Gewaltmassen. Zum Zusammenhang von Gruppen, Menschenmassen und Gewalt
Die Gewaltausbrüche während der Ersten-Mai-Demonstration in Kreuzberg 1987, die Pogrome gegen Flüchtlinge in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda Anfang der 1990er Jahre, die Unruhen in Los Angeles 1992, die Ausschreitungen in französischen Banlieues 2005, die Jugendkrawalle in London und anderen englischen Städten 2011 oder die massenhaften sexuellen Übergriffe in der Kölner Silvesternacht 2015/16 finden deswegen eine so große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, weil die meisten Beobachterinnen und Beobachter mit solchen Gewaltexzessen nicht rechnen und entsprechend überrascht sind.[1] Sicherlich: In der Vergangenheit waren aus der Masse heraus verübte Gewaltdelikte im Rahmen von Volksfesten, Demonstrationen oder Hinrichtungen in Europa eher die Regel als die Ausnahme, und in einigen afrikanischen Großstädten und lateinamerikanischen Favelas kommen solche gewalttätigen Ausschreitungen etwa in Form von Lynchjustiz oder Übergriffen gegen ethnische Minderheiten auch heute noch häufiger vor – aber in Staaten mit einem funktionierenden Polizeiapparat und einem intakten Justizsystem sind derartige Vorfälle eher selten. Aber gerade, weil solche durch eine große Anzahl von Personen mehr oder minder spontan ausgelösten Gewaltausbrüche in modernen Staaten die Ausnahme sind, ist der Bedarf nach Erklärungen besonders groß. Wie lässt es sich erklären, dass plötzlich Hunderte von Personen gegen Gesetze verstoßen, indem sie andere mit Steinen und Brandbomben bewerfen, sie totzuschlagen versuchen oder sexuell nötigen?Die Massenmedien – aber teilweise auch die Wissenschaft – identifizieren in der Regel die sozialstrukturellen Merkmale der an den Gewaltakten beteiligten Täterinnen und Täter. Bei den Ereignissen der Kölner Silvesternacht werden zum Beispiel die nordafrikanische Herkunft, der Migrationshintergrund und das jugendliche Alter hervorgehoben.[2] Oder es wird wie bei den Pogromen in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda auf das männliche Geschlecht, den erheblichen Alkoholkonsum oder die rechtsextreme Radikalisierung von sogenannten Wendeverlierern verwiesen.[3] Man hofft, eine Erklärung für solche überraschenden Gewaltexzesse zu finden, wenn man nur gut genug den familiären Hintergrund, die ethnische Herkunft, die Bildungsgeschichte, die ökonomische Situation und die Rauch- und Trinkgewohnheiten der Täter untersucht. An die identifizierten sozialstrukturellen Merkmale der Täter lagern sich in der öffentlichen Debatte häufig Vorurteile gegen ganze Bevölkerungsgruppen an. Die sozialstrukturellen Merkmale der Täter werden dann mehr oder minder explizit einem Bevölkerungssegment zugeschrieben, dem die Täter entstammen: Im Falle der Kölner Silvesternacht betraf das beispielsweise pauschal "die Nordafrikaner", im Falle der Pogrome von Rostock und Hoyerswerda "die Ossis".
Dabei wird häufig übersehen, dass die sich mehr oder weniger spontan ausbildenden Situationen von Massengewalt vielfältige Ähnlichkeiten aufweisen. Bei einer näheren Betrachtung der bereits erwähnten oder auch anderer Gewaltereignisse ist rasch zu erkennen, dass sich die Täter sozialstrukturell zwar erheblich unterscheiden, die Formen, wie sich die Gewalt entwickelt, aber vergleichbar sind.[4]
Phänomen der Gewaltmassen
Der Sozialpsychologe Gustave Le Bon hat darauf hingewiesen, dass sich in größeren Menschenansammlungen eine Eigendynamik entwickeln kann, aus der heraus es zu vielfältigen Formen von Übergriffen kommen kann.[5] Demzufolge werden die einzelnen Personen von der in der Masse entstehenden Dynamik förmlich mitgerissen, ja sie scheinen sich in einem nahezu rauschartigen Zustand zu befinden. Der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti, der in der Tradition Le Bons über das Verhalten von Massen geschrieben hat,[6] berichtet in seinen Erinnerungen, wie er selbst bei Arbeiterdemonstrationen nach dem Ersten Weltkrieg "zu einem Teil der Masse" wurde, "vollkommen in ihr aufging" und "nicht den leisesten Widerstand" gegen das verspürte, was die Masse unternahm.[7]Die Überlegungen von Le Bon und Canetti zu einer sich aus der Masse heraus entwickelnden Gewalt können – ohne dass dies in den Sozialwissenschaften bisher ausreichend markiert wurde – als Vorläufer neuerer Gewaltforschungen betrachtet werden, die die Eigendynamik bei der Gewaltanwendung herausstellen.[8] Im Mittelpunkt dieser Forschung steht nicht mehr die instrumentell eingesetzte Gewalt, mit der klare, vorher definierte Ziele erreicht werden sollen, sondern die sich expressiv äußernde Gewalt, die sich häufig eher spontan entwickelt. Es geht bei dieser Art von Gewaltanwendung weniger um die "bedächtige, abgebremste Klugheit eines Handwerkers der Gewalt", sondern um den eskalierenden Gewaltakt, in dem nach "Blut gelechzt wird".[9]
Nun führen Massenansammlungen von Personen nicht automatisch zu Gewaltexzessen. Die meisten Rockkonzerte, Demonstrationen oder Volksfeste verlaufen, abgesehen von einzelnen meist isolierten Schlägereien oder sexuellen Übergriffen, gewaltfrei. Es gibt aber in Menschenmengen Mechanismen, die Gewaltanwendung befördern. Massen seien – so der Tenor in der Forschung über Massengewalt – mit Emotionen wie Angst, Anspannung, Verachtung und Wut aufgeladen, die sich in Gewaltakten entladen können. Werden diese nicht sofort unterbunden, scheint plötzlich in der Masse vieles möglich zu sein, was sonst verboten ist. Die Aufhebung der Normalität in der Masse verleitet auch Personen, die normalerweise nicht zu Gewalt neigen, Steine zu werfen, andere zu begrapschen oder zu schlagen.[10]
Kollektive Gewalthandlungen ereignen sich häufig dann, wenn es bei Massenansammlungen ein kleines Zeitfenster gibt, in dem eine größere Gruppe von Menschen den Eindruck gewinnt, dass die staatlichen Organe Recht und Ordnung nicht durchsetzen können. Das Gemeinsame der Übergriffe in Köln, der Krawalle zum Ersten Mai in Kreuzberg, der Unruhen in Los Angeles und der rassistischen Pogrome gegen Flüchtlinge in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda besteht somit darin, dass es bei all diesen Ereignissen einen Punkt gegeben hat, an dem die Masse der Anwesenden realisierte, dass Gewalttaten nicht unmittelbar unterbunden und geahndet werden. Insofern wird verständlich, warum solche Gewaltausbrüche – anders als zum Beispiel Mafiamorde, Wirtshausschlägereien oder Vergewaltigungen in der Ehe – immer auch mit einem Versagen der Polizei zu tun haben.[11]
Die Schwäche der frühen Forschungen über Massengewalt war jedoch, dass sie Massen als ein weitgehend amorphes Gebilde betrachteten. Nur sehr begrenzt hat man sich dafür interessiert, welche Rolle persönliche Beziehungen in Massen spielen, wie sich die Massen intern strukturieren und wie sich Normen wenigstens kurzzeitig in Massen stabilisieren. Schaut man sich die aus der Masse heraus entstehende Gewalt jedoch näher an, dann handelt es sich in den meisten Fällen nicht um eine vollkommen anonyme Masse, in der alle Personen einander unbekannt sind. Vielmehr fällt auf, dass es auch innerhalb von Massen "soziale Verdichtungen" gibt, die schon vorher existiert haben und die für die Stabilisierung der Gewaltanwendung aus der Masse heraus eine wichtige Rolle gespielt haben.