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Bullshit. Weder Wahrheit noch Lüge | Wahrheit | bpb.de

Wahrheit Editorial Verlorene Wirklichkeit? An der Schwelle zur postfaktischen Demokratie "Wahres Wissen" und demokratisch verfasste Gesellschaft Lügen und Politik im "postfaktischen Zeitalter" Bullshit. Weder Wahrheit noch Lüge Kleine Geschichte des Faktenchecks in den USA Bilder und "historische Wahrheit" Wahrheit. Ein philosophischer Streifzug

Bullshit. Weder Wahrheit noch Lüge

Tobias Hürter

/ 14 Minuten zu lesen

"Lügenpresse", rufen die Demonstranten der Pegida. Über ein "postfaktisches Zeitalter" und "alternative Tatsachen" schreiben die Autoren der Feuilletons. Und beide meinen das Gleiche, nur umgekehrt: Die jeweils andere Seite verbiege und verzerre die Wahrheit, und sie selbst müssen die Wahrheit verteidigen. Jeder glaubt zu wissen, was Sache ist, allseits erheben sich belehrende Zeigefinger. Selten war die Wahrheit so umstritten. Selten hatte sie so viele Fürsprecher und schien doch so bedroht. Manche ihrer Möchtegernretter sehen das Heil im Faktencheck, andere wollen die sozialen Medien regulieren.

Die derzeitige Wahrheitskrise wird nicht so einfach zu lösen sein. Um in einer solchen Situation Klarheit zu schaffen, empfiehlt es sich, von vorn anzufangen, bei den grundsätzlichen Dingen, etwa bei der Frage nach den richtigen Begriffen, um die Situation zu beschreiben und zu verstehen. Das ist eine Frage für Philosophen, denn Klärung und Schärfung von Begriffen gehören zu ihren Kernkompetenzen. Seit mehr als zwei Jahrtausenden beschäftigen sie sich mit dem Wesen der Wahrheit. Sie denken über Wahrheit und Moral nach, stellen Theorien der Wahrheit auf, definieren Wahrheitsprädikate und Wahrheitsbedingungen. Bis vor ein paar Jahren war der Wert der Wahrheit unbestritten. Wer sie kannte, hatte Macht und Wissen. Dieser Zusammenhang löst sich offenbar auf. Heute hat Macht, wer Meinung und Stimmung fabriziert.

Einen Schlüsselbegriff zum Verständnis dieser Entwicklung prägte in den 1980er Jahren der Philosoph Harry Frankfurt: Bullshit. Natürlich hat Frankfurt das Wort "Bullshit" nicht erfunden, aber er schärfte den Kraftausdruck zu einem philosophischen Fachbegriff. Bullshit ist Gerede, bei dem es dem Sprecher egal ist, ob es stimmt. Im Unterschied zum Lügner versuchen Bullshitter nicht, anderen gezielt eine Unwahrheit einzureden. Wahr oder unwahr, das kümmert sie wenig. Sie wollen Eindruck schinden. Bullshit kann harmlos und sogar unterhaltsam sein, aber in großen Mengen ist er schädlich und sollte enttarnt werden. Das Ausmaß und die Vielfalt des Bullshit scheinen unermesslich. Vermutlich wurde noch nie so viel Bullshit produziert wie heute.

Wenn es stimmt, dass die Menschheit dabei ist, in eine Ära des Bullshit einzutreten, dann wäre das eine Tragödie. Von den sokratischen Philosophen über die mittelalterlichen Scholastiker wie Thomas von Aquin, die Denker der Renaissance wie Galileo Galilei und Leonardo da Vinci, die wissenschaftlichen Pioniere der Royal Society in London bis zu den großen Philosophen und Naturforschern der Aufklärung, allen voran Immanuel Kant, erkennt man eine über die Jahrtausende anhaltende Bemühung, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Sollten all diese Anstrengungen vergeblich gewesen sein? Gewinnt zum Schluss doch der Blödsinn? Wird die Epoche der Aufklärung eines Tages nur noch eine Fußnote in der europäischen Kulturgeschichte sein? Eine kurze Erwärmung des Verstandes zwischen zwei Eiszeiten?

Eindrückliche Beliebigkeit

Bullshit wird nicht in der Absicht geäußert, etwas zu erklären. Er soll seine Adressaten nicht informieren, sondern Eindrücke in ihnen wecken. Bullshit ist ein Affront gegen die Adressaten, die ja meist zuhören, um etwas zu erfahren, und nicht, um bequatscht zu werden. Doch der angerichtete Schaden ist noch viel größer: Der Bullshitter untergräbt die Grundlagen der zivilisierten Kommunikation. Denn Verständigung zwischen Menschen funktioniert nur, wenn diese sich – zumindest meistens – um die Wahrheit über die Welt bemühen, in der wir leben. Würden wir dauernd Bullshit reden, würde die Bedeutung der Worte und Sätze, die wir sprechen, erodieren.

Würden wir uns zum Beispiel nicht mehr darum kümmern, ob das, was wir als "grün" bezeichnen, wirklich grün ist, würde das Adjektiv "grün" nichts mehr aussagen. Es könnte grüne Dinge benennen und rote und farblose – alle Dinge. Ein einzelner Mensch, der noch Wert auf die richtige Verwendung des Attributs "grün" legte, wäre verloren in der allgemeinen Beliebigkeit. Bullshit ist also ansteckend, er ist nicht nur selbst nichtssagend, sondern raubt auch Äußerungen, die eigentlich sinnvoll wären, ihre Aussagekraft.

Bullshitverdacht kommt zum Beispiel auf, wenn von der "Strafverfolgungsvorsorge" die Rede ist. Dieser Ausdruck gehört zum Genre der "Gefahrenabwehr" und hat sich in den vergangenen Jahren nicht nur in der Politikersprache, sondern auch im Juristendeutsch etabliert. Dagegen kann doch niemand etwas haben: Gefahren abwehren, Straftaten verhindern, bevor sie begangen werden; gegen manche Maßnahmen, die hinter diesen Begriffen stecken, jedoch durchaus: Es geht um Videoüberwachung, um die Sammlung von Verbindungs-, Bewegungs- und biometrischen Daten – um Maßnahmen also, die auch in die Grundrechte unbescholtener Bürgerinnen und Bürger eingreifen, ohne dass erwiesen wäre, dass sie tatsächlich Straftaten verhindern.

Die Menge an solchem Ein-Wort-Bullshit ist so überwältigend, dass hier nur drei weitere Beispiele angeführt seien: "Verfassungsschutz" als Bezeichnung für eine staatliche Organisation, die zum Schutz der Verfassung offenbar immer wieder die von der Verfassung garantierten Rechte auf die Privatheit von Fernkommunikation und die Unversehrtheit der eigenen Wohnung beugen muss; "Exzellenzinitiative" als Bezeichnung für den aus der Not geborenen Plan, bei der Verteilung des knappen Budgets für Hochschulen einige wenige zu bevorzugen, weil es nicht für alle reicht; "Biosprit" als Bezeichnung für herkömmliches Benzin, dem ein geringer Anteil pflanzlichen Brennstoffs aus meist nichtbiologischem Anbau beigemischt wurde.

Mangel an Wahrhaftigkeit

Bullshitter, wie Frankfurt sie versteht, gerieren sich selbst als Überbringer der Wahrheit, obwohl gerade das nicht ihr Ansinnen ist. Vielmehr sind sie ihrem Wesen nach Blender, die mit ihrer Rede die Einstellungen derer beeinflussen wollen, zu denen sie sprechen. Bullshit entsteht zwar aus einem Mangel an Wahrhaftigkeit. Eine sachlich falsche Aussage ist aber nicht gleich Bullshit, sondern kann je nach Wissensstand und Absicht des Sprechers Irrtum, Lüge oder Bullshit sein: Wer dabei glaubt, die Wahrheit zu sagen, jedoch falsch liegt, irrt. Wer seinem Gegenüber gezielt und bewusst Falsches erzählt, lügt. Wem es gleich ist, ob das, was er sagt, stimmt oder nicht, und einfach nur Eindruck schinden und Stimmung machen will, redet Bullshit. Eine laxe Haltung zur Übereinstimmung zwischen der Welt und dem Gesagten, wo Sorgfalt angebracht wäre, bringt Bullshit hervor.

Bullshit ist in der Regel sozial schwächer sanktioniert als Lügen. Man lässt sich eher belabern als belügen. Wer entdeckt, dass man ihn belügt, wird wütend und fühlt sich hintergangen. Unter Lügenverdacht zu geraten ist der Schrecken jedes Politikers. Bullshit reden dürfen Politikerinnen und Politiker hingegen häufig ungestraft. Es wird sogar weithin von ihnen erwartet, dass sie Phrasen dreschen und Fragen ausweichen. Bullshit gehört zum Repertoire politischer Kommunikation

Aus philosophischer Sicht allerdings ist die Milde gegenüber Bullshit fragwürdig. Einem Lügner liegt an der Wahrheit. Er nimmt sie wichtig, deshalb will er sie verbergen. Zum Lügen gehört es, die Wahrheit genau zu kennen. Oft muss ein Lügner die Wahrheit sogar besser kennen als jemand, der sie ausspricht, denn ein Lügner muss seine Lüge in die Wahrheit einpassen und dafür sorgen, dass sie dem Weltbild seines Gegenübers so weit entspricht, dass dieser die Lüge als Wahrheit akzeptieren kann. Ein Bullshitter hingegen schert sich nicht um die Wahrheit und erstickt sie einfach mit seinem Gerede. Die Welt und sein Bild von ihr sind ihm egal. Er will seine Agenda durchsetzen.

"Der Lügner und der Wahrhaftige spielen dasselbe Spiel auf verschiedenen Seiten", sagt Harry Frankfurt. "Der Bullshitter spielt ein völlig anderes Spiel. Er ist weder für die Wahrheit noch gegen sie, er schert sich nicht um sie." Frankfurt hält Bullshit für eine noch größere Bedrohung unserer Zivilisation als das Lügen. "Es ist wichtig für uns, die Wahrheit zu respektieren. Der Lügner untergräbt nicht unseren Respekt für die Wahrheit, sondern unsere Kenntnis von ihr. Das ist schlecht, aber es unterscheidet ihn vom Bullshitter, der unseren Respekt für die Wahrheit untergräbt." Auf diese Weise zersetzt Bullshit den Wert der Wahrhaftigkeit noch tiefer greifend als Lügen.

Hartnäckiger Blödsinn

Das Wort "Bullshit" ist erst seit dem frühen 20. Jahrhundert in Gebrauch, doch der Kampf gegen den Bullshit währt schon viel länger. Der Urvater der Bullshitjäger ist der Philosoph Sokrates, wie er in den Dialogen Platons auftritt. Sokrates sah sich als gottgesandte "Stechfliege" (myops), mit der Mission, die Athener zu pieksen und zu nerven – stets im Dienst der Wahrheit. Er sprach Menschen auf der Straße an, fragte sie nach ihrem Verständnis von Liebe, Sterblichkeit, Gerechtigkeit oder Wahrheit, erhielt oft eine überzeugte, aber irrige Antwort, fragte freundlich nach und dirigierte sie sanft in die Richtung, in der er die Wahrheit sah. Am Ende waren die Gesprächspartner wacher als zuvor und misstrauischer gegenüber geläufigen, aber haltlosen Reden.

Die Athener dankten Sokrates seinen Dienst an der Wahrheit nicht, im Gegenteil, sie verurteilten ihn zum Tode. "Ihr werdet für den Rest eures Lebens schlafen", warnte Sokrates sie in seiner Verteidigungsrede, "außer wenn Gott in seiner Weisheit euch eine andere Stechmücke schickt". Bei aller intellektuellen Demut rühmte sich Sokrates einer seltenen Art von Weisheit: Er kannte und respektierte die Grenzen seines Wissens. "Damit habe ich mich noch nicht gründlich befasst" – dieser Satz scheint im Sprachschatz vieler Leute zu fehlen. Dabei liegt auf der Hand, dass man sich nicht über alles schlau gemacht haben kann, über das man spricht.

Die Athener entschieden sich gegen Sokrates und die Wahrheit. Heute sind die meisten von ihnen vergessen, und Sokrates ist der berühmteste Philosoph aller Zeiten. Das mag ein Ansporn sein, den Kampf gegen den Bullshit aufzunehmen. Nur wie? Viele hängen am Bullshit wie einst die Athener und wehren sich, wenn jemand ausmisten will. Wenn Bullshit sich einmal im Kopf festgesetzt hat, ist er schwer wieder herauszubekommen. Sachliche Aufklärung allein hilft selten. Im Gegenteil, sie kann den Bullshit noch verfestigen. Denn um etwas zu widerlegen, muss man es wiederholen – zum Beispiel die falsche Behauptung, dass die Nebenwirkungen einer Grippeschutzimpfung schlimmer seien als die Grippe selbst. Psychologen haben in einer Studie beobachtet, dass den Probanden zwar kurzfristig die Widerlegung der Behauptung im Gedächtnis bleibt, langfristig jedoch die zu widerlegende Falschinformation.

Die meisten Menschen fühlen sich von der Flut an Bullshit beeinträchtigt, aber viele tragen auch ihren Teil dazu bei. Manche soziale Situation, zum Beispiel ein Partygespräch, ist ohne Bullshit kaum zu meistern. Eine Ursache dafür mag in der verbreiteten Annahme liegen, jeder Mensch müsse zu jeder Angelegenheit eine Meinung haben. Natürlich ist es unmöglich, sich zu allem eine fundierte Meinung zu bilden. Dazu fehlen uns die Zeit und das Wissen. Daher bilden wir uns einen erheblichen Teil unserer Meinungen voreilig und unwissend, aus einem dumpfen Gefühl heraus. Im Niemandsland zwischen allem, wozu wir uns eine begründete Meinung bilden können, und dem, wozu wir eine Meinung haben wollen, gedeiht der Blödsinn.

Bullshit regiert

Die politische Praxis in einer Demokratie sollte im Idealfall so aussehen, dass im fairen Diskurs Werte verhandelt werden, die den Bürgerinnen und Bürgern dieses Staates besonders wichtig sind, um daraus mehrheitsfähige Entscheidungen im Interesse des Allgemeinwohls abzuleiten. Die Realität sieht allerdings oft so aus, dass Lobbygruppen und mächtige Eliten versuchen, ihre Partikularinteressen durchzusetzen. Die Demokratie ist dann nur noch ein Machtspiel. Aus der Diskrepanz zwischen Ideal und Realität der Demokratie entspringt Bullshit. Die Akteure des Spiels geben vor, den Bürgerinnen und Bürgern zu dienen, obwohl es ihnen tatsächlich nur um Macht und Einfluss geht.

Ein Politiker beispielsweise, der es der Autolobby recht machen möchte und gleichzeitig seine Politik als umweltfreundlich verkaufen will, kann in manchen Situationen gar nicht anders, als Bullshit zu reden. Er kann nicht einfach sagen: "Wir verhindern in der EU strengere CO2-Werte für Autos, damit die deutsche Autoindustrie weiter ungebremst ihre Geländewagen bauen kann." Stattdessen sagt etwa Bundeskanzlerin Angela Merkel 2013 auf der Internationalen Automobilausstellung: "Deutsche Hersteller bieten heute Fahrzeuge an, die effizienter und sparsamer sind als je zuvor. (…) Ich hoffe, dass wir mit der EU zu Regelungen kommen, die Innovationsanreize fördern. (…) Wir sind fest davon überzeugt, dass ökonomische und ökologische Belange zu vereinbaren sind." Das ist offenkundig Bullshit, in dem sich jeder, der oberflächlich zuhört, wiederfinden kann, der Umweltbeflissene ebenso wie der Autofreund.

1999 veröffentlichte Dick Morris, der Berater von Bill Clinton, ein Buch mit dem Titel "The New Prince", in dem er eine Wende in der Politik voraussagte: Dank der digitalen Medien würden die Politiker ihr Informationsmonopol verlieren. Die Bürgerinnen und Bürger könnten sich fortan unabhängig informieren – und würden es auch tun. Daher werde das neue Gebot der Politik lauten: "Wer behauptet, muss beweisen". Morris’ Prophezeiung eines neuen, aufgeklärten Zeitalters in der Politik ist jedoch nicht eingetreten. Fakten spielen in der Politik noch immer nicht die wichtigste Rolle. Nach wie vor geht es mehr darum, wie man etwas sagt, als darum, was man sagt. Glaubt man den Kolumnisten in den Vereinigten Staaten, dann begann mit dem US-Präsidentschaftswahlkampf 2012 das "postfaktische Zeitalter" und kam vier Jahre später im nächsten Wahlkampf zu voller Blüte – und zwar vor allem in Person des späteren Wahlsiegers Donald Trump. Er wurde vielfach des Lügens bezichtigt, doch womöglich wäre es treffender, ihn einen Bullshitter zu nennen.

Der Nachweis ist allerdings nicht leicht zu führen. "Welche von Trumps Behauptungen nicht glaubwürdig sind, ist im Allgemeinen leicht zu erkennen", schreibt Harry Frankfurt dazu, "es ist jedoch um einiges schwerer festzustellen, ob seine eindeutig zweifelhaften Aussagen bewusste Lügen oder nur Bullshit sind". Verfälscht Trump gezielt die Wahrheit, oder schert er sich nicht um sie? Mal so, mal so, aber wann was? Nur manchmal lässt es sich klar unterscheiden. Als Beispiel für Trump’sche Lügen führt Frankfurt die Leugnung seiner Verbindungen zum Ku-Klux-Klan und die verzerrte Darstellung der Gesundheitsreform seines Amtsvorgängers Barack Obama an, als Beispiel für Trump’schen Bullshit dessen Tweet "Die besten Taco-Bowls werden im Trump Tower Grill gemacht. Ich liebe Hispanics!". Letztere beiden Äußerungen "kommen als wenig mehr als heiße Luft rüber", stellt Frankfurt fest. Trump will damit keine substanziellen Aussagen machen, sondern Stimmung, in diesem Fall: gutes Wetter bei den lateinamerikanischstämmigen Wählerinnen und Wählern.

Weniger klar ist die Kategorisierung beispielsweise bei Trumps Ankündigung, unter seiner Präsidentschaft würden Millionen illegaler Einwanderer ausgewiesen werden. Vermutlich war sie Bullshit. Möglicherweise hat er dieses Vorhaben niemals ernsthaft verfolgt, aber das war ihm zum Zeitpunkt dieser Ankündigung gleichgültig. Es ging ihm um Wirkung, nicht um Wahrheit. Das ist allerdings eine Vermutung – zwar eine plausible und begründete. Wir können aber nicht ganz ausschließen, dass Trump damals doch überzeugt war, die massenhafte Ausweisung umsetzen zu können, oder zumindest vorhatte, sie einzuleiten. Darin zeigt sich die besondere Tücke des Bullshit: Er lässt sich oft schwerer identifizieren als Lügen. Der Bullshitcheck ist noch mühsamer als der Faktencheck.

Auch deutsche Wahlkämpfe sind von Bullshit geprägt, wenn auch vielleicht weniger offensichtlich. Der Bundestagswahlkampf 2013 war insofern ein Sonderfall, als SPD-Spitzenkandidat Peer Steinbrück mit einer ausdrücklichen No-Bullshit-Strategie den Erfolg suchte. Er reiste mit einer Veranstaltungsreihe unter dem Titel "Klartext Open Air" durch Deutschland und fiel in Talkshows mit substanziellen Meinungsäußerungen auf. Der Germanist Joachim Scharloth analysierte die Rhetorik der Kontrahenten Merkel und Steinbrück und fand deutliche Unterschiede. Merkel benutzte vor allem Adjektive wie "lieb", "froh", "gemeinsam", "gut" und "interessant", Steinbrück sagte "erkennbar", "finanzpolitisch", "effektiv" und "effizient" und nannte mehr Zahlen. Auffällig oft benutzte Merkel auch Superlative wie "allergrößt", "einzigartig" und "extrem". "Angela Merkel spricht mit mehr emotionaler Emphase", resümierte Scharloth, "Peer Steinbrück hingegen erweckt eher den Eindruck eines kompetenten Experten."

In besagtem Wahlkampf zahlte sich seine Sachlichkeit für Steinbrück nicht aus. Vielleicht beging er den Fehler, den der Kognitionswissenschaftler und Politikberater George Lakoff allgemein Politikern der progressiven Lager ankreidet: "Sie verstehen nicht, wie wichtig Emotionen sind, sie versuchen ihre Emotionen zu verstecken."

Ratschläge zum Bullshitmanagement

Zwar blüht heute allerorten der politische Bullshit. Aber dank Internet und anderen neuen Kommunikationsmitteln ist ihm niemand mehr hilflos ausgeliefert – insofern lag Dick Morris richtig. Vielleicht sind die amerikanischen Faktenchecker und die deutschen Plagiatsjäger Pioniere auf dem Weg zu einer bullshitärmeren Politik. Ein No-Bullshit-Agreement wäre ein Dienst an der Demokratie.

Es muss allerdings Ausnahmen vom Bullshitverbot geben. In bestimmten Situationen ist auch Politikern Bullshit erlaubt, nämlich in Form von Humor. Als ein Journalist während des Präsidentschaftswahlkampfs 2000 von George W. Bush wissen wollte, was der größte Fehler seines Lebens gewesen sei, reagierte dieser mit einem selbstironischen Witz: "Na gut, ich habe dieses wunderbare Tauschgeschäft unterschrieben, Sammy Sosa für Harold Baines." Gelächter im Publikum. 1989, als Bush noch Manager des Baseball-Teams Texas Rangers war, hatte er den schmächtigen und mäßig erfolgreichen Spieler Sosa im Tausch gegen Baines an die Chicago White Sox abgegeben – wo aus Sosa einer der erfolgreichsten Spieler aller Zeiten wurde. Bush hatte "einen der schlechtesten Deals in der Geschichte des Baseball" gemacht. Mit seiner schlagfertigen Antwort zeigte er, dass er das Format hatte, den Fehler einzugestehen.

Politik und Wirtschaft haben etwas Wesentliches gemeinsam: Sie sind Wetten auf die Zukunft. Man wählt einen Politiker nicht nur, weil er seine Arbeit gut gemacht hat, sondern auch, weil man glaubt, dass er sie weiterhin gut machen wird. Man investiert nicht nur in ein Unternehmen, weil es sich gut entwickelt hat, sondern auch, weil man glaubt, dass es sich weiterhin gut entwickeln wird. Es geht um Prognosen, Versprechen und Hoffnungen. In dieser Situation ist es verlockend für Politiker, Bullshit zu erzählen. Sie wollen einerseits klar und verbindlich in ihren Aussagen sowie entschlossen und verlässlich in ihrem Handeln wirken – sich andererseits aber alle Optionen offenhalten. Wer weiß, mit wem man nach der Wahl koalieren muss und wie hoch die Steuereinnahmen sein werden? Durchmogeln mit Bullshit ist die Überlebensstrategie im Machtspiel.

Aber wenn Politiker bullshitten, dann auch, weil sie damit durchkommen. Es liegt an Wählern, Journalistinnen, Bürgerinitiativen und Nichtregierungsorganisationen, diese Strategie zu entlarven. Es gilt, genau hinzuhören und hartnäckig nachzufragen. Was hat er oder sie gemeint? Was bedeutet das genau? Was folgt daraus? Zugleich ist es unabdingbar, sich unabhängig zu informieren. Die technischen Möglichkeiten sind dafür heute besser denn je, aber ihr Potenzial ist noch längst nicht ausgeschöpft.

Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Mit diesen Ratschlägen soll keineswegs einer kalten Technokratenpolitik das Wort geredet werden. Es regieren immer noch Menschen, keine Fakten, Pläne oder Konzepte. Emotionen haben ihren Platz in der Politik. Wie überall, wo Menschen Verantwortung für andere Menschen tragen, geht es auch um Vertrauen und Gefühle. Aber eine emotionalere Sprache muss nicht bedeuten, Bullshit zu reden.

ist stellvertretender Chefredakteur des philosophischen Magazins "Hohe Luft". E-Mail Link: tobias@thuerter.de