zusammen mit der gesellschaftlichen Langlebigkeitsentwicklung wächst das Interesse am hohen Alter: Was bedeutet die steigende Zahl von Hochbetagten? Wie ist das Leben jenseits der 80 – beziehungsweise: Wie gut kann es sein? Antworten auf diese Fragen finden sich vor allem in zahlreichen medialen Berichten, denn der "Megatrend" des Alter(n)s ist ein ebensolches Megathema. Aufschlussreich könnte jedoch auch die direkte Begegnung mit Menschen im hohen Alter sein.

Der vorliegende Beitrag setzt hier an und stellt Außen- und Innensichten vor. Erstens werden Muster der medialen Thematisierung des hohen Alters aufgezeigt. Zweitens geht es um die Ergebnisse einer Reihe von Interviews, in denen Hochbetagte ihre persönlichen Perspektiven ausgeführt haben. Im Fokus stehen dabei solche Praktiken, mit denen Menschen im hohen Alter um sich selbst Sorge tragen und mit denen sie ein möglichst gutes Leben zu verwirklichen suchen. Darauf aufbauend widme ich mich drittens der Frage, inwiefern es für "alternde Gesellschaften" besonders darauf ankommen könnte, eine soziale Umwelt herzustellen, in der Hochbetagte als Vertreter ihrer Selbst Anerkennung finden.

Die folgenden Ausführungen basieren zum einen auf der von der Volkswagen Stiftung geförderten und 2012 abgeschlossenen Studie "Gutes Leben im hohen Alter". Hierbei haben die beteiligten Kolleg(inn)en und ich unter anderem Hochaltrigkeitsbilder in Pressetexten sowie Altersratgebern als auch Gespräche mit Hochbetagten analysiert. Zum anderen greife ich auf meine Auswertung einiger aktueller Medienberichte zurück.

Pflegenotstand in der Demenz-Republik

Wenn das hohe Alter in den Medien zum Thema wird, dann oftmals im Rahmen von Berichten zum sogenannten Pflegenotstand. Für die entsprechenden Texte sind Problembeschreibungen der folgenden Art charakteristisch: "Wie (…) kann es (…) sein, dass Zehntausende alte Menschen in bundesdeutschen Heimen vor sich hin vegetieren – mit Psychopharmaka vollgedröhnt, bis auf die Knochen wund gelegen, halb verhungert, ihrer Würde beraubt?" Hingewiesen wird also auf schwerwiegende Missstände, unter denen besonders Pflegeheimbewohner(innen), aber ebenso Pflegefachkräfte zu leiden haben. Hingewiesen wird weiter auf die demografischen, pflege- und volkswirtschaftlichen sowie sozialstaatlichen Ursachen dieser Missstände wie auch auf mögliche Lösungsansätze. Die Lektüre vermittelt zumeist den Eindruck, dass das hohe Alter gegenwärtig kaum lebenswert sei.

Negativfolgen des hohen Alters werden besonders auch in Artikeln zum Thema Demenz beschrieben. Demenz, allen voran die am häufigsten diagnostizierte Form der Alzheimer-Demenz, gilt etwa als "Preis des langen Lebens" – ein Preis, der in seiner Schrecklichkeit nicht zu überbieten sei. Diese geläufige Überzeugung bringt auch der Kolumnist Franz Josef Wagner im nachfolgenden Zitat zum Ausdruck. Wagner kommentiert darin ein Interview, dass Inge Jens zur Demenzerkrankung ihres Mannes, dem Rhetorikprofessor Walter Jens, gegeben hat: "Wer dieses Interview liest, hat keine Angst mehr vor Krebs oder Flugzeugabstürzen – er hat Angst vor Demenz – vor dem Leben, kein Mensch mehr zu sein."

Angesichts der hohen Verbreitung demenzieller Beeinträchtigungen sowie der besonderen Hilfs- und Pflegebedürftigkeit der Betroffenen wird Demenz jedoch nicht nur als individuelle, sondern ebenso als kollektive Katastrophe charakterisiert. Die neue "Volkskrankheit", so die Einschätzung, droht Deutschland in eine "Demenz-Republik" zu verwandeln. In dieser gibt es neben den Demenzkranken selbst eine wachsende Zahl "Mitleidender", nämlich die pflegenden Angehörigen, zumeist repräsentiert als ganz und gar deprimierte, physisch wie psychisch ausgebrannte Personengruppe ("Alzheimer zerstört die Familie"). Von einer schweren finanziellen Mitleidenschaft ist zudem in Hinblick auf das Gesundheits-, Sozial- und Wirtschaftssystem der "Demenz-Republik" die Rede: "Demenzerkrankungen – Der teure Fluch des Alters". Eine solche Wahrnehmung ist jedoch nicht nur auf das Phänomen Demenz beschränkt. Auch Hochbetagte mit stärkeren körperlichen Beeinträchtigungen finden sich häufig als familiäre Bürden und solidargemeinschaftliche "Kostenfaktoren" beschrieben.

Gemeinsam ist den erwähnten Darstellungen somit, dass sie vor allem defizitäre Zusammenhänge aufzeigen, die tendenziell verallgemeinert und pauschal bewertet werden. Dabei ist dieses Bild des verletzlichen hohen Alters durchaus nicht alternativlos, was zum Beispiel neuere Entwicklungen in der Demenzdebatte belegen. Betroffene, Angehörige, Interessensgruppen, wissenschaftliche Studien und nicht zuletzt mediale Reportagen weisen zunehmend darauf hin, dass Menschen mit Demenz neben Defiziten auch Potenziale haben, dass sie sowie auch pflegende Angehörige positive Erfahrungen machen können und dass Demenz die Solidargemeinschaft mitnichten zerstören muss, sondern vielmehr zur Verstärkung solidarischer Lebensformen zwingt. Der anthropologische Rahmen dieser Diskussion ist ein Menschenbild, in dem – anders als in defizitorientierten Demenzdeutungen üblich – Menschlichkeit nicht auf das Vorhandensein unbeeinträchtigter kognitiver Potenziale reduziert wird.

Derartige kollektive Altersbilder geben grundlegende Orientierungen für den Umgang mit (hoch)betagten Menschen sowie für den Umgang mit dem eigenen Alter(n). Infolgedessen können sie manifeste praktische Folgen haben. Einerseits zum Positiven: Wenn etwa die Berichterstattung über Missstände zu deren Beseitigung führt. Anderseits zum Negativen: Wer hochbetagte Menschen als unselbständige und hilflose "Pflegefälle" wahrnimmt, die vor allem einer fürsorglichen Unterstützung bedürfen, wird ihnen möglicherweise kontrollierend und bevormundend begegnen. Und wer unter Einfluss der Vorstellung gerät, dass das verletzliche hohe Alter mehr oder minder unlebenswert sei und noch dazu eine kaum tragbare Last für die soziale Umwelt darstelle, dem mag unter Umständen die Möglichkeit eines "präventiven Suizids" attraktiv erscheinen: Lieber tot als ein Pflegefall.

Alte Meister in Turnschuhen

Auch wenn in den Medien tendenziell bezweifelt wird, dass das Leben Hochbetagter gelingen kann, bleibt die lange Zeit gängige Gleichsetzung von hohem Alter und Gebrechlichkeit zunehmend aus. Vielmehr finden körperlich oder geistig unbeeinträchtigte Hochbetagte verstärkt Beachtung. Das trifft unter anderem im Fall des Inders Fauja Singh zu, denn als erster 100-jähriger Marathonläufer der Welt ist er "hochbetagt, und doch fit im Turnschuh": "Von Altersmüdigkeit keine Spur." Große Bewunderung löst auch die 1925 geborene Johanna Quaas aus, denn sie ist die "älteste Wettkampfturnerin der Welt". Wertschätzung erfahren ebenfalls solche Hochbetagten, denen der Erhalt oder die Wiedergewinnung körperlicher Potenziale auf weniger spektakuläre, aber dennoch eindrückliche Weise gelingt. Die ehemalige Balletttänzerin Ingrid Rabe wird etwa porträtiert, weil sie ein Spagat vollführen kann, und zwar vier Wochen nach einem Schlaganfall, der zunächst zu einer linksseitigen Lähmung geführt hatte. Die Reportage zeigt dabei auch, was die Ursache dieses Triumphs ist, nämlich Rabes starker Wille und ihr unablässiges Training: "Sie fand sich nicht mit ihrem Schicksal ab, sondern arbeitete hartnäckig daran, wieder Herrin ihres Körpers zu sein."

Medial stark präsent sind überdies Hochbetagte, die sich durch besondere geistige Leistungen beziehungsweise ein spezifisches Wissen auszeichnen. Vielfach handelt es sich hier um Größen aus Kunst, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. "Alter Meister", so wird etwa Leonard Cohen anlässlich seines 80. Geburtstags bezeichnet und folgender Vergleich zu seinen jüngeren Jahren gezogen: "Der alte Cohen (…) ist ein in jeder Hinsicht attraktiver, gelassener gewordener Avatar des einstmals schwarzzornigen, resignativen jungen Mannes." Attraktivitätssteigerung statt Resignation, künstlerischer Zugewinn statt Verfall. Menschen im hohen Alter, überwiegend männlichen Geschlechts, stehen in derartigen Darstellungen als äußerst kreativ-schöpferische Personen im Fokus. Darüber hinaus werden Hochbetagte, und zwar ebenfalls vornehmlich Männer, vor dem Hintergrund ihrer beruflichen Vergangenheit als reife und weise Ratgeber gekennzeichnet. Exemplarisch dafür ist die Schlagzeile zu einer Begegnung von Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker: "Hier treffen sich fast 200 Jahre politische Weisheit!" Besondere geistige Potenziale werden des Weiteren in zahlreichen Meldungen über Hochbetagte herausgestellt, die studieren und einen akademischen Titel erwerben. Ihr Beispiel zeigt nicht zuletzt, dass auch Menschen im hohen Alter dem Imperativ des lebenslangen Lernens gerecht werden können: "Zum Studieren ist es nie zu spät."

Die Zusammenschau von Darstellungen dieser Art zeigt, dass hier ganz spezifische Aktivitätsformen im Zentrum stehen und als Erfolgsmaßstab dienen. Zum einen handelt es sich dabei um körperliche Aktivitäten wie turnerische und akrobatische Übungen oder präventiv-rehabilitative Maßnahmen. Zum anderen geht es um spezifische Betätigungen, für die geistige Potenziale entscheidend sind. Dazu gehört besonders die künstlerische Arbeit, die Weitergabe von Erfahrungen und Wissen oder die eigene Weiterbildung. Diese spezifischen Aktivitäten finden nicht zuletzt deshalb besondere Beachtung, weil sie zeigen, dass der Wunsch nach einem mehr oder minder unbeeinträchtigten Alterungsprozess realisierbar ist. Fauja Singh, Johanna Quaas oder Ingrid Rabe gelingt es, die körperliche Verletzlichkeit des hohen Alters auf Distanz zu halten. Die intellektuelle Gruppe hingegen beweist, dass geistige Potenziale selbst im Angesicht etwaiger körperlicher Beeinträchtigungen relativ verletzungsfrei und vor allem wachstumsfähig bleiben können. Die enorme Anerkennung, die den erfolgreichen Hochbetagten und ihren Aktivitäten zuteil wird, lässt sich hingegen mit Bezug auf einflussreiche gesellschaftliche Wertvorstellungen erklären. Denn die betreffenden Personen erweisen sich in ihrem Tun als ebenso diszipliniert wie produktiv – Ruhestand oder Müdigkeit scheinen für sie keine Optionen zu sein, wie sie auch niemanden zur Last fallen, sondern Jüngere stattdessen inspirieren und unterstützen. Aus diesem Grund wird ihnen auch ein Vorbildcharakter und der Status einer gesellschaftlichen Bereicherung zugeschrieben.

In Hinblick auf mögliche Orientierungseffekte bleibt dreierlei festzuhalten. Erstens vermitteln diese Erfolgsgeschichten ein Gegenbild zu Belastungs- und Verfallsvorstellungen, indem sie die Vielfältigkeit des hohen Alters anhand positiver Erfahrungs- und Entwicklungsmöglichkeiten belegen. Zweitens kann dieses strahlende Altersbild aber auch zur Verschärfung der Situation beitragen. Denn individuell sowie gesellschaftlich potenzialträchtig und deshalb annehmbar scheint das hohe Alter nur dann zu sein, wenn es von körperlichen, zumindest aber von geistigen Verletzlichkeiten befreit bleibt. Eine Situation, in der die "Herrschaft" über den Körper oder – schlimmer noch – über den Geist verloren geht, wird hier zum Inbegriff existenziellen Misserfolgs. Drittens weist die mediale Berichterstattung nicht nur körperlich-geistige Erfolgsbeispiele aus, sie betont dabei ebenfalls, dass die Erfolgreichen ihre vorteilhafte Lage durch unablässiges präventiv-rehabilitatives Engagement eigenverantwortlich hergestellt haben. Dieser exemplarische Beleg der großen Gestaltbarkeit des Alterungsprozesses kann in den Umkehrschluss münden, dass pflegebedürftige Hochbetagte mangelhaften "Widerstand" gegen körperliche und geistige Beeinträchtigungen geleistet haben. Ein solches "Versagen" könnte zudem zum Beleg für die moralische Verantwortungslosigkeit der Betroffenen werden, denn als Pflegebedürftige legen sie der Gesellschaft schwerwiegende finanzielle Belastungen auf. Das erfolgreiche hohe Alter wird in derartigen Situationen zu einem verpflichteten Leitbild, das auf eine biopolitische Kontrolle, also eine Regulierung der physisch-kognitiven Konstitution der hochbetagten Bevölkerung hinwirkt.

Das hohe Alter und die Sorge um sich

Im Rahmen der eingangs erwähnten Studie konnte ich elf Frauen und drei Männer zwischen 80 und 101 Jahren zu der Möglichkeit eines guten Lebens im hohen Alter befragen. Einerseits haben meine Gesprächspartner(innen) hier in verallgemeinernder Weise die Themen Gesundheit, Selbstständigkeit, materielle Sicherheit sowie soziale Einbindung angesprochen. Mit Bezug auf den eigenen Alltag wurden andererseits ganz konkrete wertgeschätzte Tätigkeiten und Erfahrungen beschrieben. Darunter etwa die Beobachtung von sozialer Umwelt und Natur, die Begegnung mit anderen Menschen – und sei diese auch noch so flüchtig, die Kontemplation, die Verwirklichung von Entspannungs- und Ruhephasen, der Genuss von Speisen und Getränken oder die Rezeption von Unterhaltungs- und Informationsangeboten. Bezeichnenderweise handelt es sich dabei vielfach um Zusammenhänge, die im Aktivitätenkanon des erfolgreichen hohen Alters unbeachtet bleiben – oder problematisiert werden, wie zum Beispiel "unproduktives Ausruhen" und der "passive Konsum" von Fernsehsendungen.

Besonders aufschlussreich waren die Gespräche zudem hinsichtlich solcher Vorgehens- und Anschauungsweisen, mit denen die Befragten subjektiv positive Situationen herzustellen versuchen und auf Verluste sowie Herausforderungen reagieren. In Anlehnung an den Philosophen Michel Foucault spreche ich hier von "Technologien des Selbst", die die Grundlage einer Selbstsorge sind. Foucault hat derartige Selbstsorgetechnologien am Beispiel griechisch-römischer Schriften zur Ethik der Sorge um sich analysiert. Sie sollten es dem Einzelnen ermöglichen, "aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt." Die Selbstsorgepraktiken meiner Gesprächspartner(innen) stehen nicht in Verbindung mit einem elaborierten ethischen Kontext wie dem der antiken Sorge um sich. Foucaults Schriften liefern gleichwohl einen fruchtbaren theoretischen Rahmen für die Erfassung und Deutung von Formen der Lebensgestaltung, wie sie sich etwa in der Auseinandersetzung mit den Verletzlichkeiten und Grenzen des Daseins vollziehen oder in Reaktionen auf bestimmte soziale Zusammenhänge.

Vieles von dem, was ich als Ausdruck einer Selbstsorge hochbetagter Menschen deute, erscheint zunächst unerheblich und dient auch weniger der Erlangung von Reinheit, Weisheit oder Vollkommenheit. Um einen "gewissen Zustand des Glücks" geht es hingegen sehr wohl, wie das Beispiel des 85-jährigen Herrn Boll zeigt. Er besucht täglich den nahegelegenen Supermarkt, um dort ein Stück Obst oder eine andere Kleinigkeit zu kaufen. Unbedingt notwendig sind diese Einkäufe kaum – auch deshalb nicht, weil der diabeteskranke Herr Boll und seine Ehefrau von einem ambulanten Pflegedienst mit Mahlzeiten versorgt werden. Da mich jedoch vorangegangene Gespräche für den Stellenwert derartiger "Shoppingtouren" sensibilisiert hatten, bemerkte ich dazu: "Und dann trifft man vielleicht mal jemanden beim Einkaufen." Worauf Herr Boll entgegnete: "Treffen sie immer jemand, da treffen sie immer jemanden. Der eine ist Schalker Fan, der eine ist von Dortmund Fan und da wird sich unterhalten, woll, und das, das ist schön, ne." Herr Boll legte damit den eigentlichen Grund für seine anhaltende Konsumfreude offen. Es ist die Aussicht auf ein Zusammentreffen mit anderen Menschen – bestenfalls solchen, die seine Fußballleidenschaft teilen. Was gemeinhin als Small Talk disqualifiziert wird, stellt also einen sehr guten Moment im Tagesverlauf von Herrn Boll dar, weshalb er solche Situationen beständig herzustellen versucht.

Auch für die 88-jährige Frau Uhl sind Small-Talk-Situationen wichtig. Diese erlebt sie vor allem im Austausch mit den Pflegefachkräften der Betreuungseinrichtung, in der sie seit einem Schlaganfall lebt. Frau Uhl erzählte mir von Urlaubsreisen nach Bad Vilbel, die sie mit ihrem mittlerweile verstorbenen Mann unternommen hatte: "Das sind so selige Erinnerungen dann (…)". Nach meiner Wiederholung der Formulierung "selige Erinnerungen" erläuterte Frau Uhl: "Ja, wenn ich irgendwelche Sorgen hab, (…) mit denen ich einschlafen würde, dann versuche ich mich an irgendwas von Bad Vilbel zu erinnern." Anlass zu quälenden Sorgen gibt Frau Uhl vor allem der Tod ihres Mannes, aber auch ihr schlechter gesundheitlicher Zustand, die Abnahme ihrer Beweglichkeit, ihre Inkontinenz oder die Situation einiger Angehöriger. Um zu verhindern, dass ihre Probleme sie gedanklich überwältigen, greift sie bewusst auf Erinnerungen an positive Lebenserfahrungen (Bad Vilbel) zurück. Das Mittel der Rückerinnerung ermöglicht es Frau Uhl wie auch einigen anderen Befragten, Verlust- und Verletzlichkeitssituationen zumindest zeitweise etwas zu entschärfen.

Die folgenden zwei Beispiele sollen abschließend zeigen, inwiefern bestimmte Selbstsorgepraktiken auf soziale Herausforderungen reagieren, denen sich Hochbetagte ausgesetzt sehen. Die 87-jährige Frau Menn lebte zum Zeitpunkt unseres Gesprächs allein und wurde bei der Körper- und Wohnungspflege von einem Pflegedienst unterstützt. Ein Bekannter war ihr bei den Lebensmitteleinkäufen behilflich, wobei es jedoch wiederholt zu Schwierigkeiten kam: "Wir gehen (…) jeden Mittwoch auf den Markt (…). Und wenn ich da nicht so schnell mein Geld aus dem Portemonnaie raus krieg, dann zahlt er schon oder nimmt es schon raus (…) Ich habe versucht ihm klar zu machen: Ich möchte doch wieder selbstständig werden." Frau Menn erfährt an dieser Stelle eine Behinderung, die nicht aus ihren körperlichen Beeinträchtigungen resultiert, sondern sozialer Natur ist. Sie kann und will trotz der damit verbundenen Mühen eigenständig bezahlen und somit Selbstsorge durch Selbstverteidigung betreiben – doch ihr Bekannter unterbindet das und beschränkt so ihre Handlungsmöglichkeiten. Es handelt sich hier um ein Verhalten, das nicht zuletzt eng mit der Vorstellung verbunden ist, körperlich beeinträchtigte Hochbetagte seien rundherum hilflos und fürsorgebedürftig.

Das Beispiel der 84-jährigen Frau Laar zeigt hingegen, inwiefern gesellschaftliche Demenzbilder zu einer manifesten Bedrohung für die Selbstbestimmung hochbetagter Menschen werden können. Eines Abends hatte Frau Laar eine irritierende optische Wahrnehmung: Auf dem Sofa ihrer Wohnung sah sie die einige hundert Kilometer entfernt lebende Enkeltochter sitzen. Wie sich im Gespräch mit ihrer Tochter herausstellte, handelte es sich um eine Halluzination, denn das Kind war bei den Eltern zu Hause. Die Tochter begann daraufhin den geistigen Zustand von Frau Laar zu hinterfragen und versuchte, sowohl eine psychiatrische Untersuchung ihrer Mutter herbeizuführen, als auch deren Konto sperren zu lassen. Zum einen hat das Frau Laar enttäuscht und wütend gemacht: "Ich war ja doch ein bisschen sauer da drüber, dass die so flink an mir zweifelt, denn die hat mich doch besser gekannt wie alle andere(n)." Zum anderen hat sie aus dieser Erfahrung praktische Konsequenzen gezogen: "Seit dieser Zeit traue ich (mich) überhaupt nicht mehr, irgendwas zu erzählen. Auch bei meiner Tochter nicht. Zum Beispiel irgendwelche irren Träume, ja." Um zu verhindern, dass ihre geistige Leistungsfähigkeit noch einmal in Zweifel gezogen werden kann, verschweigt Frau Laar Erfahrungen und Wahrnehmungen wie Halluzinationen oder "irre Träume". Es handelt sich dabei um eine Selbstverteidigungsstrategie, die nicht zuletzt auf den Erhalt der eigenen Geschäftsfähigkeit zielt, und zwar indem das Aufkommen eines Verdachts verhindert wird, dem sich Hochbetagte bei etwaigen Fehlleistungen schnell ausgesetzt sehen: Ist es Demenz? Zwar reicht "die Verdachtsdiagnose ‚Demenz‘ für einen Verlust der Geschäftsfähigkeit" nicht aus – dennoch zeigt das Beispiel, wie problematisch und folgenreich bereits Vermutungen über etwaige geistige Defizite sein können.

Über die aufgeführten Beispiele hinaus manifestiert sich die Selbstsorge Hochbetagter etwa auch in bestimmten Formen der Beschäftigung mit der eigenen Sterblichkeit, in der Lebensbilanzierung und der Hervorbringung einer erneuerten Selbstinterpretation, in der Annahme der Unerfüllbarkeit bestimmter Lebensziele oder in der Aneignung einer besonderen Gelassenheit ("Alters-Coolness"). Die betreffenden Technologien des Selbst ermöglichen es hochbetagten Menschen, sich in ihrem Alltag und ganz besonders im Angesicht altersbedingter Verluste und Belastungen aufzumuntern und zu erfreuen, Misslichkeiten standzuhalten, sich als Person wertzuschätzen oder die eigene Person zu schützen. Gerade letzterer Aspekt unterstreicht, dass Selbstsorgepraktiken oftmals auf eine soziale Umwelt reagieren, die Menschen im hohen Alter vor dem Hintergrund spezifischer Altersbilder (wohlmeinend) kontrolliert und behindert. Gleichwohl stellt Selbstsorge kein "Allheilmittel" dar, das jede Behinderung, jeden Verlust und jedes Problem zu beseitigen oder abzufangen ermöglicht. Folglich kann tiefe Verzweiflung auch nicht einfach auf unterlassene Selbstsorge zurückgeführt werden. Überdies gilt, dass bei der Fokussierung auf Technologien des Selbst keineswegs außer Acht geraten darf, dass hochbetagte Menschen auf vielfältige und zum Teil sehr intensive Weise Sorge um andere tragen: Selbstsorge schließt Generativität keineswegs aus.

Hochbetagte als Vertreter ihrer selbst

Genauso wie eine Gleichsetzung des hohen Alters mit Krankheit und Gebrechlichkeit fehl läuft, ist auch die Einschätzung irrig, dass es im hohen Alter im Allgemeinen und vor allem beim Eintreten gesundheitlicher und funktionaler Probleme zum Verlust von Handlungsmächtigkeit und Selbstbestimmung (loss of agency) kommen muss. Zurückzuführen ist diese Fehleinschätzung besonders auf eine mangelnde Sensibilität gegenüber der Selbstsorge hochbetagter Menschen – sie wird häufig übersehen beziehungsweise nicht als solche wahrgenommen. Erstens, weil verschiedene Selbstsorgepraktiken im Inneren ablaufen, was die Rückerinnerung von Frau Uhl oder die Selbstverteidigungsstrategie von Frau Laar veranschaulichen. Zweitens, weil viele Selbstsorgepraktiken nicht jenen Produktivitätsformen entsprechen, für die die erfolgreichen Hochbetagten Lob erfahren. Für Herrn Boll etwa sind Stehgreifgespräche zum Thema Fußball wichtig – Interesse an einer Promotion zeigt er hingegen nicht. Drittens wird die Selbstsorge Hochbetagter häufig auf ganz spezifische Weise fehlgedeutet. Wenn sich Menschen im hohen Alter an Wochenmarkttheken und Supermarktkassen so verhalten wie Frau Menn, gelten sie zumeist nicht als Unabhängigkeitskämpferinnen, sondern als "starrsinnige Alte". Auch die Selbstsorge von Menschen mit Demenz bleibt oftmals unbeachtet. Etwa dort, wo man "herausforderndes Verhalten" allein auf eine Erkrankung des Gehirns zurückführt und folglich nicht in Betracht zieht, dass dieses Verhalten auch ein Bemühen um die Verwirklichung persönlicher Interessen zum Ausdruck bringen kann.

Eine erhöhte Sensibilität gegenüber der Selbstsorge von hochbetagten Menschen würde hingegen die Einsicht geradezu aufdrängen, dass sie grundsätzlich als Vertreter ihrer Selbst anzuerkennen sind. Allgemeinverbindliche Erfolgsmodelle, die auf einem reduktionistischen Aktivitäts- und Produktivitätsbegriff beruhen und die zu einer biopolitischen Kontrolle des hohen Alters beitragen, vermitteln eine solche Einsicht nicht. Genauso wenig tun das "Verletzlichkeitserzählungen", die das Zustandekommen von Situationen dysfunktionaler Abhängigkeit begünstigen – einer Abhängigkeitsform, "durch die der Mensch daran gehindert wird, jene Handlungen selbstständig auszuführen, die er (…) relativ autonom ausführen könnte". Abhängigkeit muss jedoch Selbstvertretung keineswegs ausschließen: Wer auf Hilfs- und Pflegeleistungen angewiesen ist, verliert dadurch nicht zwangsläufig seine Selbstbestimmung, sondern kann sie oftmals nur so – nämlich mit Unterstützung anderer – überhaupt erst verwirklichen.

Hieraus leitet sich eine entscheidende gesellschaftliche Herausforderung ab: Wenn das hohe Alter nicht tatsächlich zu einem Autonomieverlust führen soll, kommt es auf Lebensumstände an, in denen subjektive Selbstsorge anerkannt und erforderlichenfalls von einer "nicht-paternalistischen Fürsorge" unterstützt wird. Ansätze dazu werden sowohl im Bereich der institutionellen Altenhilfe erprobt als auch im Rahmen von ersten Aktionen mit kommunalem Bezug entwickelt. Was die betreffenden Initiativen ernst nehmen, ist die soziokulturelle Plastizität des Alter(n)s, also den Umstand, dass dessen Möglichkeiten und Grenzen ganz entscheidend von gesellschaftlichen Perspektiven und Praktiken abhängen. Damit wird der Machbarkeitsgedanke, der gegenwärtig vor allem noch auf die biologische sowie die psychologische Plastizität des Alter(n)s beschränkt ist, neu akzentuiert und erweitert. Nämlich auf die Frage hin, welche sozialen und kulturellen Potenziale für die Verwirklichung eines subjektiv guten Lebens im hohen Alter erschlossen werden können.

M.A., geb. 1980; Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft – Populäre Kulturen – der Universität Zürich, Affolternstraße 56, 8050 Zürich/Schweiz. E-Mail Link: grebe@isek.uzh.ch