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Chronisch zersplittert | Frankreich | bpb.de

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Chronisch zersplittert Die französische Linke vor den Wahlen

Susanne Götze

/ 13 Minuten zu lesen

Nach fast fünf Jahren Linksregierung ist die französische Linke tief gespalten. Die Situation des linken Lagers erinnert an die Zeit nach der Staatskrise 1958, als die IV. Republik endete. Damals wie heute scheinen jene, die die Linke einen wollen, deren Spaltung voranzutreiben.

Die Einteilung des politischen Meinungsspektrums in links und rechts, wie wir sie heute kennen, stammt bekanntlich aus der Zeit der Französischen Revolution, als in der Nationalversammlung von 1789 die Gegner und Unterstützer des Königs jeweils auf den Sitzrängen zu seiner Linken beziehungsweise Rechten Platz nahmen. Der Sturm auf die Bastille wenige Wochen zuvor gilt für linke Bewegungen bis heute als Initialzündung emanzipatorischer Politik. Zwar war das Gefängnis so gut wie leer, viele seiner Insassen waren schon Tage vorher verlegt worden. Doch das Zündeln an den Mauern des Ancien Régime war ein starkes Symbol.

Von diesen stürmischen Zeiten ist am heutigen Place de la Bastille nicht mehr viel zu sehen. Einige Überreste der alten Festungsmauern wurden Ende des 19. Jahrhunderts rund 500 Meter weiter versetzt und stehen nun weitab vom Touristenrummel auf einem Grünstreifen zwischen zwei stark befahrenen Straßen an der Metrostation Sully-Morland. Dennoch ist der Platz bis heute Versammlungsort linker Bewegungen – ebenso wie der Place de la Concorde, die Hinrichtungsstätte Ludwig XVI., traditioneller Treffpunkt der Konservativen ist.

Der Place de la Bastille erzählt von über 200 Jahren eines tragischen, aber auch siegreichen Kampfes gegen Monarchie, Ausbeutung und Kapitalismus: Hier verbarrikadierten sich die Revolutionäre von 1830, verteidigten sich die Kommunarden von 1871, sangen Tausende Unterstützer der legendären Volksfront aus Sozialisten, Radikalen und Kommunisten 1936 die Internationale und feierten im Mai 1981 die Anhänger des ersten sozialistischen Präsidenten der V. Republik, François Mitterrand, ihren Wahlsieg.

Gut 30 Jahre später, am 6. Mai 2012, bestieg noch ganz im Siegestaumel ein neuer sozialistischer Präsident die Bühne auf dem Platz: "Ich habe euren Willen zum Wechsel gehört. Ich habe eure Kraft und eure Hoffnung gespürt", rief François Hollande mit heiserer Stimme ins jubelnde Fahnenmeer. Einige Wochen zuvor hatte an Ort und Stelle noch der linke Gegner Hollandes, Jean-Luc Mélenchon, für die Linksfront geworben, einem Wahlbündnis der Kommunistischen Partei, der Linkspartei und der trotzkistisch geprägten Einheitlichen Linken, bevor er schließlich für den zweiten Wahlgang die Anhänger der Linksfront dazu aufrief, den sozialistischen Kandidaten Hollande zu unterstützen.

Der Wahlsieg Hollandes 2012 war, ebenso wie jener Mitterrands 1981, das Ergebnis einer der wenigen Gelegenheiten, bei denen sich die Linke in Frankreich zur Geschlossenheit zusammenraufte. Doch von dieser Einigkeit ist fast fünf Jahre später nichts mehr übrig, und der Jubel ist verstummt: Statt seine linken Wähler mit mehr Arbeitnehmerrechten oder Bildungsinvestitionen zu beschenken, hat Hollande unpopuläre Reformen auf den Weg gebracht und die Liberalisierung vorangetrieben – in der Hoffnung, Frankreich so wieder auf Wachstumskurs zu bringen. Seit Jahren ist er der unbeliebteste Präsident der V. Republik und gilt auch unter Linken mittlerweile als einer von "denen da oben" – ein Funktionär, kein Mann des Volkes. Umfragen zufolge trauen aktuell nur noch 13 Prozent der Franzosen dem Präsidenten zu, die Probleme Frankreichs zu lösen und das Ruder bis zum Wahltag am 23. April 2017 herumzureißen.

Die Sozialistische Partei (PS) ist unter Hollande regelrecht ausgeblutet: Seit 2012 hat sie rund 20 Prozent ihrer Mitglieder verloren – darunter prominente Politiker wie der ehemalige Europaabgeordnete Liêm Hoang-Ngoc – und zählt derzeit noch rund 80.000, während die konservativen Republikaner, ehemals Union für eine Volksbewegung (UMP), 200.000 Mitglieder haben und Marine Le Pens rechtsextremer Front National inzwischen etwa 50.000.

Die Wähler haben das ohnehin wacklige Vertrauen in die Sozialisten, die sogenannte gauche caviar ("Salonbolschewisten"), verloren. Die meisten Prognosen für die Präsidentschaftswahl 2017 rechnen damit, dass sich im zweiten Wahlgang ein bürgerlicher Kandidat und Marine Le Pen gegenüberstehen und sich so das Szenario von 2002 wiederholt, als Jacques Chirac und Jean-Marie Le Pen um das Präsidentenamt rangen.

Linkes Mosaik

Dieses Szenario mahnt zu Einigkeit im linken Lager, doch die will sich nicht einstellen. Tragisch wiederholt sich derzeit das althergebrachte Verhaltensmuster der französischen Linken, das bis 1789 zurückgeht, als sie gemeinsam gegen das Ancien Régime revoltierten. Während nach außen hin in pathetischen Ansprachen die Einheit der linken Bewegung beschworen wird, zerschlagen dieselben Leute im Hintergrund das Geschirr.

Das Regierungslager aus Sozialistischer Partei, Radikaler Linkspartei und Ökopartei ist tief gespalten: Zum ersten Mal in der Geschichte der Französischen Republik muss sich ein Präsident vor seiner Kandidatur zur Wiederwahl einer offenen Vorwahl (primaire) stellen. Links der Sozialistischen Partei leistet sich die Kakofonie aus Kommunistischer Partei, Linkspartei, Neuer Antikapitalistischer Partei, Neuer Sozialistischer Linke und der trotzkistischen Partei Arbeiterkampf bisher fünf Präsidentschaftskandidaten.

Innerhalb des Regierungslagers haben bislang rund zehn Personen angekündigt, als Vorwahlkandidaten antreten zu wollen; ein halbes Dutzend weitere haben Interesse bekundet oder werden als mögliche Bewerber gehandelt. François Hollande will im Dezember 2016 seine Entscheidung bekannt geben.

Als seine aussichtsreichsten Konkurrenten gelten zwei ehemalige Weggefährten: Zum einen der parteilose, im August 2016 zurückgetretene Wirtschaftsminister Emmanuel Macron. Bereits im April 2016 gründete er die überparteiliche Reformbewegung "En Marche!" (Vorwärts), mit der er sich im politischen Zentrum positioniert – ein Schritt, der allgemein als Demonstration seiner Ambitionen für eine Präsidentschaftskandidatur interpretiert wurde; der 38-jährige ehemalige Investmentbanker gilt als Karrierist. Im Regierungslager hat sein Rücktritt ihm den Vorwurf des Verrats und der Illoyalität eingehandelt. Und mit kritischen Äußerungen wie etwa der Bemerkung gegenüber Gewerkschaftern, am besten könne man sich einen Anzug leisten, wenn man arbeiten gehe, hat er den Unmut vieler Sozialisten auf sich gezogen. Zudem steht er für einen sozialdemokratischen Reformkurs, der von nicht wenigen abwertend als "neoliberal" abgetan wird. Aber Linksikonen wie Daniel Cohn-Bendit zählen auf ihn, um den "Albtraum" einer zweiten Wahlrunde wie 2002 zu verhindern.

Zum anderen Macrons Vorgänger als Wirtschaftsminister, der Sozialist Arnaud Montebourg. Dieser war bereits 2014 nach heftigem Widerstand gegen die Austeritätspolitik in Europa desillusioniert zurückgetreten und hatte sich ganz aus der Politik zurückgezogen. Im August 2016 kündigte er an, für das Präsidentenamt kandidieren zu wollen. Nun profiliert er sich weiter als Keynesianer und fordert ein breites Investitionsprogramm und die Stärkung kleiner und mittlerer Unternehmen. Den europäischen Sparkurs lehnt er kategorisch ab und wirft François Hollande vor, sich zu wenig gegen die Europolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel einzusetzen.

Die Kritik am "deutschen Spardiktat" und der politischen Schwäche Frankreichs in Europa ist auch links der Sozialistischen Partei eines der wichtigsten Argumente gegen Hollande, wobei dort ein deutlich schärferer Ton herrscht als unter den Sympathisanten von Montebourg. So legt etwa Jean-Luc Mélenchon, der sich 2008 mit der Gründung der Linkspartei von der Sozialistischen Partei abspaltete und 2012 als Präsidentschaftskandidat der Linksfront Wahlkampf führte, mit Tweets wie "Maul zu, Frau Merkel! Frankreich ist frei" eine radikale Wortwahl an den Tag und hält sich auch sonst mit Deutschlandfeindlichkeit und nationalistischen Ressentiments nicht zurück.

Darüber hinaus steht es links der Sozialistischen Partei nicht besser um die Geschlossenheit. Zwar gab es schon früh Stimmen, die wie der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, Pierre Laurent, für eine Neuauflage der Linksfront von 2012 mit einem gemeinsamen Kandidaten für all jene Enttäuschten plädierten, die eine erneute Kandidatur von François Hollande verhindern wollen, und Teile der regierungskritischen Linken hätten gerne eine gemeinsame Vorwahl organisiert.

Doch im Februar 2016 erklärte Jean-Luc Mélenchon mit der Gründung der parteiunabhängigen Bewegung "La France insoumise" (Widerspenstiges Frankreich) ohne Absprache mit den politischen Partnern seine Ambitionen für eine erneute übergreifende Kandidatur, und nun herrscht Unmut über diesen Alleingang. Besonders gekränkt ist die Kommunistische Partei, deren Anhänger Mélenchon vorwerfen, die mühsam geschmiedete Gemeinschaft der Linksfront unterminiert zu haben. Mélenchon zufolge hätte die Bewegung schon längst durchstarten können, wenn sie von den Kommunisten unterstützt würde. Der Streit währt seit Monaten.

Die Linksfront, deren Mitglieder 2012 gemeinsam und entschlossen Wahlkampf führten, bröckelt genauso auseinander wie die Sozialistische Partei, und statt sich zu einen, gründen neue Abweichler neue Parteien, wie der ehemalige PS-Politiker Liêm Hoang-Ngoc die Neue Sozialistische Linke.

Blickt man noch weiter nach links, wird das Mosaik immer kleinteiliger: Die Neue Antikapitalistische Partei hatte sowieso nie vor, mit Mélenchon oder anderen ehemaligen PS-Politikern zusammenzuarbeiten und schickt Philippe Poutou ins Rennen um das Präsidentenamt, und die Trotzkisten der Partei Arbeiterkampf setzen wie 2012 auf Nathalie Arthaud.

Das Ergebnis ist ein bunter Haufen aus ambitionierten Politiktalenten mit wenig realen Chancen, beleidigten Altlinken, enttäuschten Parteimitgliedern, eigensinnigen Kampagnenmachern und einem ausgedienten Präsidenten.

Straßendemokratie gegen das Establishment

Bei dieser Gemengelage haben sich einige Teile des radikal-linken Lagers und seiner Sympathisanten mittlerweile von der Parteiarbeit abgewandt und stellen das Parteiensystem an sich infrage. Viele von ihnen nehmen an den Massenversammlungen und -kundgebungen teil, die seit dem Frühjahr 2016 auf dem Pariser Place de la République stattfinden und zeitweise eine beeindruckende Dynamik entfalteten.

Inspiriert von den "Empörten", die dem Aufruf zum politischen Widerstand des französischen Résistance-Kämpfers und Diplomaten Stéphane Hessel folgten und deren Praxis, öffentliche Plätze zu besetzen, das Frühjahr 2011 bestimmte, mobilisiert die Bewegung "Nuit debout" (Nacht auf den Beinen) gegen die spätestens seit der Arbeitsmarktreform von Arbeitsministerin Myriam El Khomri und Wirtschaftsminister Emmanuel Macron beziehungsweise dessen Nachfolger Michel Sapin als neoliberal geltende Politik der Regierung. Doch geht der Protest auch darüber hinaus und richtet sich gegen das gesamte politische Establishment sowie grundsätzlich gegen das Demokratiemodell, das dem politischen System Frankreichs zugrunde liegt. Jeder darf sprechen, viele tun es das erste Mal in der Öffentlichkeit, und es wird geduldig zugehört; Arbeitsgruppen vertiefen einzelne Diskussionsstränge.

Unter den demokratieeuphorischen Besetzern des Place de la République sind Bürgerinnen und Bürger mit den unterschiedlichsten Hintergründen: Studenten, die befürchten, später keinen sicheren Arbeitsplatz zu bekommen, resignierte Arbeitslose oder überarbeitete Angestellte. Auch wenn es um "Nuit debout" mittlerweile etwas leiser geworden ist, kommen wöchentlich immer noch Hunderte Citoyens zum Place de la République in Paris und anderen öffentlichen Plätzen in ganz Frankreich.

Politik und Medien schauen etwas verunsichert zu. Es gibt keine Fahnen, keine Logos, keine Kategorien, in die man die Besetzer stecken kann. Die Aktivisten können die Hauptstadtjournalisten nicht mehr hören, die wissen möchten: "Wollt ihr eine Partei werden?" Dabei ist diese Frage nicht ganz unbegründet. Es wäre nicht das erste Mal, dass im krisengeschüttelten Europa aus einer sozialen Bewegung und Außenseiterparteien ein Bündnis entstünde, das in einem kometenartigen Aufstieg das Parlament erobert.

Im Januar 2015 machte die griechische Syriza, die als Partei aus einem Wahlbündnis linker Klein- und Kleinstparteien sowie Organisationen hervorgegangen war, mit ihrem Wahlerfolg europaweit Schlagzeilen; nie schienen sich Straße und Parlament so nah. In Spanien wurde die aus der "Bewegung 15. Mai" hervorgegangene Partei Podemos im vergangenen Dezember drittstärkste Kraft im Parlament; auch die italienische Fünf-Sterne-Bewegung feierte 2013 bei den Parlamentswahlen große Erfolge.

In Frankreich ist die Straßendemokratie bislang jedoch eine Parallelveranstaltung zur Parteiendemokratie geblieben. Weder die "Empörten" noch "Nuit debout" haben es geschafft, sich die Parteienlandschaft zu erschließen und sich in das politische System zu integrieren. Noch viel wichtiger ist: Sie haben es auch nicht versucht. Die linken Parteien geben sich gegenüber der Bewegung ebenso zurückhaltend. Mit Nachdruck erklärte Linksparteichef Jean-Luc Mélenchon, er wolle "Nuit debout" nicht politisch für sich vereinnahmen, sondern er hoffe, von der Bewegung vereinnahmt zu werden. Zugleich ist den Linkspolitikern aber sehr bewusst, dass die Aktivisten sie als "Teil des Systems" verstehen.

Solche Spannungen zwischen sozialen Bewegungen und linken Parteien sind in Frankreich nicht neu: Schon in den 1960er Jahren begleiteten Aktivisten die Debatten um die Teilnahme an Wahlen innerhalb linker Strömungen mit Parolen wie "Élections, trahison" (Wahlen sind Verrat) oder "Élections, piège à cons" (Wahlen sind Idiotenfallen).

"Just a little bit of history repeating"

Überhaupt erinnert die gegenwärtige Situation des linken Lagers in Frankreich an die Zeit nach der Staatskrise 1958, als die IV. Republik endete. Während die Streitpunkte in der Sozialistischen Partei heutzutage vor allem bei der Ausrichtung der Wirtschaftspolitik und dem Umgang mit der Staatsverschuldung in Europa liegen, drehten sich in den 1950er Jahren die parteiinternen Divergenzen der Sozialisten, damals noch Französische Sektion der Arbeiter-Internationale (SFIO), um die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland, vor allem jedoch um die Kolonialkriege in Indochina (1946–1954) und Algerien (1954–1962).

Da die Sozialisten an Regierungen der IV. Republik beteiligt waren und ab 1956 sogar den Regierungschef stellten, stand vor allem die Verschärfung des Algerienkrieges im Zentrum der Kritik: Die Partei wurde als der zentrale politische Verantwortungsträger für die Eskalation gesehen. Die Ohnmacht der Sozialisten, die eine erstarkende algerische Unabhängigkeitsbewegung und die sich radikalisierende französische Rechte nicht mehr unter Kontrolle hatten, sodass sie 1958 schließlich die Machtübernahme von Charles de Gaulle unterstützten, führte politisch zum Scheitern der IV. Republik und zur langen Oppositionszeit der Sozialisten bis 1981.

Zwar würden die Sozialisten heute die Macht nicht freiwillig an ihre politischen Gegner abtreten, dennoch ist die politische Enttäuschung der "abtrünnigen" PS-Politiker vergleichbar mit jener der innerparteilichen Opposition der damaligen SFIO. Deren Vertreter veröffentlichten kurz nach dem Machtantritt de Gaulles einen Appell an ihre Parteifreunde. Darin bezichtigten die Aufrührer ihre Partei, ihre eigenen Ideale endgültig aufgegeben zu haben, und forderten, die Parteispitze auszuwechseln und die "Ehre des französischen Sozialismus" zu retten. In eine ähnliche Richtung gehen die heutigen Versuche enttäuschter PS-Mitglieder, außerhalb der "Mutterpartei" eine neue linke Politik zu verfolgen, die nicht durch Regierungsbeteiligungen und politische Kompromisse verwässert ist.

Ihre Argumente gleichen jenen aus den späten 1950er Jahren: So warf Mélenchon 2008 der Sozialistischen Partei bei seinem Austritt vor, sich verkauft und verraten zu haben, statt eine linke Politik zu verfolgen, und zu einer autoritären Funktionärspartei geworden zu sein. In der Sozialistischen Partei seien keine Debatten mehr möglich, beklagte auch Liêm Hoang-Ngoc, der 2015 aus der Sozialistischen Partei austrat und die Neue Sozialistische Linke gründete. Ähnlich äußerten sich zu Beginn der V. Republik die SFIO-Abweichler um Michel Rocard und Edouard Depreux, die 1960 die Vereinigte Sozialistische Partei (PSU) gründeten.

Diese Partei verfolgte den idealistischen Anspruch, radikale und gemäßigte Kräfte in einer basisdemokratischen Organisation zusammenzuführen, um das "sozialistische Erbe" neu zu definieren und die linke Bewegung moderner und schlagkräftiger aufzustellen. Diese Versuche subsummieren Historiker heute unter dem Begriff der "Neuen Linken".

Zwar erreichte die PSU bei Parlamentswahlen nie mehr als vier Prozent. Sie wurde jedoch rasch zu einem Sammelbecken für frustrierte Sozialisten, die nach dem Zusammenbruch der IV. Republik eine neue Heimat suchten, für Kommunisten, die ihre Partei durch die stalinistische Politik immer mehr diskreditiert sahen, und für Trotzkisten, die Kontakte zu Widerstandsgruppen gegen die französischen "Besatzer" in Algerien pflegten. Marxisten, die trotz Unabhängigkeit von SFIO und Kommunistischer Partei an manchen Grundsätzen des traditionellen Sozialismus festhielten, standen Modernisten gegenüber, die alternative Konzepte der Dezentralisierung und Partizipation entwickeln wollten. Trotz oder gerade aufgrund dieser Differenzen entwickelte die PSU die produktive Dynamik eines "linken Ideenlabors".

Auf diese Tradition berufen sich heute Teile der französischen Linken. Denn in die Gegenwart übertragen, versuchte die PSU die Anhänger der Gruppierungen um abtrünnige Sozialisten wie die Linkspartei und die Neue Sozialistische Linke mit den Aktivisten und Intellektuellen der "Empörten" und von "Nuit debout" zu vereinigen. Von Beginn an setzte sie dabei auf ein Bündnis der enttäuschten linken Kräfte.

Der PSU-Vorsitzende Edouard Depreux forderte auf dem zweiten Kongress der Partei 1962 die Bildung einer "Sozialistischen Front" – und tatsächlich kam es im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 1965 zu einer breiten linken Allianz: Die SFIO, die Radikale Partei, die Kommunistische Partei und die PSU unterstützten mit François Mitterrand einen gemeinsamen Kandidaten, der mit diesem Rückenwind einen fulminanten Wahlkampf gegen Charles de Gaulle führen konnte. Das nach der Wahlniederlage daraus entstandene Bündnis der Demokratischen und Sozialistischen Linken hielt allerdings nicht sehr lange, und die PSU ging später teils in der "traditionellen" Linken, teils in den außerparlamentarischen Bewegungen nach 1968 auf, bis sie sich 1989 schließlich auflöste.

Doch der Nimbus der "Neuen Linken", den die PSU verkörpert, inspiriert nach wie vor jene, die die Linke in Frankeich einen möchten: So wählte Liêm Hoang-Ngoc für seinen PS-Ableger sicher nicht ohne Grund den Namen "Neue Sozialistische Linke". Er sieht sich in der Tradition des PSU-Stars Michel Rocard und verfolgt das hehre Ziel, die gesamten Kräfte links der Sozialistischen Partei zu einen, die Linksfront mit der Kommunistischen Partei zu versöhnen und dem mittlerweile auch gespaltenen grünen Lager die Hand zu reichen. Im März 2016 veröffentlichte die Neue Sozialistische Linke in der Tageszeitung "Libération" einen Aufruf zur Unterstützung des "Kandidaten der Vernunft" – Jean-Luc Mélenchon. Eine hinter ihm vereinte Linke könne die Sozialisten im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen überholen und im zweiten Wahlgang gegen Le Pen triumphieren. Doch das Ziel, Le Pen von links zu verhindern, ist aufgrund der Vielzahl der Kandidaten im linken Lager in weite Ferne gerückt.

Dass die Abweichler der Neuen Sozialistischen Linken nicht gleich zur Linkspartei wechselten, ist nicht ungewöhnlich, wenn man sich die Spaltungstradition der Linken in Frankreich vergegenwärtigt. Damals wie heute scheinen jene, die die Linke einen wollen, deren Spaltung voranzutreiben.

ist promovierte Historikerin und arbeitet als freie Journalistin und Autorin in Berlin. E-Mail Link: sanne.goetze@gmx.de