Sprache, Kultur, Arbeit? Zur Inklusion neu Zugewanderter durch Bildung
Fluchtbedingte Migration bewegt die europäischen Gesellschaften seit 2015 in einem lange nicht mehr gekannten Maß, und sie formt die deutsche Gesellschaft.[1] Insofern liegen vielfältige Erfahrungen über Chancen und Probleme für die Inklusion neu Zugewanderter in Bildungsinstitutionen vor. Im Folgenden soll jedoch nicht über die Ursachen und die Konsequenzen der Migrationsbewegungen diskutiert werden. Vielmehr wird aus einer bildungsbezogenen Perspektive danach gefragt, wo und wie neu Zugewanderte ihren Ort im deutschen Bildungssystem – und dabei vor allem in die Schule – finden können und vor welchen Herausforderungen die Bildungseinrichtungen infolgedessen stehen. Im Mittelpunkt stehen Fragen der Inklusion und damit der strukturellen Einbindung neu Zugewanderter in Bildungsinstitutionen.Gesellschaftlicher Rahmen für Inklusion durch Bildung
Hintergrund der jüngeren Migrationsbewegungen sind globale Prozesse, die in ihrem Umfang und in ihrer Dynamik als einzigartig bewertet werden. So waren Ende 2016 65,6 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht.[2] In Deutschland wird davon ausgegangen, dass 2015 die Zahl der Einreisenden "bei rund 890.000 Menschen gelegen hatte, von denen ca. 50.000 in andere EU-Staaten weitergereist sein dürften".[3] Seitdem ist, nicht zuletzt wegen der sogenannten EU-Türkei-Erklärung, die Zahl der neuerlich Zuwandernden merklich zurückgegangen.Für die Situation in Deutschland wiederum wurde ermittelt, dass die Altersstruktur der Zugewanderten deutliche Konsequenzen für die Aufgaben der Bildungsarbeit in Deutschland haben wird.[4] Denn unter den im Zeitraum von Januar bis November 2016 insgesamt 702492 nach Deutschland Zugewanderten waren 36 Prozent im Alter zwischen 0 und 17 Jahren (2015: 31 Prozent von 441889 Menschen).[5] Viele dieser Zuwandernden suchen Schutz, weitere Motive wie soziostrukturelle Besonderheiten oder individuelle Wertpräferenzen können hinzutreten.[6] Daraus ergeben sich recht vielfältige Konsequenzen für die deutsche Gesellschaft und die dabei praktizierten Bildungskonzepte.
Internationale Vergleichsstudien wie PISA, TIMSS und IGLU machen seit über eineinhalb Jahrzehnten deutlich, dass das deutsche Bildungskonzept merkliche Schwächen aufweist, da es aufgrund sozialer Unterschiede den Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund bis zum heutigen Tag nicht dieselben Bildungschancen ermöglicht wie jenen ohne Migrationshintergrund.[7] Dass zudem eine erhebliche Zahl von Mädchen und Jungen mit dem erwähnten persönlichen oder familiären Bezug zu Migration nach der Regelschule keine Ausbildung oder ein Studium aufnehmen können, sondern sich im sogenannten Übergangssystem wiederfinden – diejenigen afrikanischer Herkunft gar zu 70 Prozent –, ist darüber hinaus Indiz für eine Bildungspolitik, die ihre Aufgabe einer "Inklusion durch Bildung" nicht angemessen verwirklicht.[8]
Aktuell steht gerade für neu Zugewanderte ein recht heterogenes Bildungsangebot bereit, das grob formuliert drei Ziele zu erreichen versucht: erstens die Vermittlung der deutschen Sprache auf einem Niveau, das eine Verständigung im alltäglichen Umfeld erlaubt; zweitens den Anschluss an die alltägliche Lebensführung der Mehrheitsbevölkerung durch alltagspraktische Kenntnisse und Fähigkeiten; drittens die Vermittlung in Beschäftigung, wozu Praktika, Ausbildungen und unterschiedliche Formen der Erwerbsarbeit gehören.
Einflussfaktoren für die Inklusion in Bildungseinrichtungen
Die Praxis zur Bildung von neu Zugewanderten ist bislang bestenfalls in ersten Ansätzen erhoben,[9] dennoch lassen sich einige wissenschaftliche Publikationen, Erfahrungen mit der Bildungspraxis und Selbstdarstellungen von Bildungsinstitutionen heranziehen, um erste Tendenzen zu beschreiben.[10] Auf der Basis früherer Forschungsbefunde und jüngster Erhebungen zu Geflüchteten in Deutschland "erscheint eine Erwerbstätigenquote von 50 Prozent unter den Geflüchteten nach etwa fünf Jahren realistisch".[11]Zugleich ist bekannt, dass bislang Migrantinnen und Migranten, selbst bei gleichen Leistungen, nicht dieselben Erträge im Bildungssystem[12] oder auf dem Arbeitsmarkt[13] erwarten können. Folglich muss bereits seit geraumer Zeit von einer Diskriminierung zugewanderter Menschen und ihrer Nachkommen im deutschen Bildungssystem sowie auf dem Arbeitsmarkt gesprochen werden.[14] Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass sie nicht primär als Zugewanderte, sondern als soziale Randgruppen benachteiligt werden.[15] Deutlich wird für die Bildungsungleichheit, dass "der Migrationseffekt im Grunde ein sozialer Effekt" ist.[16] Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Bildungsbenachteiligung von Migrantinnen und Migranten als soziale Benachteiligung zu verstehen und "eine deutliche Reduzierung der sozialen Selektivität des deutschen Bildungssystems, und hier speziell der Sekundarstufe" anzustreben.[17]
Hierbei ist einem besonderen Vehikel der Integration Aufmerksamkeit zu schenken: Für die deutsche Sprache betont zum Beispiel die Kultusministerkonferenz im Hinblick auf junge Geflüchtete, dass "gelingende Integration der Kinder und Jugendlichen wesentlich davon abhängt, wie schnell und gut sie die deutsche Sprache erlernen und wie schnell sie in die Regelangebote unseres Bildungssystems aufgenommen werden können".[18] Mit dieser politischen Position korrespondiert eine geläufige schulische Praxis – die Verwendung einer Hochform der deutschen Sprache.[19] Geht man gegenwärtig von einem "monolingualen Habitus"[20] der Schulen aus, der Gepflogenheit also, lediglich eine einzige Sprache für den Unterricht zu nutzen, so wird deutlich, warum auf das Erlernen und Beherrschen dieser deutschen Hochsprache so viel Wert gelegt wird. Denn aufgrund der faktisch gegebenen Verhältnisse in deutschen Schulen wird eine andere als die deutsche Sprache für gewöhnlich kaum Akzeptanz finden; eine Ausnahme können höchstens solche Sprachen bieten, deren sprachliches Renommee höher angesetzt wird.[21]
Zugleich zeigt sich, dass der Beherrschung der deutschen Sprache in allen migrantischen Milieus in Deutschland ein hoher Stellenwert beigemessen wird.[22] Rund 90 Prozent der Geflüchteten geben bei ihrer Einreise in Deutschland an, über keine Deutschkenntnisse zu verfügen. Dies ändert sich allerdings bald: "Von den Geflüchteten, die länger als zwei Jahre in Deutschland waren, beläuft sich der Anteil mit guten oder sehr guten Deutschkenntnissen nach Selbsteinschätzung auf 32 Prozent, mit mittleren auf 37 Prozent."[23]
Deutlich wird, dass die Effekte eines Bildungssystems, das unter anderem durch die starke Betonung (hoch-)sprachlicher Kompetenzen Ungleichheit zuallererst "produziert", durch solche individuellen Anstrengungen allein nicht reduziert werden können. Die offenkundigen Fehler des deutschen Bildungssystems müssen insofern systematisch angegangen werden.