Das globale Flüchtlingsregime im Nahen und Mittleren Osten in den 1970er und 1980er Jahren
Normen und Diskurse
Ein Blick auf die internationalen Debatten um Flüchtlingspolitik in den 1980er Jahren und die darin erkennbaren Normen, Prinzipien und Argumentationslogiken führt zu einem hochinteressanten, zweifachen Befund:Erstens diskutierte die internationale Gemeinschaft im Rahmen der UN-Generalversammlung wie auch der Gremien des Hohen Flüchtlingskommissars (UNHCR) eine Initiative der Bundesregierung zur "Internationalen Zusammenarbeit zur Vermeidung neuer Flüchtlingsströme". Der vom Auswärtigen Amt Ende 1980 eingebrachte Resolutionsentwurf zielte darauf ab, von der bisherigen Politik einer humanitären "Flüchtlingsbehandlung zu einer Politik der Flüchtlingsverhinderung überzugehen. (…) Das Flüchtlingsproblem muss daher an seiner Wurzel gepackt werden."[14] Mit anderen Worten: Zur Debatte stand die präventive Bekämpfung der Fluchtursachen im "Jahrhundert der Flüchtlinge".[15] In den anschließenden, jahrelangen Diskussionen fokussierten alle Beteiligten, gleichgültig, ob sie dem westlichen, östlichen oder blockfreien Lager angehörten, auf die Verknüpfung von Flüchtlings- und Entwicklungspolitik und folgten den strukturellen Argumentationslinien des Nord-Süd-Konflikts. Der Diskurs um die Auseinandersetzungen zwischen den ökonomisch starken Industrieländern und den Entwicklungsländern, die – etwa im Rahmen der Bewegung der Blockfreien Staaten[16] – zunehmend an weltpolitischem Gewicht gewannen, hatte bereits seit Mitte der 1970er Jahre begonnen, die bipolare Struktur des Kalten Kriegs schrittweise zu überlagern.[17] Und so wurde die Flüchtlingsfrage unter bewusster Ausklammerung humanitärer und menschenrechtlicher Fragestellungen zum gemeinsamen Weltordnungsproblem erhoben, das für die Aufnahmeländer des Globalen Südens untragbare wirtschaftliche, soziale und politische Belastungen mit sich bringe. Die damit einhergehenden Destabilisierungstendenzen wiederum konterkarierten die entwicklungspolitischen Ziele der Industriestaaten. Die von der UN-Generalversammlung im Dezember 1986 verabschiedete Resolution[18] legte Grundregeln zwischenstaatlichen Handelns zur Vermeidung neuer Flüchtlingsströme fest, blieb in den Folgejahren allerdings weitestgehend ohne Wirkung.
Zweitens wurde parallel dazu in den Gremien der NATO, der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) und der internationalen, sowjetischen und osteuropäischen Presseberichterstattung die afghanische Flüchtlingsfrage diskutiert. Die westlichen Verbündeten, aber auch die Mitgliedstaaten der OIC, die mit Ausnahme der Türkei alle der Bewegung der Blockfreien angehörten, teilten die gemeinsame Bedrohungswahrnehmung eines aggressiven sowjetischen Expansionsdrangs im Mittleren Osten. Diese Perzeption wurde mit dem medienwirksamen Bild der flüchtenden afghanischen Bevölkerung verknüpft und Moskau zum gemeinsamen Feind stilisiert. Die so konstruierte Interessenidentität erzeugte das Bild des passiven afghanischen Flüchtlings als Opfer des sozialistischen Weltmachtanspruchs.[19] Insofern war es konsequent, wenn daraus geschlussfolgert wurde, den Flüchtlingen unter antikommunistischen Vorzeichen Unterstützung zukommen zu lassen.
Diskutiert wurden in diesem Zusammenhang humanitäre Hilfsmaßnahmen für die pakistanischen Flüchtlingslager ebenso wie die politische und materielle Unterstützung der dort ansässigen Afghanen, die militärischen Widerstand gegen das Kabuler Regime und die sowjetischen Truppen leisteten. Die Argumente, mit denen für solche Maßnahmen geworben wurde, unterschieden sich allerdings und folgten dem jeweiligen politischen Wertekanon der Protagonisten. So goss die OIC ihre Appelle in die Formel der islamischen Solidarität und rief ihre Mitgliedstaaten im Namen des Islam zu humanitären Hilfsleistungen für die Flüchtlinge und zur finanziellen Unterstützung eines "Heiligen Kriegs" gegen den atheistischen Sozialismus auf.[20] Die NATO-Partner ihrerseits banden dieselben Forderungen an den Begriff der Freiheit als gemeinsam zu verteidigende Norm der westlichen Wertegemeinschaft. In den öffentlichen und internen Debatten machte daher der Begriff der afghanischen freedom fighters Karriere, die mit ihrem religiös motivierten Kampf gegen Moskau auch genuin westliche Werte verteidigten und deshalb unter den Vorzeichen des Kalten Kriegs humanitäre, politische und militärische Hilfe erhalten müssten.[21] Auf diese Weise entstand die aus heutiger Sicht paradox anmutende Konstruktion kongruenter oder zumindest komplementärer Interessen zwischen westlicher Freiheit und islamistischem Befreiungskampf.
Unversehens hatte sich damit das Bild des zivilen afghanischen Flüchtlings als Opfer militärischer Auseinandersetzungen zu einer Stilisierung desselben als zentralem Akteur eines globalen Machtkampfs gewandelt. Die aktive Rolle der nach Pakistan geflohenen Afghanen dominierte auch die sowjetische und osteuropäische Propaganda – nicht zuletzt, da Moskau selbst Konfliktpartei dieses Bürgerkriegs war. Humanitäre Hilfsmaßnahmen für die "angeblichen afghanischen Flüchtlinge", bei denen es sich in Wahrheit um von der CIA gesteuerten "konterrevolutionären Abschaum" handle, sah Moskau als Beleg für die westliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten Afghanistans an.[22] Die Legitimität und Notwendigkeit humanitärer Hilfsmaßnahmen wurden disqualifiziert und die Flucht per se als feindlicher Akt gegen das sozialistische Regime gebrandmarkt. Auch die Sowjetunion folgte damit den diskursiven Pfadabhängigkeiten des globalen Systemkonflikts.
Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die internationalen Debatten um eine strukturelle, präventive Bekämpfung der Fluchtursachen einerseits und diejenigen um den spezifischen Fall der afghanischen Flüchtlinge andererseits parallel von denselben Akteuren, jedoch getrennt geführt wurden und keinerlei diskursive Schnittmengen aufwiesen. Dies erscheint umso paradoxer, als der Nahe und Mittlere Osten bis heute zu den Regionen der Welt zählt, die die meisten Flüchtlinge hervorbringen.