Recht als Türöffner für gleiche Freiheit? Eine Zwischenbilanz nach zehn Jahren AGG
Für Kian[1] war die Party vorbei, bevor sie richtig begonnen hatte. "Du heute nicht!", stellte der Türsteher klar. Kian wollte den Geburtstag eines Freundes in einem Club feiern. Er wurde abgewiesen, seine Freund*innen[2] dagegen nicht. Er trug ein weißes Shirt und neue Sneakers. Er roch nicht nach Alkohol und sah auch sonst ganz normal aus. Doch Kian hatte eine Idee, woran es lag. Es war nicht das erste Mal, dass er nicht in einen Club kam. Manchmal waren seine Schuhe schuld, manchmal hieß es, es sei zu voll. Diesmal gab ihm der Türsteher eine überraschend offene Antwort: "Der Chef will nicht so viele Ausländer im Club". Kian ist Deutscher, seine Eltern sind kurdisch.Kian teilt diese Erfahrungen mit vielen Menschen in Deutschland, die nicht ins Bild vom "typischen Deutschen" passen und deshalb regelmäßig an Einlasstüren, im Bewerbungsverfahren oder bei der Wohnungssuche scheitern – oft unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. Erfahrungen mit solchen rassistischen Diskriminierungen im Zivilrechtsverkehr betreffen auch den Einzelhandel oder die Mitgliedschaft in Fitness-Studios und Sportvereinen. Benachteiligt werden nicht nur junge Männer, sondern auch Women of Color, muslimische Kopfbedeckungen tragende Frauen, Einwanderungsfamilien, Sinti und Roma.
Solchen Fällen von Alltagsdiskriminierung kann eine manifeste rassistische Ablehnung zugrundliegen, aber auch unbewusste Ressentiments oder weitverbreitete rassistische Stereotype, wonach Menschen qua Biologie oder Kultur frauenverachtend, unkontrolliert, kriminell oder weniger intelligent seien. Deutlich wird diese Konstruktion zurzeit in den rassistisch aufgeladenen Debatten über sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum.[3] Für die Ausgeschlossenen ist die Intention meist egal, denn der Effekt bleibt derselbe: Sie werden benachteiligt, herabgewürdigt – diskriminiert. "Du stehst da und fragst dich: Was habe ich falsch gemacht? Du fühlst Dich erniedrigt, verletzt. Es ist so demütigend und peinlich, das ist schwer zu ertragen", berichtete Hamado Dipama, Münchner, geboren in Burkina Faso, dem US-amerikanischen Onlinemagazin "The Atlantic CityLab" von seinen Erfahrungen in Münchner Diskotheken.[4]
In den Vereinigten Staaten oder Großbritannien ist rassistische Diskriminierung im Güter- und Dienstleistungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt schon seit Jahrzehnten gesetzlich verboten. Hierzulande verbietet seit nunmehr zehn Jahren das zivilrechtliche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) rassistische Diskriminierungen sowie Diskriminierungen, die an die Geschlechtsidentität oder Geschlechterrolle, an Religion oder Weltanschauung, an Behinderungen, das Lebensalter oder die sexuelle Identität anknüpfen. Was hat das Gesetz bewirkt? Können Klagen gegen Diskriminierung Türen öffnen? Können sie die Nachteile und Erniedrigungen wiedergutmachen, die mit Alltagsdiskriminierung einhergehen? Diesen Fragen geht dieser Beitrag, vornehmlich am Beispiel rassistischer und religionsspezifischer Diskriminierung, nach.
Umkämpfter Start
Antirassistische NGOs, Behindertenorganisationen, feministische Jurist*innen und LGBT[5]-Anwält*innen, viele feierten das Inkrafttreten des AGG im August 2006. Europäische Akteur*innen hatten sich seit langer Zeit für ein EU-weites Maßnahmenpaket gegen Diskriminierung eingesetzt, das die bestehenden Genderrichtlinien ergänzen sollte. Die Starting Line Group, eine Koalition aus NGOs und staatlichen Organisationen aus Großbritannien und den Niederlanden, hatte schon 1993 einen Entwurf für eine Antirassismusrichtlinie entworfen – auch als Reaktion auf eine Welle rassistischer und antisemitischer Gewalt in Europa Anfang der 1990er Jahre. Die Regierungsbeteiligung der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) unter Jörg Haider in Österreich 1999 beschleunigte schließlich die einstimmige Verabschiedung der Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG und der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG.[6]Neben dem Recht der EU beeinflussten vor allem die Kämpfe der Frauenbewegung und feministischer Jurist*innen um Diskriminierungsschutz im Arbeitsleben die Entwicklung des deutschen Antidiskriminierungsrechts.[7] Vor dem AGG existierten einfachgesetzliche Antidiskriminierungsvorschriften nur im deutschen Arbeitsrecht und fast ausschließlich in Bezug auf geschlechtsspezifische Diskriminierung und Diskriminierung von Menschen mit Schwerbehinderung. Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz enthält ein Verbot rassistischer Diskriminierung, zwischen Privaten entfaltet es jedoch keine direkte Wirkung. Zwar sollten die verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbote über die Auslegung von Generalklauseln im Bürgerlichen Gesetzbuch auch zwischen privaten Vertragspartner*innen wirken, dieser Schutz blieb aber in der Praxis wirkungslos, weil diese Rechte kaum bekannt waren und Ersatzansprüche zum Teil nur beim Nachweis vorsätzlichen Handelns gewähren. Auch strafrechtliche Tatbestände, wie Beleidigung oder Volksverhetzung, müssen vorsätzlich begangen werden. Diskriminierungen, wie sie Kian oder Hamado erleben, sind nicht davon abgedeckt, solange sie nicht mit expliziten und vorsätzlichen rassistischen Äußerungen einhergehen.
Zivilrechtliches Antidiskriminierungsrecht ist dagegen folgenorientiert.[8] Es geht nicht um Vorsatz oder Schuld, sondern um benachteiligende, ausschließende und verletzende Effekte, die Handlungen haben. Auch "nicht böse gemeinte" diskriminierende Handlungen und mittelbar benachteiligende Strukturen haben für die davon betroffenen Menschen schwerwiegende Folgen. Der folgenorientierte Rechtsschutz verhindert, dass Diskriminierung weiterhin als primär moralisches Problem in Bezug auf Randgruppen begriffen wird, und macht seine Bedeutung als gesamtgesellschaftliches Thema sichtbar: individuelle und kollektive Verantwortung für die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft. Im Unterschied zum Strafrecht eröffnet das AGG den benachteiligten Personen die Möglichkeit, eine Rechtsverletzung selbst außergerichtlich oder vor Gericht geltend zu machen und auf Unterlassung, Gleichbehandlung und die Kompensation erlittener Schäden zu klagen.
Das AGG stellt insofern eine konzeptionelle und rechtspolitische Zäsur für die bundesdeutsche Rechtskultur dar und war von Anfang an umkämpft. Dass Menschen, die beim Zugang zu Gütern oder Dienstleistungen diskriminiert werden, auf Unterlassung und Wiedergutmachung klagen können, wurde als Angriff auf die Vertragsfreiheit gedeutet. Verfechter*innen eines Antidiskriminierungsgesetzes wurde vorgeworfen, eine "Tugendrepublik" errichten zu wollen und "AGG-Hoppern" die Tür zum Rechtsmissbrauch zu öffnen.[9] Die prophezeite Klagewelle blieb ebenso aus wie der Untergang der Vertragsfreiheit. Und auch wenn es weiter Vorbehalte gegen das Gesetz gibt, die Bilanz nach zehn Jahren fällt in vielfacher Hinsicht positiv aus.
Erfolge: Diskriminierung zum Thema machen
Gerichtliche Entscheidungen haben zur Rechtsfortbildung beigetragen, sie verweisen auf ein erhöhtes Bewusstsein und eine damit einhergehende Rechtsmobilisierung. Klagen gegen Altersdiskriminierung führten zur Änderung tarifvertraglicher Regelungen und Altershöchstgrenzen und unterstützten Diskussionen über einseitig defizitär geprägte Altersbilder. Schwule und lesbische Lebenspartner*innen beriefen sich auf das AGG und erkämpften ihr Recht auf Gleichbehandlung in der betrieblichen Altersvorsorge. Das Bundesarbeitsgericht stellte klar, dass auch chronische Krankheiten wie eine symptomlose HIV-Infektion unter den Behinderungsbegriff des AGG fallen, weil das gegenwärtig auf eine solche Infektion zurückzuführende soziale Vermeidungsverhalten und die darauf beruhenden Stigmatisierungen die gleichberechtigte Teilnahme am Arbeitsleben beeinträchtigen.[10] Türkeistämmige Familien, denen die Miete erhöht wurde, ihren deutschen Nachbar*innen trotz vergleichbaren Wohnraums dagegen nicht, klagten erfolgreich vor dem Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg gegen die Vermieterin auf Entschädigung.[11] Eine junge Frau, der nur aufgrund ihres Kopftuchs ein Ausbildungsplatz als Zahnarzthelferin verwehrt wurde, erlangte vor dem Arbeitsgericht Berlin ebenfalls Recht. Der Richter stellte klar, dass eine Zahnarztpraxis weder eine Einrichtung einer Religionsgemeinschaft noch eine Schule ist.[12] Nach Bekanntwerden des Urteils rief ein anderer Zahnarzt die Klägerin an und bot ihr einen Job in seiner Praxis an – mit Kopftuch.[13]Viele Kläger*innen werden von staatlichen und nichtstaatlichen Antidiskriminierungsstellen unterstützt, die nach Inkrafttreten des AGG gegründet wurden. Sie bringen die Perspektive von betroffenen Menschen, die versuchen, mit dem Recht zu ihrem Recht zu kommen, auch in rechtspolitische und öffentliche Debatten über Diskriminierung in Deutschland ein. Das AGG ist damit auch Teil eines neuen Diskurses über Alltagsdiskriminierung, Antidiskriminierungskultur, Menschenrechte und Teilhabegerechtigkeit.
Auch der Einfluss des AGG auf die rechts- und sozialwissenschaftliche Forschung in Deutschland ist nicht zu unterschätzen. Zahlreiche von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) und verschiedenen Stiftungen in Auftrag gegebene Studien und Umfragen haben das Ausmaß von Diskriminierung in Deutschland zum Beispiel auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt oder im Bildungsbereich aufgezeigt und rechtliche Schutzlücken sowie politischen Handlungsbedarf ausgewiesen.[14] Rechtswissenschaftler*innen haben hergeleitet, dass Diskriminierungsschutz kein Gegner der Privatautonomie, sondern ihr wichtiger Verbündeter und nachdrücklicher Helfer ist.[15] Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit bilden im internationalen Menschenrechtssystem keine Gegensätze, sondern eine Trias.[16] Eine unterschiedliche Behandlung aufgrund individuell nicht beeinflussbarer stigmatisierender Kollektivzuweisungen widerspricht dem Ideal von Freiheit und Selbstbestimmung.
Der internationale akademische Diskurs wurde ebenfalls durch Antidiskriminierungsrecht angeregt. Die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw analysierte Antidiskriminierungsrecht aus einer rassismuskritischen und einer Gender-Perspektive und nutzte den Begriff "Intersektionalität" für sich spezifisch überschneidende Diskriminierungserfahrungen von Schwarzen Frauen.[17] Die Sozial- und Rechtswissenschaften übertrugen den Intersektionalitätsansatz auf den deutschen Kontext.[18] Untersucht wurden zum Beispiel diskriminierende Diskurse über junge Männer, denen wie Kian und Hamado aufgrund rassistischer und vergeschlechtlichter Zuschreibungen der Zugang zu Freizeiteinrichtungen verwehrt wird,[19] oder das Zusammenspiel von race, gender, migrant status und mental health im Zusammenhang mit Polizeigewalt.[20]
Trotz der vielfältigen Erfolge beklagen Wissenschaftler*innen, Anwält*innen und Antidiskriminierungsorganisationen, dass das AGG immer noch zu wenig bekannt, zu wenig anerkannt und zu wenig wirksam sei. Wirksamkeitsdefizite resultieren zum einen aus Schutzlücken, zum anderen aber auch aus Problemen bei der Rechtsanwendung im gerichtlichen Verfahren.