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Boko Haram: Lokaler oder transnationaler Terrorismus? | Terrorismus | bpb.de

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Boko Haram: Lokaler oder transnationaler Terrorismus?

Jan Sändig

/ 17 Minuten zu lesen

Die nigerianische Terrorgruppe Boko Haram ist aus lokalen politischen Ursachen und Dynamiken entstanden und nicht, wie weithin angenommen, aus religiösen Gründen und transnationalen Terrornetzwerken wie Al-Qaida und dem "IS".

Der islamistische Terrorismus geht um die Welt. Die Terroristen von Al-Qaida haben seit den frühen 1990er Jahren ein globales Terrornetzwerk aufgebaut. Aus diesem stieg ab 2013 der selbsterklärte "Islamische Staat" auf. In kurzer Zeit hat der "Islamische Staat" nicht nur einen Kernstaat im Irak und in Syrien aufgebaut, sondern auch Provinzen in vielen Ländern eingerichtet: Afghanistan, Algerien, Ägypten, der Jemen, Libyen, Nigeria, Pakistan, Saudi-Arabien und die Region des Kaukasus gehören zum deklarierten Einflussgebiet des "Islamisches Staats". Darüber hinaus hat er in Paris und Brüssel 2015 und 2016 schwere Terroranschläge im "Herzen Europas" verübt.

In Westafrika sticht vor allem die nigerianische Terrorgruppe Boko Haram hervor. Diese ist gegenwärtig die mit Abstand gefährlichste Gewaltbewegung in der Region: Seit Beginn der Rebellion 2009 starben mehr als 15000 Menschen durch Angriffe von Boko Haram, 2,8 Millionen wurden vertrieben. Boko Haram scheint sich dabei auf den ersten Blick in einem gemeinsamen Kampf mit den transnationalen Terrornetzwerken von Al-Qaida und dem "Islamischen Staat" zu befinden und ebenfalls gegen den Westen zu kämpfen: Schon die Bezeichnung "Boko Haram" – übersetzt etwa "Westliche Bildung ist religiös verboten" – suggeriert, dass die nigerianische Terrorgruppe dem Westen den Krieg erklärt hat. Ihre Anführer betonten zudem wiederholt, Al-Qaida Gefolgschaft zu leisten. Mehrfach wurden auch Angriffe nach den Kampfstrategien von Al-Qaida ausgeführt: Boko Haram verübte als erste Terrorgruppe Nigerias Selbstmordattentate, griff 2011 das UN-Büro in Abuja an und entführte Bürger westlicher Staaten. Zum "Islamischen Staat" scheinen sogar noch engere Verbindungen entstanden zu sein: Im März 2015 nahm dessen Führer Abu Bakr al-Baghdadi den Treueschwur Boko Harams an und machte die Gruppe damit offiziell zur Provinz des "Islamischen Staates". Seitdem ist Boko Haram in einigen ihrer Propagandavideos als "Islamischer Staat in Westafrika" aufgetreten. Dass sich diese Videos zugleich inhaltlich der Organisation angenähert haben, legt nahe, dass Boko Haram handfeste Unterstützung vom "Islamischen Staat" erhalten hat. Ohnehin scheinen die beiden ähnliche Ziele zu verfolgen, nämlich dem Islam durch einen "Heiligen Krieg" (Dschihad) gegen die "Ungläubigen" Geltung verschaffen zu wollen.

Doch welche Rolle spielen solche transnationalen Terrornetzwerke wirklich für Boko Haram? Ist die Gruppe Ausdruck des globalen Herrschaftsanspruchs radikaler Islamisten oder gar des Islam? Oder handelt es sich vielmehr um eine lokale Terrororganisation, deren Entstehung auf politische statt religiöse Ursachen zurückzuführen ist? Was sind angemessene Lösungsstrategien, um ihre Gewalt zu beenden? Diesen Fragen werde ich im Folgenden nachgehen.

Politische, wirtschaftliche und soziale Missstände

Boko Haram entstand aus Nigerias Entwicklungsmisere. Etwa 2002 wurde die Gruppe vom lokalen Imam Mohammed Yusuf in Maiduguri (Hauptstadt des Bundesstaats Borno im Nordosten Nigerias) gegründet. Yusuf hatte sich zuvor mit der Führung der islamistischen Bewegung "Ahlus Sunna" zerstritten, der er eine zu moderate Haltung im Streben nach der Transformation Nigerias in einen islamischen Staat vorwarf. Yusuf forderte den radikalen Bruch mit der korrupten, "gottlosen" und repressiven Politik in Nigeria, indem er Muslime aufrief, zunächst in Enklaven zu emigrieren, dort die Lehren des reinen salafistischen Islam zu lernen und später einen gewaltsamen Dschihad zu führen. Angesichts der katastrophalen Lebensumstände seiner Zuhörerschaft fand der charismatische Prediger Yusuf viel Resonanz.

Den Nährboden für die Gewaltbewegung stellt die große Verbitterung der nigerianischen Bevölkerung über die Lebensbedingungen und die sozialen Ungerechtigkeiten dar. Das Kerngebiet von Boko Haram im Nordosten ist die landesweit am stärksten benachteiligte Region: Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung leben in extremer Armut; im Bundesstaat Borno liegt die Einschulungsrate bei lediglich 23 Prozent und die Alphabetisierungsrate bei 12 Prozent der Frauen und 38 Prozent der Männer. Nordnigeria ist zudem durch den Fortbestand der Koranschulen benachteiligt. Diese verstetigen die wirtschaftliche Chancenlosigkeit, da sie Millionen von Kindern und Jugendlichen kaum die nötigen Fertigkeiten für ein berufliches Auskommen vermitteln. Die Grundursache für die gescheiterte wirtschaftliche und soziale Entwicklung liegt aber darin, dass Nigerias Regierende sich seit Jahrzehnten an den umfangreichen Staatseinnahmen aus den Ölexporten persönlich bereichern. Seit den späten 1960er Jahren hat der Staat zwar Hunderte Milliarden US-Dollar eingenommen, doch gingen und gehen fast die gesamten Erlöse durch Korruption verloren und kommen nach wie vor nicht der Entwicklung des Lands und der Bevölkerung zugute.

Unter Muslimen in Nigeria besteht weitgehend Konsens, dass diese Missstände nur beseitigt werden können, wenn der Staat nach Maßgabe des islamischen Rechts (Scharia) reformiert wird. Die Scharia ist also in den Augen der muslimischen Öffentlichkeit ein Instrument, um die korrupte Elite des Lands zu bändigen und soziale Gerechtigkeit zu erreichen. Das historische Beispiel des Kalifats von Sokoto, das in Nordnigeria etwa 100 Jahre lang bestand (1804–1903), nährt diese Vorstellung. Es gilt in der Region bis heute als Maßstab für eine gerechte politische Ordnung. Daher hatten viele Muslime in den frühen 2000er Jahren hohe Erwartungen, als die zwölf Bundesstaaten des Nordens überraschend die Scharia ins Strafrecht einführten. Doch den Regierenden ging es nicht darum, das islamische Recht tatsächlich durchzusetzen, denn dies hätte ihre eigenen Privilegien und korrupten Praktiken beendet. Sie verwendeten die Scharia stattdessen als Drohgebärde in einem innenpolitischen Machtkampf mit dem christlichen Süden. So war die Scharia als Gesetzesgrundlage nun zwar formell eingeführt, kam aber nicht zur Anwendung, was die Frustration der Bevölkerung weiter verstärkte.

In diesem Kontext trat nun Boko Haram mit der Forderung in Erscheinung, die Scharia durchzusetzen. Dafür propagiert die Gruppe die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfs in Form eines "Heiligen Kriegs", in dem sie gegen die "Ungläubigen" vorgeht und die Islamisierung Nigerias anstrebt. Der Gewaltaufruf unterscheidet Boko Haram von den politischen Ansichten der Mehrheit der muslimischen Organisationen und der Muslime in Nigeria. Führende muslimische Geistliche haben die Gewalt daher immer wieder öffentlich kritisiert und für unvereinbar mit ihrem Islam-Verständnis erklärt. Dass sich Boko Haram mit ihren Gewaltaufrufen auf den Islam bezieht, bedeutet nicht, dass ihr Kampf notwendigerweise religiöse Ursachen hat oder rein religiösen Motiven folgt. Es handelt sich in erster Linie um einen politischen Kampf gegen wahrgenommene Ausbeutung und Unterdrückung, insbesondere durch die korrupte muslimische Elite. Diese hat aus Sicht von Boko Haram ihren Glauben verloren und die Gerechtigkeitsideale des Islam verraten. Daher ist es aus Sicht der Gruppe nötig, diese "Ungläubigen" gewaltsam zur Einhaltung der religiösen Vorgaben zu bringen. Boko Haram führt den "Heiligen Krieg" demnach auch nicht primär gegen Christen, sondern agiert als Reformbewegung unter Muslimen.

Kontraproduktive Aufstandsbekämpfung

Neben diesen Rahmenbedingungen ist die Gewalt aber auch das Ergebnis politischer Eskalationsdynamiken. Nigerias Sicherheitskräfte haben erheblich zur Eskalation beigetragen. Der Fall kann als typisch für das Phänomen des backlash gesehen werden, bei dem sich der Versuch des Staats, eine Oppositionsgruppe gewaltsam zu zerschlagen, als kontraproduktiv erweist und die Opposition sogar noch stärkt. Boko Haram ging in den Anfangsjahren bis Mitte 2009 noch weitgehend gewaltfrei vor. Zur Eskalation kam es erst infolge einer zunächst vergleichsweise harmlosen Auseinandersetzung zwischen der Gruppe und den Sicherheitskräften. Als Reaktion auf die empfundene Bedrohung griffen Yusufs Anhänger Ende Juli 2009 Polizeistationen an. Die Sicherheitskräfte konnten die Angriffe rasch abwehren und gingen danach höchst brutal gegen die Gruppe vor. Insgesamt starben in wenigen Tagen mehr als 800 Menschen; der Anführer Yusuf sowie weitere Anhänger wurden nach ihrer Verhaftung von Sicherheitskräften getötet. Das gewaltsame Vorgehen bestärkte die Entschlossenheit von Boko Haram zur Rebellion. Gleichzeitig ging die Führung durch die Tötung Yusufs an Abubakar Shekau über, der im Vergleich zu Yusuf schon vorher als besonders gewaltbereit aufgefallen war. Unter Shekau reorganisierte sich Boko Haram und trat Ende 2010 mit einer Reihe von Angriffen wieder auf die Bildfläche.

Die seit 2010 andauernde Rebellion wurde angefacht durch eine Spirale der Gewalt und Gegengewalt. Während Boko Haram zunehmend komplexe Angriffe verübte, gelang es den Sicherheitskräften kaum, die Mitglieder der Terrorgruppe von Zivilisten zu unterscheiden. Als Folge verhafteten oder töteten sie willkürlich Zivilisten unter dem Verdacht der Unterstützung für die Terrorgruppe. Dies verstärkte die in Nigeria ohnehin ausgeprägten Vorbehalte gegenüber den Streitkräften, was es Boko Haram wiederum erleichterte, neue Unterstützer zu gewinnen. Die Regierung reagierte darauf im Mai 2013 durch den Einsatz noch stärkerer militärischer Mittel und der Formierung ziviler Milizen. Dadurch gelang es, Boko Haram aus den Städten im Nordosten zu vertreiben. Jedoch verschlimmerte dies die Rebellion nur: Die Gruppe reorganisierte sich im ländlichen Raum und rächte sich mit zahlreichen Angriffen auf Dörfer.

Allein 2014 – dem (bisher) schlimmsten Jahr der Rebellion – wurden 3800 Zivilisten von Boko Haram getötet. Parallel dazu wendeten auch die Sicherheitskräfte immer häufiger und brutaler Gewalt gegen die Zivilbevölkerung an. Laut Amnesty International wurden etwa 20000 Menschen willkürlich verhaftet. Die Haftbedingungen sind katastrophal: Viele Häftlinge werden gefoltert und mehr als 7000 sind an den Haftbedingungen bereits gestorben. Zudem verübten die Sicherheitskräfte und zivilen Milizen wiederholt Massaker an Zivilisten. So wurden 640 Menschen, die Boko Haram zuvor aus einem berüchtigten Militärgefängnis in Maiduguri befreit hatte, innerhalb eines Tages im März 2014 getötet. Diese Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte schufen bei vielen Menschen im Nordosten starke Verbitterung gegenüber der nigerianischen Regierung, was Boko Haram mit der Forderung nach einem radikalen Systemwechsel Zulauf verschafft hat.

Patronage-Netzwerke

Um den bewaffneten Kampf zu führen, benötigt Boko Haram aber auch finanzielle Ressourcen und Waffen. Diese stammen höchstwahrscheinlich zu einem gewichtigen Anteil aus Patronage-Netzwerken. Boko Haram unterscheidet sich in dieser Hinsicht wenig von anderen politischen Organisationen in Nigeria. Dabei schreckt Nigerias politische Elite im Rahmen ihrer Verteilungskämpfe nicht davor zurück, auch Gewalt einzusetzen, um ihre Position in den informellen Verhandlungen zu verbessern und Kontrahenten zu bedrohen.

Schon in der Anfangszeit unterhielt die von Yusuf geführte Gruppe Verbindungen zu Regierenden in Borno, wodurch sie finanzielle Unterstützung erhalten haben dürfte. Wenngleich handfeste Beweise noch fehlen, sprechen zahlreiche Indizien dafür, dass Boko Haram auch seit Beginn der Rebellion in solche Machtspiele eingebunden ist. Auffällig ist beispielsweise, dass Boko Haram Ende 2010/Anfang 2011 gezielt Politiker bestimmter Parteien getötet hat. Des Weiteren verübte die Gruppe um die Präsidentschaftswahlen 2011 zahlreiche Angriffe auf Kirchen. Dies deutet darauf hin, dass hochrangige muslimische Politiker aus dem Norden den damals wiedergewählten christlichen Präsidenten Goodluck Jonathan erpresst haben könnten, um ihre Privilegien zu sichern. Jonathan selbst sagte Anfang 2012 öffentlich, dass Boko Haram politische Unterstützer in der Regierung, dem Militär und dem Staatsapparat habe. Zudem fällt auf, dass muslimische Politiker aus dem Norden von Boko Haram oft verschont blieben und dass die Terroristen konstant über umfangreiche Kampfmittel verfügen, deren Herkunft im bettelarmen Nordosten des Lands schwer zu erklären wäre, wenn nicht durch Patronage-Netzwerke. Schließlich eskalierte Boko Harams Gewalt parallel zu heftigen Machtkämpfen innerhalb der politischen Elite im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2015 und nahm nach der Wahl überraschend schnell ab. All dies spricht dafür, dass Boko Haram teilweise in Kooperation mit einflussreichen Eliten handelt.

Auch Teile der Militärführung spielen womöglich eine zwielichtige Rolle. Dem nigerianischen Militär wurden für die Bekämpfung der Terrorgruppe etliche zusätzliche Milliarden US-Dollar zur Verfügung gestellt. Bei den für Korruption berüchtigten Streitkräften scheint ein erheblicher Anteil der bereitgestellten Finanz- und Kampfmittel verschwunden und nicht zu den Soldaten an der Front gelangt zu sein. So standen in den vergangenen Jahren oft frustrierte Soldaten mit inadäquatem Militärgerät den vergleichsweise gut bewaffneten und motivierten Boko-Haram-Kämpfern gegenüber. In diesen Situationen flohen Soldaten auch häufig und ließen ihre Ausrüstung zurück. Die Vermutung liegt nahe, dass manche in der Militärführung versuchen, die Rebellion nicht entscheidend zu bekämpfen, um sich weiter am Militäretat bereichern zu können. Somit haben Nigerias Patronage-Netzwerke der Terrorgruppe nicht nur direkt Unterstützung eingebracht, sondern wahrscheinlich auch indirekt Handlungsspielräume für die Rebellion verschafft. Dies zeigt abermals, wie zentral politische Prozesse für die Entstehung und Fortdauer der Gewaltkampagne von Boko Haram sind.

Lokaler Terrorismus und transnationale Verbindungen

Die bisher benannten politischen Faktoren, die Entstehung und Eskalation erklären, befinden sich allesamt auf der innerstaatlichen Ebene. Boko Haram ist somit aus lokalen Ursachen und Dynamiken entstanden und wurde nicht als Ableger einer transnationalen Terrorbewegung gebildet. Dennoch knüpfte Boko Haram Verbindungen zu islamistischen Gruppen im Ausland, um Ressourcen und moralische Unterstützung für den Kampf zu gewinnen.

Zum einen bestehen ideelle Verbindungen: Schon in der weitgehend gewaltfreien Anfangszeit stellten Al-Qaida, Osama Bin Laden und die afghanischen Taliban Vorbilder für Boko Haram dar. Eine Fraktion von Yusufs Gruppe, die um 2003 einen kurzen und erfolglosen bewaffneten Aufstand führte, war maßgeblich an den Taliban orientiert. Darüber hinaus wurde aber auch materielle Unterstützung von außen eingespeist: Bin Laden selbst und salafistische Organisationen (unter anderem aus Saudi-Arabien) haben Finanzmittel für die Bildung radikaler und gewaltbereiter Gruppen in Nordnigeria bereitgestellt. Ein Teil des Gelds soll direkt an Yusuf geflossen sein. Verbindungen, die zu Organisationen aus dem Al-Qaida-Netzwerk hergestellt wurden, ermöglichten es einigen Boko-Haram-Mitgliedern, nach dem niedergeschlagenen Aufstand vom Juli 2009 Zuflucht in Algerien und Somalia zu finden und dort eine Kampfausbildung zu erhalten. Auch Rebellenführer Shekau floh Anfang 2013 vorübergehend zu befreundeten Terrorgruppen nach Nord-Mali. Der 2013 erstarkende "Islamische Staat" gewann ebenfalls an Bedeutung: Zur ideellen Annäherung übernahm Boko Haram zunächst seine Flagge, rief im August 2014 – wie kurz zuvor der "Islamische Staat" im Irak und in Syrien – ein Kalifat in seinem Herrschaftsgebiet aus und schwor schließlich dessen Führung Treue.

Diese transnationalen Verbindungen bleiben aber von begrenztem Umfang und damit niedriger Relevanz, um die Rebellion von Boko Haram zu erklären. Die aus transnationalen Terrornetzwerken bereitgestellten Finanzmittel dürften weitaus kleiner sein als die Unterstützung aus Nigerias Patronage-Netzwerken. Auch hat Boko Haram nur wenige Kampftaktiken von Al-Qaida übernommen, darunter die Strategie der Selbstmordangriffe und Entführungen. Der zentralen Vorgehensweise Al-Qaidas, den Westen als den "fernen Feind" zu bekämpfen, folgte Boko Haram jedoch nicht. Nur ein Bruchteil der Angriffe Boko Harams richtete sich gegen den Westen, keiner dieser Anschläge wurde außerhalb Nigerias verübt. Hinter diesen Angriffen auf westliche Ziele steht fast ausschließlich die Splittergruppe "Ansaru", die versucht hat, Boko Haram näher an Al-Qaida anzubinden. Dies blieb erfolglos, da Boko Haram stark in Nordnigeria verwurzelt ist, was schon ihr eigentlicher Name andeutet: Während die verbreitete Bezeichnung "Boko Haram" eine polemische Fremdbezeichnung durch andere islamistische Organisationen aus Nordnigeria ist, nennt sich die Gruppe tatsächlich "Jama’atu Ahlus Sunna Lidda’awati wal-Jihad" (Gemeinschaft der Sunniten für den Ruf zum Islam und den Dschihad). Mit diesem Namen betont sie ihren Ursprung aus der Bewegung "Ahlus Sunna", einer Abspaltung der breiteren Izala-Bewegung in Nordnigeria, und damit den lokalen islamistischen Kontext.

Boko Haram konzentriert sich zwar besonders stark auf den lokalen Kampf, unterscheidet sich diesbezüglich aber nicht grundlegend von anderen dschihadistischen Gruppen in Westafrika. Selbst Terrorgruppen, die offiziell dem Al-Qaida-Netzwerk zugehören, führen in erster Linie einen lokalen bewaffneten Kampf: "Al-Qaida im Islamischen Maghreb" (AQIM) in Algerien und die Al-Shabaab in Somalia verüben beide nur einen kleinen Anteil ihrer Anschläge gegen westliche Ziele und agieren fast ausschließlich innerhalb ihres lokalen Kampfgebiets. Keine dieser Gruppen wurde von außen durch Al-Qaida oder den "Islamischen Staat" gegründet; stattdessen haben sie alle eine lokale Verwurzelung und Konfliktgeschichte. In der Regel haben sie transnationale Verbindungen nur aufgebaut, um auf diese Weise Unterstützung für den lokalen Kampf zu gewinnen und mächtiger zu erscheinen. Diese verschiedenen Terrorgruppen sind zudem stark gespalten, teilweise selbst innerhalb ihrer Länder. Auch Al-Qaida und den "Islamischen Staat" trennen ideologische Unterschiede und ein Machtkampf. Von einer geeinten, globalen islamistischen Bewegung kann daher kaum ausgegangen werden. Dementsprechend sind vor allem lokale Lösungsansätze erforderlich, die von der internationalen Staatengemeinschaft unterstützt werden können.

Lokale Lösungsansätze und internationale Unterstützung

Die bisher von der nigerianischen Regierung gewählte Strategie, um die Gewalt von Boko Haram zu beenden, umfasst fast ausschließlich militärische Mittel. Diese richten sich häufig gegen die muslimische Zivilbevölkerung, was Boko Haram letztlich stärkt. Die internationale Staatengemeinschaft sollte Nigeria drängen, menschenrechtliche Standards einzuhalten; willkürliche Verhaftungen, Folter und außergerichtliche Tötungen durch die Sicherheitskräfte müssen umgehend unterbunden werden, um die Bevölkerung nicht weiter vom Militär zu distanzieren und in die Arme von Boko Haram zu treiben.

"Harte" Vorgehensweisen der Terrorismusbekämpfung durch Militäreinsätze sollten grundsätzlich auch mit "weichen" Maßnahmen verbunden sein. Bisherige Verhandlungsversuche zwischen der Regierung und Boko Haram sind kläglich gescheitert. Man kann Zugeständnisse und Amnestieangebote an Terrorgruppen aus moralischen Gründen durchaus strikt ablehnen, doch können diese Maßnahmen viele Menschenleben retten, wenn sie zur Beendigung der Gewalt beitragen. Die Geschichte der Terrorismusbekämpfung zeigt, dass dies möglich ist: Durch Verhandlungen mit Staaten vertiefen sich bei Terrorgruppen häufig bereits vorhandene innere Spaltungen zwischen Hardlinern einerseits und moderaten Kräften und weniger Entschlossenen andererseits. Wenn letzteren Amnestie angeboten wird, steigen sie oft aus dem Kampf aus. Dadurch wird die Terrorgruppe auf ihren besonders radikalen Kern reduziert, was es erleichtert, diesen im Anschluss gezielt militärisch zu besiegen. Eine solche kombinierte Strategie ist weitaus erfolgversprechender, um Boko Haram zu bezwingen, als die bisherige einseitige Fokussierung auf militärische Mittel.

Neben der kurzfristigen Bekämpfung ist aber auch eine langfristige Strategie nötig, um die Entstehung weiterer gewaltbereiter Gruppen wie Boko Haram zu verhindern. Dafür bedarf es tief greifender politischer Reformen durch Nigerias Regierende. Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen im Land müssen dringend verbessert werden, um den Nährboden für Terrorismus zu beseitigen. Mit Blick auf Nordnigeria und vor allem den durch Boko Haram weiter zurückgeworfenen Nordosten braucht es besonders umfangreiche Entwicklungsbemühungen. Zudem müssen die Verantwortlichen der Sicherheitskräfte, die Boko-Haram-Anführer und die politischen Unterstützer der Bewegung für die Gewalttaten zur Rechenschaft gezogen werden. Bisher kommen sie fast alle mit Straffreiheit davon, vor allem, da sie Beschützer aus der politischen Elite haben. Es ist daher nicht weniger nötig, als Nigerias Patronage-Politik zu überwinden und eine Demokratisierung einzuleiten, in der gute Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit etabliert werden. Wandlungsprozesse in diese Richtung kommen – trotz der vielen engagierten NGOs und der freien und kritischen Presse – bisher aber nur sehr langsam in Gang. Für die Regierenden besteht weiterhin wenig Anreiz, einen grundlegenden Wandel voranzubringen, da sie von den Verteilungsnetzwerken stark profitieren.

Europa und andere westliche Länder sollten diese Transformationsprozesse in Nigeria daher umfangreich unterstützen, um Reformen zu beschleunigen. Da mehr als zwei Drittel der Erdölexporte Nigerias nach Nordamerika und Europa gehen, steht dafür ein machtvoller Hebel zur Verfügung. Dieser sollte in den diplomatischen Beziehungen mit Nigeria stärker eingesetzt werden, um eine am Gemeinwohl orientierte Politik, die Etablierung rechtsstaatlicher Verfahren und insbesondere die Wahrung der Menschenrechte im Kampf gegen Boko Haram einzufordern. Des Weiteren sollten mittels Entwicklungszusammenarbeit und dem Engagement religiöser Akteure Entwicklungsanstrengungen im Land gefördert werden. Von besonderer Wichtigkeit sind dabei Projekte, die Grundbedürfnisse wie Gesundheit und Bildung befriedigen, traumatisierten Menschen helfen und Versöhnungsprozesse fördern. Neben den Regierenden im Westen können sich aber auch interessierte Bürger zur Verbesserung der Lage in Nigeria und der Überwindung der Gewaltursachen einsetzen. NGOs, kirchliche Träger und Menschenrechtsorganisationen bieten dabei Möglichkeiten zur Beteiligung.

Fazit

Boko Haram ist nicht, wie es auf den ersten Blick erscheint, aus transnationalen Terrornetzwerken und religiösen Ursachen und Motiven entstanden, sondern primär aus lokalen politischen Missständen und Konflikten. Daher agiert die Gruppe fast ausschließlich in der lokalen Kampfarena und nicht als Teil transnationaler Terrornetzwerke gegen den Westen.

Während von Boko Haram nicht generell auf die Entstehungsursachen, Eskalationsdynamiken und Kampfstrategien von islamistischen Terrorgruppen geschlossen werden kann, gibt es trotzdem einige Indizien dafür, dass der Fall stellvertretend für viele Gruppen steht. So wie Boko Haram sind die meisten islamistischen Terrorgruppen in Westafrika – darunter Gruppen aus Algerien, Mali und Somalia und darüber hinaus – in einem spezifischen, lokalen Konfliktkontext entstanden. Die meisten von ihnen kämpfen vor allem gegen die lokale Regierung und unterhalten zudem nur lose Verbindungen zu den transnationalen Terrornetzwerken von Al-Qaida und dem "Islamischen Staat", die auch nur in begrenztem Umfang Ressourcen und moralische Unterstützung an ihre lokalen Partner transferieren. Zwischen diesen Gruppen bestehen generell starke Spaltungen, weshalb nicht von einem geeinten Block aus dschihadistischen Terrorgruppen ausgegangen werden sollte. Auch das Territorium, das diese Gruppen kontrollieren, sollte nicht überschätzt werden. Selbst die sehr aktive Boko Haram kontrollierte auf dem (bisherigen) Höhepunkt ihrer Rebellion nur etwa zwei bis drei Prozent der Landesfläche Nigerias.

Was es den islamistischen Bewegungen generell erschwert, Territorium zu erobern und ihre Aufstände auszudehnen, ist indes die Tatsache, dass die große Mehrheit der Muslime in der Welt den gewaltsamen Kampf ablehnt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Marc Sageman, Understanding Terror Networks, Philadelphia 2004, S. 440–451.

  2. Vgl. Daniel Byman, ISIS Goes Global. Fight the Islamic State by Targeting Its Affiliates, in: Foreign Affairs, 96 (2016) 3, S. 76–85, hier: S. 78.

  3. Vgl. Lauren P. Blanchard, Nigeria’s Boko Haram. Frequently Asked Questions, Congressional Research Service R43558/2016, S. 1.

  4. Vgl. Boko Haram Ressurects. Declares Total Jihad, in: Vanguard vom 14.8.2009.

  5. Vgl. Islamic State "Accepts" Boko Haram’s Allegiance Pledge, 13.3.2015, Externer Link: http://www.bbc.com/news/world-africa-31862992 (2.5.2016)

  6. Vgl. Anonymous, The Popular Discourses of Salafi Radicalism and Salafi Counter-Radicalism in Nigeria. A Case Study of Boko Haram, in: Journal of Religion in Africa, 42 (2012) 2, S. 118–144.

  7. Vgl. National Population Commission, Nigeria Demographic and Health Survey 2008, Abuja–Calverton 2009, S. 26, S. 319f., S. 337f.

  8. Vgl. Jonathan Hill, Nigeria Since Independence. Forever Fragile?, Basingstoke–New York 2012, S. 87f.

  9. Vgl. Johannes Harnischfeger, Democratization and Islamic Law. The Sharia Conflict in Nigeria, Frankfurt/M.–New York 2008, S. 40.

  10. Vgl. ebd., S. 33.

  11. Vgl. ders., Rivalität unter Eliten. Der Boko-Haram-Aufstand in Nigeria, in: Leviathan, 40 (2012) 4, S. 491–516, hier: S. 509; Pew Research Center, Muslim Publics Share Concerns about Extremist Groups. Much Diminished Support for Suicide Bombing, Washington D.C. 2013, S. 9.

  12. Zur Theorie von Repression vgl. Audrey K. Cronin, How Terrorism Ends. Understanding the Decline and Demise of Terrorist Campaigns, Princeton–Oxford 2009, S. 141–144.

  13. Vgl. Human Rights Watch, Spiraling Violence. Boko Haram Attacks and Security Force Abuses in Nigeria, New York 2012, S. 32.

  14. Vgl. Amnesty International, Nigeria. Trapped in the Cycle of Violence, AFR 44/043/2012.

  15. Vgl. UCDP/PRIO, UCDP One-sided Violence Dataset, 1.4.2015, Externer Link: http://www.pcr.uu.se/research/ucdp/datasets/ucdp_one-sided_violence_dataset (2.5.2016).

  16. Vgl. Amnesty International, Stars on their Shoulders, Blood on their Hands. War Crimes Committed by the Nigerian Military, AFR 44/1360/2015, S. 4.

  17. Vgl. ebd., S. 42–45.

  18. Vgl. Augustine Ikelegbe, The Perverse Manifestation of Civil Society. Evidence from Nigeria, in: The Journal of Modern African Studies, 39 (2001) 1, S. 1–24.

  19. Vgl. Andreas Hasenclever/Jan Sändig, Nigeria. Gewaltursache Religion?, in: Ines-Jacqueline Werkner et al. (Hrsg.), Friedensgutachten 2014, Berlin 2014, S. 180–195.

  20. Vgl. International Crisis Group, Curbing Violence in Nigeria (II). The Boko Haram Insurgency, Africa Report 216/2014, S. 11f.

  21. Für die im Folgenden benannten Indizien und Vermutungen vgl. J. Harnischfeger (Anm. 11).

  22. Vgl. BBC, Nigeria’s Goodluck Jonathan. Officials Back Boko Haram, 8.1.2012, Externer Link: http://www.bbc.com/news/world-africa-16462891 (2.5.2016).

  23. Vgl. Council on Foreign Relations, Nigeria Security Tracker, o.D., Externer Link: http://www.cfr.org/nigeria/nigeria-security-tracker/p29483 (11.5.2016).

  24. Vgl. International Crisis Group (Anm. 20), S. 30–32.

  25. Vgl. ebd., S. 23f.

  26. Vgl. M. Sageman (Anm. 1), S. 44.

  27. Vgl. National Consortium for the Study of Terrorism and Responses to Terrorism (START), Global Terrorism Database. Entire GTD Dataset, o.D., Externer Link: http://www.start.umd.edu/gtd (11.5.2016).

  28. Vgl. Anonymous (Anm. 6).

  29. Vgl. Andrea Brigaglia, Ja’far Mahmoud Adam, Mohammed Yusuf and Al-Muntada Islamic Trust. Reflections on the Genesis of the Boko Haram Phenomenon in Nigeria, in: Annual Review of Islam in Africa, 11 (2012), S. 35–44.

  30. Vgl. Caitriona Dowd/Clionadh Raleigh, The Myth of Global Islamic Terrorism and Local Conflict in Mali and the Sahel, in: African Affairs, 112 (2013) 448, S. 498–509, hier: S. 504.

  31. Vgl. ebd.

  32. Vgl. Donald Holbrook, Al-Qaeda and the Rise of ISIS, in: Survival, 57 (2015) 2, S. 93–104.

  33. Vgl. Andreas Hasenclever/Jan Sändig, Religion und Radikalisierung? Zu den säkularen Mechanismen der Rekrutierung transnationaler Terroristen im Westen, in: Der Bürger im Staat, 4 (2011), S. 204–213.

  34. Siehe dazu auch den Beitrag von Anna Mühlhausen in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  35. Vgl. A.K. Cronin (Anm. 12), S. 71f.

  36. Vgl. International Crisis Group (Anm. 20), S. 42f.

  37. Vgl. Organization of Petroleum Exporting Countries, Statistics Unit, Annual Statistical Bulletin, Wien 2015, S. 49.

  38. Vgl. C. Dowd/C. Raleigh (Anm. 30).

  39. Vgl. Pew Research Center (Anm. 11).

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Dipl.-Pol., geb. 1983; wissenschaftlicher Angestellter zu Gewaltkonflikten und friedlichem Protest am SFB 923 "Bedrohte Ordnungen", Universität Tübingen, Keplerstraße 2, 72074 Tübingen. E-Mail Link: jan.saendig@uni-tuebingen.de