Mediale Inszenierung von Amok und Terrorismus
Besonders gravierende Formen von Gewalt wie etwa Amokläufe, School Shootings[1] oder Terroranschläge werden in der deutschen Forschung als "hochexpressive Gewalttaten" bezeichnet.[2] Sie treten in der Regel in Form von zielgerichteten Gewalthandlungen auf und entstehen somit nicht impulsiv oder gar zufällig. Vielmehr haben sie ihren Ursprung zumeist im Erleben eines subjektiv belastenden Missstandes, der zu intensiven Gewaltfantasien führt. Diese münden in eine geplante Gewalttat, um den vom Täter oder der Täterin als schwerwiegend wahrgenommenen Missstand zu beseitigen. Bei einem solchen kann es sich zum Beispiel um psychische Verletzungen, um scheinbare gesellschaftliche Probleme oder um den unerfüllten Wunsch nach subkultureller Anerkennung handeln.Vor allem wenn hochexpressive Gewalttaten im eigenen Land erfolgen, sind sie für Tage oder gar Wochen das beherrschende Thema der Medien. Auch öffentlich-rechtliche Sendeanstalten beschränken sich dabei meist nicht auf eine sachlich-distanzierte Darstellung des Vorfalls und seine komplexen Entstehungsbedingungen. Vielmehr wird die Berichterstattung mit einer Flut aus emotionsbetonten Bildern und Videos über Täter und Tat begleitet. Andere Nachrichten treten dann für kurze Zeit in den Hintergrund, da der Nachrichtenwert des Attentats überwiegt. Häufig ist gerade diese multimediale Präsenz ein Kernziel des Täters. Dem wird durch die intensive Berichterstattung und Verbreitung der Täterabsichten willfährig entsprochen. Noch schwerwiegender: Eine solche Form der Medienberichterstattung hat unter bestimmten Voraussetzungen einen starken Einfluss auf das Entstehen von Nachahmungstaten. In diesem Beitrag beschäftigen wir uns einerseits mit den Ursachen für solche medieninduzierte Nachahmungstaten und andererseits mit Möglichkeiten, ihr Entstehen durch eine verantwortungsbewusste Berichterstattung einzuschränken.
Nachrichtenwert extremer Gewalttaten
Hochexpressiven Gewalttaten wird generell eine hohe mediale Bedeutung beigemessen. Sie erfüllen gleich mehrere inhaltliche Faktoren, anhand derer Journalistinnen und Journalisten die Relevanz für ihre Berichterstattung bestimmen. Als zentral für die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit einer Veröffentlichung wurden von den Kommunikationswissenschaftlern Pamela Shoemaker und Akiba Cohen zum einen der Grad der Devianz und zum anderen die soziale Signifikanz benannt. Devianz wird durch das Abweichen von gesellschaftlichen Normen erfüllt, wie beispielsweise durch Konflikte und Kontroversen, während soziale Signifikanz durch das Ausmaß bestimmt wird, in dem das Ereignis Einfluss auf das persönliche Leben und die Gesellschaft haben kann.[3] Je mehr ein Ereignis also von der allgemein akzeptierten Norm abweicht und je größer die tatsächlichen oder befürchteten Auswirkungen auf das eigene Leben und die Gesellschaft sind, desto höher wird der "Wert", der einer Nachricht von Medienschaffenden zugeschrieben wird – und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie an prominenter Stelle verbreitet, öfter wiederholt und länger weiterverfolgt wird.Zielgerichtete Gewalttaten wie der Amoklauf von München sowie die Terroranschläge in Würzburg und in Ansbach im Juli 2016 erfüllen ebendiese Bedingungen. Die Täter brechen auf extreme Weise allgemein akzeptierte Normen und schaffen eine Atmosphäre der Unsicherheit. Gesellschaftlich äußert sich das derart gestörte Sicherheitsgefühl in dem Ruf nach mehr Überwachung und Polizei. Die hierbei drohenden Einschränkungen der persönlichen Freiheit und Veränderungen der politischen Einstellung breiter Bevölkerungsgruppen haben mithin auch Einfluss auf das persönliche und gesellschaftliche Leben. Somit besitzen die Taten sowohl Merkmale hoher Devianz als auch hoher sozialer Signifikanz. Der Nachrichtenwert extremer Gewalttaten ist also per se sehr hoch.
Dies wird insbesondere im Rahmen terroristischer Anschläge deutlich, deren explizites Ziel ja gerade die umfassende Verängstigung der Gesellschaft zur Erreichung politischer Ziele ist: Terrorismus ist damit auch als eine Kommunikationsstrategie zu sehen. Für diese ist nicht allein der Bericht über die Tat an sich relevant, sondern vor allem die Anschlusskommunikation über ihre Konsequenzen.[4] Bei einem isolierten Bericht über das Ereignis darf es für die Terroristen nicht bleiben, schreibt die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel: "Ohne die Bilder in den Medien gibt es keine Bilder in den Köpfen der Menschen (…) Und wenn es die nicht gibt, verfehlt der terroristische Anschlag einen wesentlichen Teil seines Zwecks."[5] Um die essenzielle Bedeutung der Berichterstattung für diese Form des Terrorismus hervorzuheben, verlieh die Politikwissenschaftlerin Brigitte Nacos solchen Anschlägen den Namen "mass-mediated terrorism".[6]
Bilder als wichtiges Instrument
Damit ist gleichzeitig ein dritter Faktor benannt, der für weitreichende Berichterstattung und damit für den Erfolg des Terrorismus von entscheidender Bedeutung ist: Neben Devianz und sozialer Signifikanz ist die Visualität des Ereignisses unabdingbar. Videos und Bilder der Täter ermöglichen es ihnen, ihre Botschaften über die Medien an die Gesellschaft als ihre Zielgruppe zu transportieren. Zugleich erhöhen sie damit die Wahrscheinlichkeit, dass die Medien der Tat noch größere Aufmerksamkeit schenken.Aus Sicht von Terroristen besonders effektiv ist das Bereitstellen von authentischem "Tätermaterial". Da die Redaktionen unter enormem Konkurrenzdruck arbeiten, ist für sie der Zugang zu solchen Informationen von großer Bedeutung. Wenn der Täter ihnen fertig ausformulierte Motive und Narrative zur Verfügung stellt, dann kann ihnen eine möglichst schnelle – und somit oft ungenügend gefilterte – Veröffentlichung dieses Materials einen Vorteil im medialen Rennen geben.
Zahlreiche Täter produzieren Bekennerschreiben, Videos und möglichst schockierende Bilder, die sie an die Medien weiterreichen.[7] Dabei weisen sie mitunter noch darauf hin, dass sie sich direkt an die Medien wenden müssen, weil sonst die Gefahr einer Zensur durch die Sicherheitsbehörden bestehe. Eine Rechtfertigungsstrategie zur Nutzung der Täterpropaganda wird auf diese Weise gleich mitgeliefert. Diese professionelle Manipulation klassischer Medien zeigt sich auch in der Beachtung des richtigen Timings und der optimierten Adressierung.[8] Die Kommunikationswissenschaftler Klaus Beck und Thorsten Quandt sprechen in diesem Kontext vom "‚Bedienen‘ von Nachrichtenwerten, Medienschemata und -frames".[9] Damit wird deutlich, in welch hochproblematische Rolle die Medien hier geraten (können) – nämlich, wenn sie sich durch die Übernahme der Erklärungen der Täter ungewollt zu Komplizen machen:[10] Das Verhältnis zwischen Medien und Terroristen nimmt dann fast symbiotische Züge an.[11]