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Entwicklungspolitik im Gefüge einer "neuen deutschen Außenpolitik"

Jörn Grävingholt

/ 14 Minuten zu lesen

Entwicklungspolitik ist Transformationspolitik. Angesichts der globalen Herausforderung, die Weltordnung fundamental zu transformieren, muss dieser Akzent noch stärker als bisher zentrale Leitidee entwicklungspolitischen Handelns in der deutschen Außenpolitik sein.

Als die Diskussion über eine "neue" deutsche Außenpolitik Anfang 2014 in konzertierter Weise von Bundespräsident Joachim Gauck und Außenminister Frank-Walter Steinmeier angestoßen und schnell von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Entwicklungsminister Gerd Müller aufgegriffen wurde, fiel manchem Beobachter unter anderem auf, "wie wenig über (konkrete) Ziele und Strategien im Vergleich zu übergreifenden Konzepten (wie ‚Führung‘ oder ‚Zurückhaltung‘) oder allgemeinen Leitlinien (‚früher, entschiedener und substantieller‘) diskutiert, geschweige denn gestritten" wurde.

Angesichts der Krisen in Syrien und der Ukraine, die in der öffentlichen Wahrnehmung die Ernüchterung über die nordafrikanische "Arabellion" abgelöst hatten, der wiederum die schmerzhafte Erkenntnis um die Begrenztheit des Interventionserfolgs in Afghanistan vorausgegangen war, schien die Antwort auf die Frage nach Ziel und Strategie deutscher Außenpolitik für manche auf der Hand zu liegen: Frieden wahren, Krisen verhüten.

Der anschließende "Review-Prozess" des Auswärtigen Amtes brachte denn auch ein Jahr der Konsultation und Selbstverständigung über die deutsche Außenpolitik Anfang 2015 auf den Dreiklang "Krise – Ordnung – Europa". Der dominanten Wahrnehmung einer fundamentalen weltpolitischen Krise, die Außenminister Steinmeier in das Bild einer "Welt aus den Fugen" gekleidet hatte, wurden zwei strukturelle Antworten zur Seite gestellt: die Einhegung und Prävention von Krisen in einer internationalen (Rechts-)Ordnung einerseits und die Stärkung der Europäischen Union als Werte- und Interessengemeinschaft andererseits.

Hier setzte sich eine Zielbestimmung fort, die schon Bundespräsident Gauck in seiner Rede zur Eröffnung der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 als deutsches "Kerninteresse" ausgemacht hatte: eine offene Weltordnung, die Deutschland erlaube, Interessen mit grundlegenden Werten zu verbinden, zu erhalten und zukunftsfähig zu machen. Gunther Hellmann hat dies treffenderweise in Anlehnung an den Politologen Arnold Wolfers als "Milieuziel" identifiziert, also als auf die Schaffung vorteilhafter Rahmenbedingungen orientiertes Ziel, deren Verwirklichung letztlich allen Handelnden zugutekommt.

Eines wurde im Review-Prozess nur am Rande thematisiert und in seinen Folgen nicht tiefer analysiert: Die Verdichtung der Krisen in jener offenen Weltordnung ist allem Anschein nach kein zufälliger temporärer Knick in der internationalen Zusammenarbeit, der allein durch beharrliches Bemühen und inkrementelle Reformen globaler Kooperationsformate behoben werden könnte. Darin spiegelt sich vielmehr die Kehrseite rasant wachsender internationaler wechselseitiger Abhängigkeiten und damit ein strukturelles Problem wider, das etwa der Sozialwissenschaftler Dieter Senghaas auf den Begriff der "Zerklüftung" gebracht hat. Auch in der Politik greift die Erkenntnis interdependenter Zusammenhänge Raum. So bezeichnete beispielsweise Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble die europäische Flüchtlingskrise, die in ihrem Ausmaß nur einen Bruchteil der globalen Flüchtlingskrise ausmacht, als "Rendezvous unserer Gesellschaft mit der Globalisierung".

Welches sind die problematischen Treiber jener globalen gegenseitigen Abhängigkeiten? Der Politologe Dirk Messner hat vorgeschlagen, "vier sich wechselseitig verstärkende Wellen globalen Wandels" zu unterscheiden: erstens die sich beschleunigende ökonomische Globalisierung, die Chancen und zugleich Verwundbarkeiten schafft und in jüngster Zeit zunehmend Legitimationskrisen demokratischer Systeme und das Erstarken populistischer Parteien und Politiker hervorgerufen hat; zweitens globale "tektonische" Machtverschiebungen zugunsten aufsteigender Länder wie China und Indien, die alte Machtkonstellationen infrage stellen, ohne jedoch klare neue Konstellationen hervorzubringen; drittens den menschengemachten Wandel des Erdsystems ("Anthropozän") mit unabsehbaren Folgen, wenn die Weltwirtschaft nicht innerhalb weniger Jahrzehnte ihren Energie- und Ressourcenbedarf fundamental umstellt; und viertens die Digitalisierung der Kommunikation, die einen weltumspannenden Austausch von Informationen in Echtzeit erlaubt und zugleich nie gekannte Möglichkeiten und Formen der Datenüberwachung schafft.

Die meisten Großkrisen der Gegenwart lassen sich – mit lokalen Spezifika – als Geschichten des Zusammenspiels dieser vier Megatrends erzählen, allen voran die globalen Flüchtlingsbewegungen, die Bedrohung durch den sogenannten Islamischen Staat und andere extremistische Gruppierungen, der syrische Bürgerkrieg, die Finanzkrisen der vergangenen zehn Jahre, die Verbreitung von Krankheiten wie Ebola oder dem Zika-Virus, die Identitätskrise Europas.

Das größte Krisenpotenzial wohnt dabei den Risiken weiterhin unterregulierter ökonomischer Globalisierung und den menschengemachten Veränderungen des Erdsystems inne. Um dem entgegenzutreten, wird ein tiefgreifender Wandel wirtschaftlicher und politischer Strukturen erforderlich sein. Eine "neue" deutsche Außenpolitik wird sich nicht allein dem Erhalt einer bestehenden Weltordnung widmen können. Sie wird vielmehr konkrete Beiträge zu einer Transformation dieser Ordnung leisten müssen, um deren Zukunft zu sichern.

Das Milieuziel einer offenen Weltordnung, so die Quintessenz, wird nur dann auf Dauer erreicht werden, wenn der Menschheit innerhalb weniger Jahrzehnte eine globale Transformation jener Strukturen und Dynamiken gelingt, die diese Ordnung einerseits tragen, sie aber auch zunehmend von innen zu zerstören drohen.

Die im September 2015 von den Vereinten Nationen beschlossene "Agenda 2030" mit 17 Zielen nachhaltiger Entwicklung stellt im internationalen System die bis dato deutlichste Anerkennung des globalen Transformationsbedarfs dar. Dass dieses Programm als Nachfolgeprojekt der primär auf Armutsbekämpfung orientierten Millenniumsentwicklungsziele entstanden ist, versinnbildlicht den Bedeutungswandel, den Entwicklungspolitik seit ihren Anfängen als Hilfe für "unterentwickelte Länder" bis heute erfahren hat. Welche Rolle kommt der Entwicklungspolitik im Rahmen einer neuen deutschen Außenpolitik zu?

Von der Entwicklungshilfe zur globalen Strukturpolitik

Kaum ein Politikfeld dürfte einer größeren Diskrepanz zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung ausgesetzt sein als die Entwicklungspolitik. Eine fachfremde Öffentlichkeit, die bis in manche Bundesministerien und parlamentarische Fachausschüsse reicht, hält mitunter den sprichwörtlichen Brunnenbau noch immer für das entwicklungspolitische Kerngeschäft. Demgegenüber positionieren die Protagonistinnen und Protagonisten der Entwicklungspolitik selbst ihren Tätigkeitsbereich zunehmend als Politikfeld der globalen Zukunftsverantwortung, mit dem Ziel, "eine gerechtere, friedlichere und ökologisch zukunftsfähige Welt" zu schaffen. Die Festlegung des rot-grünen Koalitionsvertrages von 1998, der Entwicklungspolitik als "globale Strukturpolitik" definierte, wurde unter späteren Regierungskoalitionen zwar unterschiedlich enthusiastisch interpretiert, aber nicht widerrufen, und prägt seitdem auch das Selbstverständnis des für Entwicklungspolitik hauptverantwortlichen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).

In sprachlicher Hinsicht wurde in den 1990er Jahren der Abschied vom alten Begriff der "Entwicklungshilfe" zugunsten von "Entwicklungszusammenarbeit" (EZ) eingeleitet, um den Übergang von einer paternalistischen Almosengabe zu einer partnerschaftlichen Vereinbarung und Umsetzung von Entwicklungszielen zu dokumentieren. Neben dem praktischen Argument, dass von den lokalen Partnern mitgetragene und angenommene EZ-Maßnahmen nachweislich bessere Aussichten auf einen nachhaltigen Erfolg haben, spielte auch die Absicht eine Rolle, durch die Pflege von Partnerschaften "auf Augenhöhe" das Klima internationaler Kooperation insgesamt zu verbessern.

Auch das Portfolio der direkten Zusammenarbeit veränderte sich. Die "Gegenstände" der Kooperation wurden politischer. Erster Auslöser war eine Reihe von Wirkungsanalysen der Weltbank in den 1990er Jahren, die zeigten, dass Entwicklungsprojekte dort auf erheblich fruchtbareren Boden fielen, wo staatliche Institutionen eine bessere Qualität der Regierungsführung an den Tag legten. "Good Governance" wurde zum neuen Schlagwort und veränderte das Denken über die Grundbedingungen erfolgreicher Entwicklung.

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa und den damit verbundenen politischen Umbrüchen auch in anderen Teilen der Welt gingen viele Geber noch weiter und etablierten Demokratieförderung als entwicklungspolitisches Handlungsfeld. In Deutschland begann neben dem BMZ auch das Auswärtige Amt mit der Förderung entsprechender Maßnahmen.

Seit den späten 1990er Jahren – zunächst in Reaktion auf den jugoslawischen Bürgerkrieg und den Völkermord in Ruanda, später forciert durch den 11. September 2001 – wurde ein entwicklungspolitisches Instrumentarium der Friedensförderung entwickelt. Einerseits entstanden neue Förderlinien im Geschäftsbereich des BMZ wie der Zivile Friedensdienst und die auf "Krisenprävention" ausgerichtete Projektförderung nichtstaatlicher Träger wie kirchliche Werke und politische Stiftungen. Andererseits entwickelten auch die großen staatlichen sogenannten Durchführungsorganisationen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ, 2011 in die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ überführt) eigene Kompetenzen und Angebote im Bereich Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung. Schließlich erhielt auch das Auswärtige Amt mehr Mittel zur "zivilen Krisenprävention", die für Projekte eingesetzt wurden, die durchaus typische Aufgaben der Entwicklungsförderung wahrnahmen.

Zum Instrumentarium der Entwicklungspolitik gehört heute weitaus mehr als die bilateral zwischen einem "Geber" und einem "Entwicklungsland" vereinbarte und durch den Geber finanzierte Kooperation bei der Schaffung neuer Infrastruktur oder der Förderung von Fähigkeiten (capacity building). Sie umfasst die Beratung umfangreicher sektoraler Reformvorhaben oder die Unterstützung von Ländern bei der Einbringung ihrer Stimme in internationale Verhandlungsprozesse wie etwa für den Beitritt zur Welthandelsorganisation bis hin zur pauschalen, aber an politische Vereinbarungen gebundenen Direktfinanzierung staatlicher Haushalte (Budgethilfe). Zu ihr zählt auch die Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Akteuren und Organisationen mit dem Ziel, eine größere Stimmenvielfalt in politischen Prozessen zu ermöglichen. In der Zusammenarbeit mit staatlichen und nichtstaatlichen Partnern geht es zudem darum, international vereinbarten Normen – von allgemeinen Menschenrechten über Frauen-, Kinder- und Minderheitenrechte bis hin zu Umweltschutz- und Arbeitsnormen – Geltung zu verschaffen.

Auch die internationale Einbettung der EZ hat kontinuierlich zugenommen. Neben der Finanzierung klassischer multilateraler Programme etwa der Weltbank, der regionalen Entwicklungsbanken oder des UN-Entwicklungsprogramms werden EZ-Mittel auch für Gemeinschaftsprogramme mehrerer Geber, sektorale "Korbfinanzierungen" oder Treuhandfonds wie zum Beispiel die Friedensfonds in ehemaligen Bürgerkriegsländern aufgewendet, um Wirkungen durch abgestimmtes internationales Vorgehen zu verstärken und den Koordinationsaufwand für die Partnerländer, die mitunter mit Dutzenden Geberorganisationen zu tun haben, zu verringern.

Mit Blick auf die Internationalisierung der Aktivitäten vieler Ressorts, die zunehmend auch als official development aid (ODA) anrechenbare finanzielle Mittel beispielsweise zum Klimaschutz verwalten, kam dem BMZ zunehmend die Rolle des Sachwalters entwicklungspolitischer Interessen im Gesamtkonzert der Ressorts zu. Seit dem rot-grünen Koalitionsvertrag von 1998 ist das Ministerium daher auch im Bundessicherheitsrat vertreten, der als Kabinettsausschuss unter anderem über Rüstungsexporte befindet.

Entwicklungspolitik zwischen Diskurs und Wirklichkeit

Ungeachtet dieser Weiterentwicklung ihrer Handlungslogik und Arbeitsweise, sah sich Entwicklungspolitik immer wieder fundamentaler Kritik ausgesetzt. Anhaltende Armut in vielen Ländern und enttäuschte Erwartungen wurden dabei als Nachweis des Scheiterns jahrzehntelanger "Entwicklungshilfe" betrachtet. Derlei Pauschalurteile übersehen allerdings drei Sachverhalte.

Erstens stehen die weltweit für EZ aufgewendeten Mittel in einem absurden Missverhältnis zu der Erwartung, sie müssten alle wesentlichen Entwicklungsblockaden überwinden. Wie der Politikwissenschaftler Franz Nuscheler aufgezeigt hat, beliefen sich sämtliche ODA-Mittel seit einem halben Jahrhundert in etwa auf die Größenordnung der innerdeutschen West-Ost-Transfers seit der Wiedervereinigung. Von dem seit den 1970er Jahren erklärten und wiederholt bekräftigten Ziel, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für ODA aufzuwenden, sind die meisten OECD-Staaten, darunter auch Deutschland, bis heute weit entfernt.

Zweitens zeigen systematische Wirkungsanalysen, die seit mittlerweile zwei Jahrzehnten in zunehmendem Maße zum Standard der Entwicklungsforschung geworden sind, dass EZ durchaus positive Wirkungen entfaltet, aber eben längst nicht immer und in dem erhofften Ausmaß. Die erfolgreiche Unterstützung erwünschter Entwicklungen gelingt vor allem dort, wo lokale Kontexte gründlich analysiert werden und maßgeschneiderte, sich fortlaufend anpassende Strategien anstelle vorgefertigter Blaupausen verfolgt werden und nicht andere, meist kurzfristigere außenpolitische Interessen strukturelle Entwicklungsbemühungen konterkarieren.

Drittens schließlich wird außer Acht gelassen, dass die Mittel und Instrumente der Entwicklungspolitik selbst keineswegs immer nur mit dem Ziel eingesetzt werden, maximalen Nutzen im Sinne nachhaltiger Entwicklung zu erzeugen. Ungeachtet aller normativen Festlegungen, die für die öffentliche Legitimierung des Politikfeldes ebenso erforderlich sind wie für die Aufrechterhaltung der intrinsischen Motivation und kollektiven Identität der in ihm Tätigen, war Entwicklungspolitik immer ein "Mehrzweckinstrument", das Begehrlichkeiten aus unterschiedlichsten Richtungen weckte, die verfügbaren Mittel der EZ für eigennützigere Zwecke als die bloße Verbesserung der Lebensbedingungen in anderen Ländern oder die Förderung globaler öffentlicher Güter einzusetzen – und das nicht nur unter einem Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP), der sich ausdrücklich zur Außenwirtschaftsförderung als einem zentralen Ziel bekannte. Mitunter waren es dieselben Stimmen, die die Zweckentfremdung der EZ für außen(wirtschafts)politische Eigeninteressen beförderten und zugleich vehement ihre dadurch erst besonders verstärkte Vergeblichkeit beklagten.

Dass die Förderung repressiver und ausbeuterischer Diktaturen mit Mitteln der EZ, wie sie etwa wichtige Geber in Nordafrika aus geostrategischen Gründen über Jahrzehnte betrieben haben, auf Dauer gerade kein Beitrag zur Sicherung der erwünschten Stabilität darstellt, ist seit 2011 an den Aufständen des "Arabischen Frühlings" mustergültig zu beobachten. Statt Frieden zu sichern, wurden in Ländern wie Ägypten unter Präsident Husni Mubarak mit externen Mitteln Zustände "stabilisiert", die viele vor allem junge Menschen in die religiös oder anderweitig verbrämte politische Radikalität trieben und schließlich ein Maximum an Instabilität hervorbrachten.

Angesichts der Eskalation des weltweiten Konfliktgeschehens in den vergangenen Jahren und der Konfrontation Europas mit einer "Flüchtlingskrise" historischen Ausmaßes ist die Fundamentalkritik an der Entwicklungspolitik zuletzt weitgehend verstummt. Ihr Zielsystem ist im politischen Diskurs legitimierter denn je, weil der von ihren Befürworterinnen und Befürwortern immer hervorgehobene Verweis auf das "wohlverstandene Eigeninteresse" der reichen Länder an der gelingenden Entwicklung der ärmeren und an einer gerechteren Globalisierung nunmehr offenkundig zu sein scheint. Doch drohen auch mit der an sich richtigen Forderung nach einer "Fluchtursachenbekämpfung" durch Entwicklungspolitik neue Machbarkeitsversprechen, unerfüllbare Erwartungen zu schüren. Je drängender das Problem, desto schneller sollen die Resultate auch zu sehen sein. Die nächste Welle der Ernüchterung und Grundsatzkritik an der Entwicklungspolitik scheint programmiert.

Entwicklungspolitik der Zukunft: "Motor globalen Wandels"?

Entwicklungspolitik ist schon immer ein Politikfeld gewesen, das sich zwar normativ über seinen Zweck definiert, in der politischen Praxis aber meist über sein Instrumentarium wahrgenommen wird, vor allem bilaterale Entwicklungszusammenarbeit. Dieser vermeintliche Markenkern war in den zurückliegenden Jahren zunehmend Fragen nach seiner Zukunft ausgesetzt, die nicht etwa aus einer Vergeblichkeitskritik heraus formuliert wurden, sondern angesichts globaler Trends, die zum Teil sogar entwicklungspolitischen Erfolgen zuzuschreiben sein dürften.

Unter dem Stichwort beyond aid (also jenseits von ODA) wird diskutiert, welche Konsequenzen für die Entwicklungspolitik sich aus einer dynamischen Ausdifferenzierung des "globalen Südens" ergeben, die klassische Formen des bilateralen Mitteltransfers von Norden nach Süden immer weniger relevant erscheinen lassen. Zu den bedeutsamen Großtrends, die sich nach Auffassung mancher Beobachterinnen und Beobachter noch weiter verstärken werden, zählt die Entwicklung, dass ein rasch wachsender Anteil der Armen auf der Welt nicht mehr in den ärmsten Staaten, sondern in Mitteleinkommensländern lebt, während es sich bei den ärmsten Ländern zunehmend um "fragile Staaten" handelt, die von Bürgerkriegen und anderen Symptomen des Staatszerfalls geprägt sind. Letztere befingen sich damit scheinbar in einer strukturellen Armutsfalle, aus der eine bloße sozioökonomische Entwicklungsförderung keinen Ausweg weisen wird.

Neue Formen der Zusammenarbeit sind also gefragt. In entwicklungspolitischen Organisationen werden solche bereits seit Jahren erarbeitet und ausgebaut. Auf der einen Seite entstehen in der Kooperation mit Schwellenländern Formate, die tatsächlich beginnen, den Anspruch der Zusammenarbeit auf Augenhöhe einzulösen. Die Tatsache, bei der Erreichung von Klimazielen und der Bereitstellung anderer globaler öffentlicher Güter tatsächlich auf große aufsteigende Länder wie China oder Indien angewiesen zu sein, tut hierbei ein Übriges.

Auf der anderen Seite stellen sich im Umgang mit fragilen Staaten grundverschiedene Fragen, die ebenfalls über das verbreitete Verständnis von "klassischer" EZ hinausweisen, auch wenn manche Ansätze schon seit beinahe zwei Jahrzehnten zum Repertoire gehören. Die Herstellung einer funktionierenden Verbindung zwischen herrschenden Eliten und einfacher Bevölkerung zu unterstützen, bei der der Staat durch Leistungen für die Bevölkerung und die Schaffung von "menschlicher Sicherheit" Legitimität erwirbt und der Gefahr des massiven Machtmissbrauchs durch geeignete Kontrollmechanismen entgeht, ist die zentrale Aufgabe der Förderung von guter Regierungsführung und demokratischen Strukturen. Solche Förderansätze können jedoch nur Aussicht auf Erfolg haben, wenn gesamtpolitisch, also auch diplomatisch, handels- und finanzpolitisch sowie international abgestimmt, passende Anreize gesetzt werden.

Die Herausforderung für die entwicklungspolitischen Akteure in Deutschland und anderen Ländern besteht also unter anderem darin, dass die Grenzen der "klassischen" EZ längst überschritten sind und Bereiche berührt werden, in denen andere Ressorts ebenfalls ihre Zuständigkeit haben oder erkennen mögen – selbst wenn sie diese Zuständigkeit bisher primär mit einer nationalen Interessenperspektive statt vor dem Zielhorizont des Beitrags zu globalen öffentlichen Gütern wahrnehmen sollten. Noch hat die Bundesregierung wie die meisten großen Industriestaaten keine bessere organisatorische Antwort auf diese faktische Neukonfiguration von Politikfeldgrenzen gefunden als den Appell an bessere ressortübergreifende Zusammenarbeit und den gelegentlichen Neuzuschnitt sektoraler Zuständigkeiten. Ob dies auf Dauer reichen wird, ist zu bezweifeln, aber offensichtliche einfache Lösungen liegen nicht auf der Hand.

So muss der erste große Schritt zunächst in der Klärung der Fragen bestehen, was den Wesenskern der Entwicklungspolitik ausmacht und welche Funktion sie in der Zukunft ausüben soll. Organisatorische Konsequenzen sind der zweite Schritt.

Das "Kerngeschäft" der Entwicklungspolitik ist in erster Linie Transformationspolitik. Ihr Ziel ist die Überwindung struktureller Hemmnisse für eine wie auch immer näher zu bestimmende bessere Entwicklung. In der deutschen Außenpolitik muss dieser Akzent künftig noch stärker als bisher zentrale Leitidee entwicklungspolitischen Handelns sein und damit auch über seine fachpolitischen Grenzen hinaus wirksam werden. Angesichts der fundamentalen Strukturdefizite, die das globale System kennzeichnen, ist eine "neue deutsche Außenpolitik" wie jede zeitgemäße Außenpolitik auf einen Politikbereich angewiesen, zu dessen Wesensmerkmal die Aufgabe gehört, zur Transformation komplexer Strukturen im globalen Mehrebenensystem beizutragen.

Die in den kommenden Jahrzehnten erforderliche globale Transformation friedlich zu gestalten, wird ein Kooperationsvermögen erfordern, das nicht als gegeben unterstellt werden darf, sondern sehr voraussetzungsreich ist. Basismechanismen für gelingende Kooperation müssen lokal, national und global gefördert werden. Dazu zählen zentrale Kategorien wie Vertrauen, Reziprozität, dichte Kommunikationsbeziehungen, Reputation, Fairness, positive und negative Sanktionen, gemeinsame Identitäten und Narrative.

Ungeachtet ihrer Schwächen und Begrenzungen, kann Entwicklungspolitik auf einen über Jahrzehnte gewachsenen Erfahrungsschatz mit all diesen Mechanismen aufbauen. In enger Verzahnung mit diplomatischen und anderen politischen Initiativen und im partnerschaftlichen Dialog mit einer Vielzahl unterschiedlicher Länder und nichtstaatlicher Akteure zum Gelingen der notwendigen globalen Transformation beizutragen, muss folglich das Leitmotiv einer zukunftsorientierten Entwicklungspolitik sein. Damit könnte sie zu einem Motor oder, vielleicht ihrer Logik angemessener, zu einem Katalysator notwendigen globalen Wandels werden.

ist Politikwissenschaftler mit den Schwerpunkten Fragilität, Friedensförderung und politische Transformation und arbeitet in der Abteilung "Governance, Staatlichkeit, Sicherheit" des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik in Bonn. E-Mail Link: joern.graevingholt@die-gdi.de