Europäisches Antidiskriminierungsrecht in Deutschland
Vor zehn Jahren, im August 2006, trat das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in Kraft. Es verbietet Diskriminierungen aufgrund der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität sowie rassistische Diskriminierungen. Das AGG ist das zentrale Regelungswerk zur Umsetzung der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien in Deutschland. Mit seinem Erlass waren Befürchtungen bezüglich gewachsener nationaler Rechtsstrukturen ebenso verbunden wie große Hoffnungen auf effektive Gleichheit und gesellschaftliche Teilhabe. Antidiskriminierungsrecht ist in Deutschland mittlerweile etabliert; den europäischen Standard erreicht es aber nicht.Von der Entgeltgleichheit zum Diskriminierungsverbot
Als eine der ersten europäischen Antidiskriminierungsregelungen wurde 1957 der Grundsatz "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" für Frauen und Männer in Artikel 119 des Vertrags über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (heute Artikel 157 Vertrag über die Europäische Union) aufgenommen. Hintergrund war allerdings nicht, dass man sich um die Gleichberechtigung der Geschlechter verdient machen wollte. Frankreich setzte das Gebot der Entgeltgleichheit durch, weil es aufgrund einer entsprechenden nationalen Regelung Wettbewerbsnachteile gegenüber anderen europäischen Staaten befürchtete.[1] Das europäische Antidiskriminierungsrecht entwickelte sich zunächst in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter in der Arbeitswelt: 1975 durch die Richtlinie 75/117/EWG zur Entgeltgleichheit und 1976 durch die Richtlinie 76/207/EWG[2] zum Verbot der Geschlechtsdiskriminierung in Beschäftigung und Beruf; beide 2006 zusammengefasst zur Gleichstellungsrichtlinie 2006/54/EG.Durch die Richtlinie 2004/113/EG wurde das Verbot der Geschlechtsdiskriminierung auf den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen ausgedehnt, durch Richtlinie 2010/41/EU auf selbstständige Erwerbstätigkeit. Oft nicht als Antidiskriminierungsrecht eingeordnet, aber wesentlich für die Förderung der Gleichberechtigung der Geschlechter in der Arbeitswelt sind die Richtlinie 2010/18/EU zur Elternzeit und die Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG, deren seit 2008 angestrebte Reform 2015 endgültig scheiterte.
Mit Artikel 13 des Vertrags von Amsterdam (heute Artikel 10 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) wurde 1999 ein allgemeines Diskriminierungsverbot in Bezug auf Geschlecht, rassistische Zuschreibungen, ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Orientierung statuiert. Der Beginn eines europäischen Rechtsrucks durch die Regierungsbeteiligung der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) beschleunigte die Verabschiedung weiterer Regelungen.[3] Die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG schützt vor Diskriminierung aufgrund von Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Orientierung in Beschäftigung und Beruf. Die Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG verbietet rassistische Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf, sozialer Sicherung und Bildung sowie in Bezug auf Güter und Dienstleistungen.
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz
Europäische Richtlinien gelten nicht unmittelbar in den Mitgliedstaaten, sondern müssen innerhalb festgelegter Fristen in nationales Recht umgesetzt werden. Verzögert der Staat die Umsetzung, können sich Bürger*innen[4] unmittelbar auf hinreichend konkrete Rechte aus der Richtlinie berufen, allerdings nur gegenüber dem Staat und nicht gegenüber anderen Privaten.[5] Die Besonderheit der europäischen Diskriminierungsverbote im Vergleich zu den Diskriminierungsverboten im Grundgesetz ist aber gerade, dass sie zwischen Privaten gelten. Eine direkte Berufung auf Antidiskriminierungsrichtlinien kommt daher nicht in Betracht, denkbar ist jedoch ein Schadensersatzanspruch gegen den Staat wegen Nichtumsetzung. Außerdem kann die Europäische Kommission in solchen Fällen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik einleiten.Erste Entwürfe für ein deutsches Antidiskriminierungsgesetz gab es bereits in den 1990er Jahren von PDS, Bündnis 90/Die Grünen und SPD.[6] Ein Entwurf des Bundesjustizministeriums zur Umsetzung der Antirassismusrichtlinie im Jahr 2000 verlief im Sande. Nach Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland im Sommer 2004 wurde sehr schnell ein Gesetzentwurf zur einheitlichen Umsetzung der damals vier Antidiskriminierungsrichtlinien (2000/43/EG, 2000/78/EG, 2002/73/EG, 2004/113/EG) präsentiert. Geäußerte Sorgen um den Bestand der deutschen Wirtschaft und des deutschen Zivilrechts waren erheblich, wurden aber nach einem einschlägigen Urteil des Europäischen Gerichtshofs von der Angst vor einer unmittelbaren Anwendbarkeit europäischen Antidiskriminierungsrechts übertroffen.[7] Die Bundestagswahl 2005 unterbrach die nach Eröffnung des europäischen Zwangsgeldverfahrens beschleunigte Gesetzgebung, und das AGG wurde erst im Sommer 2006 und mit erheblichen Abschwächungen des ursprünglich intendierten Schutzes beschlossen.[8]
Die Bundesregierung betrachtet das AGG als abschließende Umsetzung europäischen Antidiskriminierungsrechts und sieht auch nach Erlass weiterer Richtlinien keinen Änderungsbedarf. Ebenso wurden die im Gesetzgebungsverfahren herbeigeführten Umsetzungsdefizite nie korrigiert. Wichtige Konzepte des europäischen Antidiskriminierungsrechts werden durch erhebliche europarechtswidrige Lücken im AGG konterkariert.
Was ist Diskriminierung?
Alle Antidiskriminierungsrichtlinien enthalten jeweils in Artikel 3 die gleichen Definitionen verbotener Diskriminierung: unmittelbare und mittelbare Diskriminierung, Anweisung zur Diskriminierung sowie (sexuelle) Belästigung. Diese Definitionen sind in Paragraf 3 AGG fast wortgleich übernommen. Zwar ist der Begriff "Diskriminierung" im AGG durchgängig durch "Benachteiligung" ersetzt, das Schutzniveau wird dadurch aber ausdrücklich nicht abgesenkt.Eine unmittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person direkt wegen eines der genannten Merkmale benachteiligt wird. Der Katalog der Merkmale ist nicht zufällig gewählt – auch wenn sich durchaus darüber streiten lässt, ob er hinreichend ist[9] –, sondern beruht auf langjährigen Erfahrungen struktureller gesellschaftlicher Benachteiligung. Ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion, Behinderung, Alter und sexuelle Orientierung sind Kategorien, denen Menschen grundsätzlich zugeordnet und anhand derer gesellschaftliche Ressourcen (Anerkennung, Chancen, Teilhabe, materielle Güter) verteilt werden.[10] Unmittelbare Diskriminierung kann nur in sehr engen Ausnahmefällen gerechtfertigt werden. Sie liegt auch vor, wenn das Merkmal, etwa Behinderung, bei der Benachteiligung nur vermutet wird.
Eine mittelbare Diskriminierung ist gegeben, wenn scheinbar neutrale Vorschriften oder Kriterien faktisch zur Benachteiligung wegen eines der Merkmale führen. Die europäische und deutsche Rechtsprechung beschäftigte sich zunächst mit der Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten, die eine mittelbare Diskriminierung von Frauen darstellt. Andere Beispiele sind das Erfordernis deutscher Muttersprache oder einer bestimmten Körpergröße oder Beschäftigungsdauer, die Benachteiligung von Lebenspartnerschaften oder bei längerer Arbeitsunfähigkeit.[11] Mittelbare Diskriminierung kann sachlich gerechtfertigt werden, wenn sie verhältnismäßig ist. Eine Benachteiligung wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft gilt als unmittelbare Geschlechtsdiskriminierung.
Es besteht ein Verbot der Anweisung zur Diskriminierung, das Vorgesetzte in die Pflicht nimmt und es Beschäftigten erlaubt, sich ohne arbeitsrechtliche Konsequenzen einer solchen Anweisung zu widersetzen. Verbotene Belästigung liegt vor, wenn ein feindseliges Umfeld in Bezug auf eines oder mehrere der geschützten Merkmale geschaffen wird, beispielsweise durch ständige rassistische Bemerkungen, die "witzig" gemeint sein sollen. Eine spezifische Geschlechtsdiskriminierung stellt die sexuelle Belästigung durch unerwünschtes Verhalten sexueller Natur dar.[12] Mehrere Diskriminierungskategorien und -formen können auch miteinander verschränkt auftreten, dann liegt eine mehrdimensionale oder intersektionale Diskriminierung vor.[13] Beispiele sind Kopftuchverbote gegen muslimische Frauen oder der Ausschluss junger "arabischer" Männer aus Clubs, Diskotheken oder Schwimmhallen.[14] Paragraf 4 AGG bestimmt, dass in solchen Fällen in Bezug auf jedes betroffene Merkmal eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung vorliegen muss.
Positive Maßnahmen wie Quotenregelungen sind keine Diskriminierung. Die Antidiskriminierungsrichtlinien (und Paragraf 5 AGG) erklären diese Instrumente, die gewachsene Ungleichheiten beseitigen und tatsächliche Gleichstellung erreichen sollen, ausdrücklich für zulässig. Die in Deutschland umstrittenen sogenannten Frauenquoten, die bei gleicher Qualifikation eine Entscheidung für die weibliche Kandidatin ermöglichen, sind entgegen anderslautender Behauptungen weder europarechts- noch verfassungswidrig. Allerdings sind sie weitgehend wirkungslos – seit Jahren schon gibt es bei Einstellungsverfahren einfach keine "gleiche Qualifikation" mehr.[15]
Nach anderthalb Jahrzehnten wirkungsloser Selbstverpflichtungen gilt seit 1. Januar 2016 eine Mindestgeschlechterquote von 30 Prozent für Aufsichtsräte in Deutschland. Allerdings sind die Sanktionen moderat, nur 100 Unternehmen betroffen, und für Vorstände und Leitungsebenen sollen wieder Selbstverpflichtungen genügen.[16] Eine weitergehende europäische Regelung hat Deutschland verhindert. Angesichts der Erfahrungen mit der Geschlechterquote besteht Zurückhaltung, auch in Bezug auf andere Merkmale, beispielsweise Migrationshintergrund, positive Maßnahmen zu ergreifen.