Zwischen Gestaltungsmacht und Hegemoniefalle. Zur neuesten Debatte über eine "neue deutsche Außenpolitik"
Im Sommer 2016 wird die Bundesregierung nach über einem Jahr intensiver Beratung ein neues "Weißbuch" verabschieden.[1] Deutschland wird darin als "aktive Gestaltungsmacht" bezeichnet. Mehr noch, im wichtigsten außen- und sicherheitspolitischen Dokument der Exekutive wird die Bundesrepublik als ein Land beschrieben, das in Europa "als zentraler Akteur wahrgenommen" wird. Dem will die Bundesregierung mit der erklärten Bereitschaft entsprechen, "Verantwortung zu leben und Führung zu übernehmen".[2] Als vor zehn Jahren das letzte "Weißbuch" beschlossen wurde, sah die damalige Bundesregierung für Deutschland lediglich "eine wichtige Rolle für die Gestaltung Europas und darüber hinaus".[3]Die neuen Akzentsetzungen sind in doppelter Hinsicht bemerkenswert: Zum einen wird nunmehr auch regierungsamtlich ein europäischer Führungsanspruch für Deutschland formuliert, der noch vor wenigen Jahren als anmaßend empfunden worden wäre; zum anderen liegt dieser Führungsanspruch Schaltjahre von jenen Charakterisierungen deutscher Außenpolitik entfernt, die in den 1980er und 1990er Jahren den Deutschen "Machtvergessenheit", "Angst vor der Macht" oder einen "Führungsvermeidungsreflex" attestierten.[4]
In diesem Beitrag werde ich untersuchen, wie es zu der veränderten Beschreibung der außenpolitischen Rolle Deutschlands gekommen ist und was sie bedeutet. Vor dem Hintergrund zahlreicher früherer "neuer deutscher Außenpolitiken" werde ich versuchen, das Spezifische der gegenwärtigen Debatte im Kontext konkurrierender Beschreibungen einer drastisch veränderten Lage und daraus resultierender neuer Rollenbeschreibungen auf den Punkt zu bringen. Die Bundesrepublik, so die These, muss sich weniger zwischen den Rollen "Gestaltungsmacht" und "Hegemonialmacht" entscheiden, als sich bei der fast schon unausweichlichen Wanderung auf dem schmaler werdenden Grat von Macht und Verantwortung bewähren, da ansonsten der Sturz in die "Hegemoniefalle"droht.[5]
"Neue deutsche Außenpolitik"
Die Rede von einer "neuen deutschen Außenpolitik" kehrt berechenbar immer wieder – besonders dann, wenn es nötig scheint, Deutschlands Rolle in Europa und der Welt zu überdenken, wie etwa Mitte der 1950er Jahre (Stichwort: Wiederbewaffnung), zu Beginn der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt (Stichwort: Entspannungspolitik), nach der deutschen Vereinigung 1990 (Stichwort: Verantwortungspolitik) oder nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 und dem anschließenden US-Feldzug gegen Saddam Husseins Irak 2003 (Stichwort: "deutscher Weg").In dieses Muster fügten sich auch die bis ins Detail koordinierten Auftritte von Bundespräsident Joachim Gauck und Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014. In nahezu identischen Formulierungen proklamierten sie vor einem Fachpublikum und weltweiter medialer Aufmerksamkeit ein verändertes außenpolitisches Selbstverständnis Deutschlands: In "den Krisen ferner Weltregionen", so ihre Formulierung, müsse die Bundesrepublik sich fortan "bei der Prävention von Konflikten (…) als guter Partner früher, entschiedener und substanzieller einbringen."[6]
Diese jüngste Akzentuierung einer neuen deutschen Außenpolitik stieß innerhalb wie außerhalb Deutschlands nicht zuletzt deshalb auf ein beträchtliches Echo, weil sie durch den dreifachen Komparativ einen imaginären Maßstab zu setzen schien, dem die Außenpolitik vorheriger Bundesregierungen offenbar nicht ganz genügt hatte. Das demnächst erscheinende "Weißbuch" setzt hier insofern einen interessanten neuen Akzent, als die Steigerungsform durch die Grundform ersetzt wird: An zentraler Stelle soll es nunmehr heißen, Deutschland sei bereit, sich "früh, entschieden und substanziell als Impulsgeber in die internationale Debatte einzubringen, Verantwortung zu leben und Führung zu übernehmen".[7] Wer in dieser pointierten Relativierung einer ambitionierten früheren Stellungnahme eine gewisse Ernüchterung über die Möglichkeiten und Grenzen deutscher Außenpolitik zu erkennen glaubt, liegt vermutlich nicht falsch.
Es lässt sich trefflich darüber streiten, was an diesen Entwicklungsmarken jeweils "neu" oder "alt" war beziehungsweise ist.[8] Damit soll nicht insinuiert werden, dass diese Form des Streits müßig sei, denn gerade die (sich stetig wandelnden) Beschreibungsweisen von "Neuem" oder "Altem" liefern das Material für verdichtete zeitdiagnostische Momentaufnahmen, die als Kandidaten für "Erzählungen" oder "Narrative" grundlegende Orientierung liefern, weil sie sich im Diskurs durchsetzen.
Mit Blick auf das Umfeld deutscher Außenpolitik lässt sich diese These anhand einer Kontrastierung von zwei weltpolitischen Stimmungslagen illustrieren, die widersprüchlicher nicht sein könnten.[9] So entfaltete sich beispielsweise mit dem Ende des Kalten Krieges 1989/1990 angesichts der Kooperation zuvor rivalisierender Großmächte innerhalb kurzer Zeit weltweit eine geradezu euphorische Stimmung, die die damalige Rede von einer "neuen Weltordnung" und dem Anbruch eines neuen Zeitalters keineswegs so illusorisch anmuten ließ, wie sie im Rückblick erscheinen mag.[10] Gerade für die Außenpolitik des vereinigten Deutschlands eröffneten sich völlig neue Perspektiven, da es im Zentrum eines nunmehr verlässlich befriedeten Europas lag.[11] Trotz der kurz danach auf dem Balkan beginnenden Kriege rahmte diese kooperationsorientierte Grundstimmung die großen strategischen Prozesse der NATO- und EU-Erweiterungen bis weit in die 2000er Jahre.
Im Kontrast artikuliert sich die weltpolitische Lage der Gegenwart in einer pessimistischen Grundstimmung, die sich nicht selten zu düsteren Zukunftsszenarien verdichtet. Beispielhaft für eine Vielzahl vergleichbarer Zeitdiagnosen kann hier Außenminister Steinmeiers Äußerung angeführt werden, die Idee von einem "Ende der Geschichte", von einer linearen Fortentwicklung hin zur liberalen Demokratie, habe sich als Illusion entpuppt: "Der Krisenmodus scheint auf unabsehbare Zeit der neue Normalfall. Die Welt ist aus den Fugen geraten."[12] Krisennarrative dieser Art prägen heute die politische Stimmung zumindest in jener als "Westen" gefassten Projektion politischer Vergemeinschaftung, der nach dem Ende des Kalten Krieges die Zukunft zu gehören schien. Neu ist dabei die vielfach wahrgenommene wechselseitige Verschränkung multipler Krisen, die auf "unabsehbare Zeit" als "der neue Normalfall" gelten müssten.
In dem Maße, in dem vergleichbare Krisenbeschreibungen sich häufen, Resonanz erzeugen und auf Zustimmung stoßen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Deutungsmachtkampf der Gegenwart zu einflussreichen neuen Erzählungen gerinnen.[13] Dass angesichts dessen auch Beschreibungen deutscher Außenpolitik Breitenwirkung entfalten, die im Kontrast zu früheren Kontinuitätsbeschreibungen den Wandel betonen oder gar von einer "Zäsur" sprechen, ist wenig überraschend.
Im Folgenden soll vor diesem Hintergrund der Versuch unternommen werden, die "Debatte" über Deutschlands (neue und alte) Außenpolitik zu vermessen. Die Metaphorik der Vermessung verweist dabei auf die fluiden Grenzen eines diskursiven Raumes, in dem Deutungen deutscher Außenpolitik konkurrieren. Diese beziehen sich zum einen auf Beschreibungen, die Deutschland als außenpolitischen Akteur in einem bestimmten Handlungsumfeld platzieren, zum anderen auf die Rolle Deutschlands in diesem Umfeld – wobei mit "Rolle" jene Identität gemeint ist, die aus Selbst- und Fremdverständnis resultiert und angemessenes Verhalten definiert.[14] Rollen lassen sich durch die Untersuchung von Zuschreibungen einerseits und Beschreibungen und Bewertungen identitätsstiftender außenpolitischer Handlungsweisen andererseits genauer bestimmen.
Handlungsumfeld
Das Handlungsumfeld deutscher Außenpolitik ist primär problembezogen zu beschreiben. In praktisch allen Diagnosen dominiert derzeit das Narrativ multipler Krisen.Man muss der These des Journalisten Moisés Naím vom "Ende der Macht" nicht in Gänze folgen,[15] um erstens festzustellen, dass die Gestaltungsmöglichkeiten einzelstaatlicher Außenpolitik in den vergangenen Jahren merklich geschrumpft sind: Der Blick auf die Staatenwelt zeigt, wie stark klassische Machtpotenziale diffundieren, die sich üblicherweise in Staaten oder Allianzen konzentrierten. Manche Projektionen gehen sogar so weit, für die Zeit nach 2030 eine Umkehrung der Machtverhältnisse zwischen der sogenannten OECD- und der Nicht-OECD-Welt vorauszusagen.[16] Machtdiffusion und neue Krisenherde wie der Krieg in Syrien, der Konflikt in der Ukraine oder auch der Ausbruch einer Ebolafieberepidemie in Westafrika verschärfen die Frage, wer wofür verantwortlich ist und wer in der Lage und bereit ist, entsprechende Führungsleistungen zu erbringen. Mit Blick auf das internationale System als Ganzes wächst somit die Kluft "zwischen offensichtlichem Regelungsbedarf und zugleich schwindender Handlungsfähigkeit".[17] Dass Regieren auf allen Ebenen immer schwieriger und komplexer erscheint, ist per se zwar nicht neu. Aber in den vergangenen Jahren hat sich diese Wahrnehmung nicht zuletzt bei den Regierenden selbst verstärkt. Der Problemdruck scheint nicht nur objektiv zu wachsen, vielmehr ist im Zuge der globalen digitalen Vernetzung und dem Verschwimmen von Zeit und Distanz im virtuellen Raum auch eine "Globalisierung gesteigerter Erwartungen" und eine parallel wachsende Mobilisierungsfähigkeit sozialer Initiativen und Proteste zu beobachten.[18]
Innerhalb der Staatenwelt kommt zweitens hinzu, dass autoritäre Systeme nicht nur als Konkurrenten zu "westlichen" Demokratien im Wettstreit effektiven Regierens auftreten, sondern zunehmend auch als Herausforderer "westlicher" Werte. Dies artikuliert sich etwa darin, dass sich autoritäre Regime mit innenpolitischen Gegnern etablierter Parteien in westlichen Demokratien verbünden und sie teils sogar materiell unterstützen. Die Bandbreite autoritärer Herausforderer reicht derzeit von nationalkonservativen Regierungen in EU-Mitgliedstaaten wie Ungarn und Polen über autoritäre Anrainerstaaten wie die Türkei, Ägypten oder Russland bis hin zu globalen autoritären Herausforderern des Westens wie China. Inwieweit es sich hier um eine (primär staatliches Regieren betreffende) "globale Systemdebatte",[19] einen "Aufstand" der von den Segnungen des Neoliberalismus und der westlichen Demokratie "Ausgeschlossenen"[20] oder um einen viel fundamentaleren ideologischen Konflikt zwischen einem zunehmend attraktiv erscheinenden "autoritären Traum"[21] und einem in die Defensive geratenen "liberalen Traum" handelt, kann offen bleiben. Die wachsende Zustimmung für nationalkonservative bis rechtsextreme Parteien in der gesamten Europäischen Union wie auch der Sieg des "Brexit"-Lagers in Großbritannien sind jedenfalls als Belege dafür zu deuten, dass die Menschen die neue Normalität der Krise als massive Verunsicherung erleben.
Aus einem deutschen Blickwinkel erscheint diese Konstellation gerade deshalb auch als weltpolitischer Ordnungskonflikt, weil drittens zwei unterschiedliche Typen von "Mächten" um die Durchsetzung ihrer konkurrierenden Ordnungskonzeptionen wetteifern. Auf der einen Seite sind dies von der Bundesregierung als "Gestaltungsmächte" bezeichnete Akteure wie China, Indien und Brasilien, die "wirtschaftlich wie politisch eine zunehmend bedeutsame Rolle in der Welt" spielen und sich "durch Gestaltungsfähigkeit und Gestaltungswillen in regionalen und internationalen Zusammenhängen" auszeichnen, und mit denen es gelte, Partnerschaften auf- und auszubauen.[22] Auf der anderen Seite stehen Akteure, die dem Bild der traditionellen Großmacht und der mit ihr assoziierten "Machtpolitik" nachhängen. Großmächten ist, wie der Historiker Heinrich von Treitschke formulierte, die "Idee der Selbstbehauptung" des Staates "das Höchste".[23] Autonomie und Autarkie, also die Maximierung sowohl politischer und ökonomischer Unabhängigkeit als auch des (national-)staatlichen Einflusses auf andere Staaten beziehungsweise internationale Prozesse, gilt als Leitmarke, die Akkumulierung von sogenannten "harten" Machtressourcen wie militärischer Stärke als nützlichstes Instrument.[24] Aus einem deutschen Blickwinkel steht im europäischen Umfeld derzeit Russland geradezu beispielhaft für dieses traditionelle Großmachtverständnis.
Die Synergien, die sich aus der Kombination einer Renaissance geopolitisch motivierter Großmachtpolitik, dem "Aufstand der Ausgeschlossenen" und dem "Traum" autoritärer Herrschaft ergeben, erzeugen aus einem Berliner Blickwinkel viertens zusätzlichen Druck an verschiedenen anderen Fronten: Zum einen verschärfen die neuen Kriege an der Peripherie der Europäischen Union und ihre Auswirkungen den innenpolitischen Druck in den EU-Mitgliedstaaten (Stichwort: Flüchtlingspolitik), was die Koordinierung angemessener Antworten innerhalb der Union gegenüber "Partnerstaaten" erschwert, die wie Russland als neue Bedrohung wahrgenommen oder wie die Türkei als Kooperationspartner gebraucht werden, sich diese Unterstützung aber teuer bezahlen lassen wollen; zum anderen sind die Auswirkungen der Euro- beziehungsweise Staatsschuldenkrise keineswegs so weit gebändigt, dass die Differenzen in Sachen Haushalts- und Finanzpolitik in der Europäischen Union ausgestanden wären (Stichwort: Austerität). Krise artikuliert sich in vielen EU-Mitgliedstaaten nicht nur als Erschütterung demokratischer Institutionen und innereuropäischer Prozesse, sondern auch als anhaltender wirtschaftlicher Niedergang in einem an Härte zunehmenden globalen Wettbewerb. Die stilisierte "normative Macht Europa"[25] mag für Kriegsflüchtlinge als Hort des Friedens und des Wohlstands an Attraktivität nichts verloren haben, wenn aber "normative Macht" vor allem darin zum Ausdruck kommt, dass sie die Standards der Normalität definiert,[26] dann hat die Europäische Union in den vergangenen Jahren beträchtlich an Macht eingebüßt. Umgekehrt scheint die normative Kraft des Faktischen, die sich unter anderem in gewaltsamer Landnahme manifestiert, Akteuren wie Russland oder dem "Islamischen Staat" in die Hände zu spielen.[27]