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Eine Charta der Grundrechte für die Europäische Union | Europäische Union | bpb.de

Europäische Union Editorial Europas Größenwahn Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union Eine Charta der Grundrechte für die Europäische Union Der Europäische Gerichtshof: Ein europäisches "Verfassungsgericht"? Die Europäisierung des deutschen Föderalismus

Eine Charta der Grundrechte für die Europäische Union

Karl Albrecht Schachtschneider

/ 25 Minuten zu lesen

Die EU-Charta verfolgt das Ziel, die existenzielle Staatlichkeit der Europäischen Union voranzutreiben. Dabei wird jedoch vergessen, die Meinung der Völker Europas einzuholen.

I. Der undemokratische Oktroi der Grundrechtscharta

Die Staats- und Regierungschefs hatten in Köln am 3. und 4. Juni 1999 und in Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 beschlossen, dass ein Konvent eine Charta der Grundrechte der Europäischen Union erarbeiten solle. In weniger als einem Jahr hat dieser den Entwurf im Auftrag der führenden Politiker Europas erarbeitet. Mitglieder des Konvents waren je ein persönlich Beauftragter der fünfzehn Staats- und Regierungschefs, je zwei Mitglieder der Parlamente der fünfzehn Mitgliedstaaten, fünfzehn Mitglieder des Europäischen Parlaments und je ein Mitglied der Kommission und des Europäischen Gerichtshofs. Roman Herzog wurde mit dem Vorsitz des Konvents betraut. Kein Mitglied des Konvents ist für die Erarbeitung einer Grundrechtscharta vom Volk gewählt worden.

Ohne Rücksicht auf die Anforderungen eines demokratischen Verfassungsgebungsverfahrens sind die Terminierungen wieder einmal die entscheidenden Vorgaben für das Verfahren. Sie nehmen keine Rücksicht auf die Notwendigkeiten, die sich aus der für die große Sache unabdingbaren Beteiligung der Menschen und Völker Europas ergeben. Eine (vermeintliche) Avantgarde von Integrationisten meint das Recht zu haben, den Menschen und Völkern Europas ihren Text oktroyieren zu dürfen, obwohl dieser Text das gemeinsame Leben in Europa langfristig bestimmen, ja Europa schweren Schaden zufügen wird. Der Entwurf ist in keiner Weise ausgereift. Ihm fehlt nicht nur der philosophische Zuschnitt, sondern auch die rechtsdogmatische Durchdringung. Er verbirgt kleine Politik, die dem Zeitgeist verpflichtet ist. Handwerklich ist die Charta nicht gerade das Werk von Meistern, sondern macht eher den Eindruck von Hilflosigkeit.

Die Proklamation der Charta durch den Europäischen Rat verschafft dieser keine Rechtsgeltung, aber eine politische Verbindlichkeit. Falls es zur völkervertraglichen Verbindlichkeit der Charta kommt, um diese in das Primärrecht der Europäischen Union einzufügen, werden die Legislativorgane der Mitgliedstaaten, vor allem die Parlamente, zwar eine rechtliche, aber kaum eine politische Möglichkeit haben, die Charta zu ändern. Der Erfahrung nach sind die Volksvertretungen auf die Integrationsentwicklung ohne wirklichen Einfluss. Sie können nur akklamieren und damit den Verträgen eine demokratische Legitimation geben, die über die Form nicht hinausgeht, also keine demokratische Substanz hat. Die Integrationspolitik ist Regierungssache. So werden den Europäern auch die Grundrechte von ihren Staats- und Regierungschefs verordnet. Dementsprechend ist der Entwurf auch gegen die Bürgerlichkeit der Bürger gerichtet. Vor allem gesteht er den Menschen die Freiheit nicht wirklich zu. Die Obrigkeit gewährt ihren Untertanen Freiheiten und Rechte und verpflichtet sich Grundsätzen. Dass diese der Menschheit des Menschen gemäß sind, obwohl die Menschen, die es angeht, bei der Erarbeitung des Textes übergangen wurden, ist kaum zu erwarten, aber anhand der Texte zu prüfen.

Allein schon das Verfahren, in dem die Charta der Grundrechte für die Europäische Union vorbereitet worden ist und durchgesetzt wird, nimmt ihr die freiheitliche, also demokratische, Legitimation. Ein völkerrechtliches Vertragsverfahren, welches die Zustimmung der Legislative zu dem Grundrechtsvertrag voraussetzt (Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG), wird diesen Mangel nicht (mehr) heilen, vor allem weil die repräsentativen Legislativorgane wegen der Parteienoligarchie nicht mehr demokratisch zu legitimieren vermögen, jedenfalls nicht in Deutschland . Die Abgeordneten folgen meist, ohne sich mit der Sache zu befassen, den Vorlagen ihrer Parteiobrigkeit, zumal in europäischen und sonstigen internationalen Angelegenheiten. Noch immer wird entgegen dem Recht eine eigenständige auswärtige Gewalt, die allenfalls in äußersten Grenzen judiziabel sei, reklamiert , obwohl seit langem Innenpolitik durch Außenpolitik gemacht wird. Ein legitimer Prozess europäischer Verfassungsgesetzgebung setzt voraus, dass die politische Ordnung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union zunächst material demokratisiert wird, dass also die Parteienstaaten republikanisiert, d. h. zur Rechtlichkeit befreit werden. Diese Charta wird ein Oktroi, nicht die gemeinsame Erkenntnis freier Menschen von ihrem Recht.

II. Die Grundrechtslage in der Europäischen Union

Nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG darf Deutschland nur an der "Entwicklung der Europäischen Union zur Verwirklichung eines vereinten Europas" mitwirken, welches u. a. "einen diesem Grundgesetz im Wesentlichen gleichen Grundrechtsschutz gewährleistet". Sowohl das Bundesverfassungsgericht in den Solange-I- und Solange-II-Entscheidungen und vor allem im Maastrichturteil als auch der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung haben entschieden, dass die europäischen Rechtsakte an den Grundrechten der europäischen Mitgliedstaaten, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben, überprüft werden und dass der Wesensgehalt der Grundrechte geachtet wird . Der Gerichtshof hat erklärt, dass er Gemeinschaftsrecht nicht als rechtens anerkennen werde, das mit den Verfassungen der Mitgliedstaaten unvereinbar sei .

Zur Achtung der Grundrechte ist die Europäische Union durch Art. 6 Abs. 2 EUV verpflichtet. Der Grundrechtsschutz gegenüber der integrierten Ausübung der Staatsgewalten der Völker ist somit durch den "kooperativen Grundrechtsschutz" zwischen den mitgliedstaatlichen Grundrechtsgerichten, vor allem den Verfassungsgerichten, und dem Europäischen Gerichtshof der Rechtslage nach gewährleistet . Es bedarf darum keiner eigenständigen Grundrechtscharta der Europäischen Union. Die Praxis der Grundrechte ist eine andere Frage.

Der grundrechtliche Stand soll denn auch nach Art. 53 des Entwurfs nicht eingeschränkt werden. Vielmehr wird er durch Punkt fünf der Präambel bekräftigt und es soll der Schutz der Grundrechte nach Punkt vier der Präambel dadurch gestärkt werden, dass die Grundrechte "in einer Charta sichtbarer gemacht werden". Der europarechtliche Menschenrechtsgehalt der Grundrechte wird durch Punkt fünf der Präambel und durch Art. 53 akzeptiert. Das deutsche Volk bekennt sich jedoch in Art. 1 Abs. 2 GG zu "den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Dieses Bekenntnis ist nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlich. Die Grundrechtsformulierungen des Entwurfs bleiben aber hinter internationalen Menschenrechtserklärungen, insbesondere hinter Menschenrechten der zweiten und dritten Generation, den sozialen und den ökologischen Rechten, zurück. Beispielsweise wird im Gegensatz zu Art. 17 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) kein Recht auf Eigentum, das richtigerweise auch aus Art. 14 Abs. 1 GG folgt , anerkannt. Im Widerspruch zu Art. 23 AEMR ist im Entwurf ein Recht auf Arbeit nicht enthalten. Demgegenüber ist erstmals in der Grundrechtsgeschichte ein Recht auf unternehmerische Freiheit anerkannt. Auch der Grundrechtsstandard des Grundgesetzes wird unterschritten.

Angesichts dessen, dass die Grundrechtsrechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bisher keine verbindliche Textgrundlage hat, wird die Charta sich zum maßgeblichen Text zunächst der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und dann auch der Gerichte der Mitgliedstaaten entwickeln; denn die Charta soll nach Art. 51 Entwurf für "die Organe und Entscheidungen der Union", aber auch für die Mitgliedstaaten "bei der Durchführung des Rechts der Union" gelten. Das "Recht der Union", die vielen Richtlinien und Verordnungen, vor allem aber das primäre Vertragsrecht, etwa die wirtschaftlichen Grundfreiheiten , sind derart in das Recht der Mitgliedstaaten verwoben, dass es nur wenige Lebensbereiche gibt, deren Regelungen nicht vom "Recht der Union" weitgehend bestimmt wären. Insbesondere alles wirtschaftliche Handeln ist unionsgeregelt. Es ist aber ausgeschlossen, Handlungen des Staates nach unterschiedlichen Grundrechtsstandards zu bewerten. Dem steht das Prinzip der Einheit der Rechtsordnung entgegen. Letztlich kommt es für die grundrechtliche Bewährung der Rechtsakte auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs an - zum einen, weil alle Rechtsfragen, die gemeinschaftsrechtliche Probleme aufwerfen, vom Europäischen Gerichtshof in Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV geklärt werden, also zunehmend alle Rechtsfragen, jedenfalls im Bereich der Wirtschaft, zum andern, weil der Europäische Gerichtshof auf die unterschiedlichen Grundrechtsverhältnisse der Mitgliedstaaten keine Rücksicht nehmen kann. Das Prinzip der unionsweiten Einheit des Gemeinschaftsrechts verbietet auch eine grundrechtsbedingte Unterschiedlichkeit der Handhabung der Rechtsakte der Union. Diese aber materialisieren die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten schon jetzt und zunehmend weitreichend und tiefgreifend. Die Grundrechtsrechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wird die Grundrechtspraxis in der Union insgesamt leiten und sich an dem Text der Charta ausrichten. Schon jetzt bewirkt das so genannte Kooperationsverhältnis in der Grundrechtsrechtsprechung zwischen dem Bundesverfassungsgericht in Deutschland und dem Europäischen Gerichtshof , dass der Europäische Gerichtshof die Grundrechtspraxis bestimmt. Das Bundesverfassungsgericht will generell den Wesensgehalt der Grundrechte gegenüber Rechtsakten der Gemeinschaften schützen. Dieser Vorbehalt ist praktisch bedeutungslos, weil er den Vorwurf gegenüber dem Europäischen Gerichtshof voraussetzt, dass dieser generell den Wesensgehalt der Grundrechte missachte . Die Integration des Grundrechtsschutzes hat bereits, auch ohne die Charta, dem Grundrechtsschutz geschadet, weil der Europäische Gerichtshof lediglich ein einziges Mal einen Rechtsakt der Union für grundrechtswidrig erklärt, also ein laues Grundrechtsklima geschaffen hat. Letztlich ist der Grundrechtsschutz doch wie im 19. Jahrhundert Sache der Gesetzgebung und damit abhängig vom demokratischen Niveau des Gemeinwesens. Die Union ist aber demokratisch defizitär . Der Internationalismus schwächt die Menschen- und Grundrechte, vor allem weil er ökonomisch dereguliert und liberalisiert. Grundrechtskultur ist von der Homogenität der Rechtsgemeinschaft abhängig, zumal eine soziale Grundrechtsgemeinschaft . Die Charta wird somit den Verfall der Grundrechte beschleunigen. Die Charta stärkt nicht das Recht, sondern schwächt es. Der Verfall des Rechts ist das Charakteristikum des Integrationismus.

III. Die Grundrechte als Erkenntnisse der praktischen Vernunft

Die Menschenrechte sind gewissermaßen wie die Freiheit mit dem Menschen geboren. Die Grundrechte sind die gesetzliche Form der Menschenrechte, jedenfalls der Wesensgehalt der Grundrechte . Kein Politiker kann den Menschen die Grundrechte gewähren. Diese sind vielmehr menschheitliche Erkenntnisse, die auf Erfahrungen der Menschheit beruhen. Als philosophische Erkenntnisse der für die Menschen richtigen Grundsätze des gemeinsamen Lebens stehen die Menschenrechte nicht zur Disposition des Staates. Es ist Sache der praktischen Philosophie, die Menschen- und Grundrechte zu materialisieren, und Sache der Völker, deren Erkenntnisse verbindlich zu machen. Die Repräsentanten der Parteienoligarchien sind denkbar ungeeignet, die Grundrechte der Menschen zu formulieren, zumal jene dem Gesetz der Negativauslese in den Parteien unterliegen. Die Grundrechte können nur die Vertreter der Völker ausarbeiten. Diese müssen die Besten der praktischen Philosophen sein, die in geeigneten Verfahren von den Völkern ausgewählt werden. Die praktische Philosophie ist Rechtswissenschaft im eigentlichen Sinne. In der Sache ist Politik, wenn sie menschheitlich ist, durchgehend "ausübende Rechtslehre" . Rechtslehre aber ist Erkenntnis des Richtigen für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit auf der Grundlage der Wahrheit .

Dem Entwurf jedoch fehlt die philosophische Fundierung, welche die Aufklärung auf der Grundlage des Christentums geleistet hat und die bestens in der Rechtslehre Kants zu studieren ist. Die entworfene Charta meint, mit ihrem ökonomistischen Liberalismus Europa das Recht für das 21. Jahrhundert geben zu können. Im 19. Jahrhundert war der konstitutionalistische Liberalismus ein großer Schritt zur Freiheit. Heute ist diese Unzeitigkeit nicht zukunftsweisend, denn das monarchische Prinzip ist Vergangenheit. Heute nutzt der Liberalismus den Interessen der Unternehmen. Er macht den Bürgern die Bürgerlichkeit streitig, deren Sache der Staat ist. Res publica res populi. Den Untertanen gesteht er freilich eine erträgliche Obrigkeit zu.

Die Rechtslehre ist schon aus Gründen der philosophischen Erkenntnis der Tradition der Menschenrechte verpflichtet, welche die Erkenntnisse der Menschheit des Menschen zur Sprache bringen; es ist Hybris, Grundrechtstexte schreiben zu wollen, wenn diese nicht auf langer Erfahrung oder zumindest auf ausgiebiger Erörterung beruhen. Der Grundrechtsdiskurs muss alle Menschen, deren Leben von den Grundrechten bestimmt werden soll, und alles Wissen, welches über das gemeinsame Leben der Menschen besteht, einbeziehen. Praktische Vernunft setzt theoretische Vernunft voraus. Republikanische Politiker hätten ihre Texte bestmöglich der Öffentlichkeit zur Kritik unterbreitet, um Hilfe zu erbitten, nicht aber die Auseinandersetzung um die große Politik allein schon durch den Terminplan so gut wie unmöglich gemacht. Ein demokratisches Verfahren ist ein Verfahren bestmöglicher Rechtserkenntnis. Die Öffentlichkeitsarbeit des Konvents hatte allenfalls Alibifunktion - abgesehen davon, dass es eine europäische Öffentlichkeit, eine wesentliche Voraussetzung eines europäischen Verfassungsstaates, nicht gibt. Wie wenig der Entwurf bedacht war, zeigen die schnellen, zum Teil bedeutsamen Änderungen, welche der Entwurf vom 28. Juli in den Texten vom 21. und vom 28. September gefunden hat. Die Menschen und Völker werden durch die Charta, deren Verabschiedung ihr, wie die Grundrechtsgeschichte erweist, langdauernden und schwer abänderbaren Bestand geben wird, eingeengt. Das Procedere zeigt erneut, dass die Politiker Europas in ihrem Integrationseifer keinerlei demokratisches Ethos wahren.

Ein menschenrechtlicher Grundrechtstext muss ein Text großer Worte sein, welche den großen Erkenntnissen der Menschheit des Menschen genügen. Praktizistischer Minimalismus ruiniert eine Charta von Grundrechten. Die Alltagspraxis hat viel Übung darin, die großen Texte auf die Alltagsfragen herunterzubrechen. Aber ein Grundrechtstext darf kein Verwaltungsgesetz sein. Vielmehr soll er, gerade wenn er identitätstiftende Symbolik entfalten will, ein Manifest der großen Werte sein, die angemessen zur Sprache zu bringen sind. Dem widerspricht schon die Menge der Sätze, die der Entwurf benötigt hat, um die Rechte, Freiheiten und Grundsätze der Charta zu formulieren. So viele Grundsätze gemeinsamen Lebens hält die Rechtsordnung nicht bereit. Wer die Praxis der Verfassungsgerichte kennt, weiß, dass nur wenige Grundsätze die Rechtsordnung bestimmen. Vorbildlich ist wiederum die Erklärung von 1789. Die Verfassung besteht aus den Rechtsprinzipien, welche die Menschheit des Menschen ausmachen, welche mit dem Menschen geboren sind, vor allem die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, aber auch aus dem in einem freiheitlichen Gemeinwesen apriorischen Prinzip des Eigentums. Wer außerdem das Leben und die Gesundheit, das elementare Eigentum des Menschen, und das Recht der freien Rede schützt, hat schon alles Wesentliche getan.

IV. Liberalistische statt republikanischer Konzeption

Im Punkt 2 Satz 1 der Präambel kennt der Entwurf der Charta auch die "Freiheit", welche neben den Grundsätzen der "Würde des Menschen", "der Gleichheit und der Solidarität", die zu Recht als "unteilbar und universell" bezeichnet werden, neben den "Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit" genannt wird. In Satz 2 dieses Punktes stellt die Charta "die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet". "Anerkannt" werden nach Punkt sieben der Präambel jedoch "die nachstehend angeführten Rechte, Freiheiten und Grundsätze". Nach dem Kapitel I über die "Würde des Menschen" folgt demgemäß das Kapitel II zu den "Freiheiten". Im Kapitel III wird die "Gleichheit", im Kapitel IV die "Solidarität" und schließlich im Kapitel V und Kapitel VI werden die "Bürgerrechte" und die "Justiziellen Rechte" geschützt. Auch die so genannten Freiheiten des Kapitel II sind meist als "Rechte" bezeichnet. Es sind im Großen und Ganzen die klassischen liberalen Grundrechte der ersten Generation, nicht aber die politische Freiheit, nicht die Freiheit als Autonomie des Willens , nicht die Bürgerlichkeit des Bürgers, nicht die Freiheit als Gesetzgeber. Art. 6 formuliert: "Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit." Mit der Freiheit in dieser Vorschrift dürfte lediglich die Bewegungsfreiheit, die im Grundgesetz in Art. 2 Abs. 1 S. 2 steht, gemeint sein, nicht aber die Freiheit an sich, die große Freiheit. Nach Art. 11 Abs. 2 werden jedoch "die Freiheit der Medien und ihre Pluralität geachtet". Nach Art. 13 sind auch die Kunst und Forschung frei und wird die "akademische Freiheit geachtet". Auch die (neue) unternehmerische Freiheit hat das Wort Freiheit für sich. Sie wird nach der neuesten Fassung des Entwurfs aber nur noch "nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt". Die Freiheiten sind nach dem Entwurfstext der Sache nach Rechte. Die so genannten Bürgerrechte des Kapitels V sind das aktive und passive Wahlrecht zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen (Art. 39 und 40), das "Recht auf eine gute Verwaltung" des Art. 41, und neben dem Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art. 42) und dem Recht, einen Bürgerbeauftragten mit Missständen in der Verwaltung der Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft zu befassen (Art. 43), dem Petitionsrecht (Art. 44) und dem Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz (Art. 46) ist als Bürgerrecht in Art. 45 auch die Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit der Unionsbürger im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geregelt, also eine klassische liberale Freiheit. Die "Bürgerrechte" gehören nicht anders als einige der "Freiheiten", insbesondere "das Recht auf freie Meinungsäußerung" des Art. 11, das Recht des Art. 12, "sich insbesondere im politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen (im Erstentwurf: "staatsbürgerlichen") Bereich auf allen Ebenen frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen" (einschließlich einer Gewerkschaftsfreiheit, die nicht die die Arbeitgebervereinigungen umfassende Koalitionsfreiheit ist), aber auch "das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit" des Art. 10, zur politischen Freiheit, die in den Grundrechtserklärungen der ersten Generation geschützt ist.

Der Entwurf der Charta anerkennt die politische Freiheit in dem Begriff der Willensautonomie, der allein einer Republik entspricht, allenfalls in Punkt 2 der Präambel und verwehrt dieser damit den Grundrechtsschutz. Freilich ist die politische Freiheit durch das Menschenwürdeprinzip geschützt. In den Gundrechtsformulierungen vermag der Entwurf die "Freiheiten" und "Rechte" nicht zu unterscheiden. Die Freiheit ist mit dem Menschen geboren. Sie ist das Urrecht des Menschen, zu handeln, wenn er anderen nicht schadet, wenn er also die Freiheit aller anderen Menschen achtet. Die äußere Freiheit ist eine Einheit mit der inneren Freiheit. Die äußere Freiheit ist die "Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür" . Die innere Freiheit ist die Sittlichkeit, die ihr Gesetz im Kategorischen Imperativ hat. Das Sittengesetz, der Schlüsselbegriff des Grundgesetzes in Art. 2 Abs. 1 GG, von den meisten Interpreten des Grundgesetzes allerdings vernachlässigt, taucht in dem Entwurf der Charta nicht auf, obwohl das Sittengesetz das Prinzip der allgemeinen Freiheit ist. Anstelle dessen verbindet Punkt 6 der Präambel "die Inanspruchnahme dieser Rechte mit Verantwortlichkeiten und Pflichten sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft und den künftigen Generationen". Das ist der Sache nach der Kategorische Imperativ, in andere Worte gefasst - immerhin!

Die Freiheit findet ihre Wirklichkeit in der allgemeinen, dem Recht gemäßen Gesetzlichkeit . Sie ist die politische Freiheit, die Freiheit des Menschen unter Menschen also. Um der Wirklichkeit der allgemeinen Freiheit willen geben sich die Menschen, zum Staat vereint, Gesetze und sichern die Gesetzlichkeit des gemeinsamen Lebens. Diese republikanische Freiheit ist mit dem Begriff der liberté der Erklärung von 1789 gemeint, und diese Freiheit wird durch die verschiedenen Grundrechte, welche man als Freiheitsrechte oder als Freiheiten bezeichnen kann, geschützt. Es ist immer dieselbe Freiheit des Menschen, deren Schutz unterschiedlich gegen Gefährdungen, die sich im Laufe der Geschichte gezeigt haben, geschützt wird. Unterschiedliche Freiheiten eignen dem Menschen nicht, aber es gibt unterschiedliche Rechte und damit auch unterschiedliche Grundrechte. Abgesehen von dem Urrecht der Freiheit und den mit in diesem Urrecht verbundenen Rechten auf freie Rede sowie auf und am Eigentum gibt es nur Rechte, welche ihre Grundlage in der allgemeinen Freiheit haben, weil diese sich in der allgemeinen Gesetzlichkeit verwirklicht, wenn die Gesetze dem Recht genügen. Diese politische Freiheit ist die Würde des Menschen . Sie ist aber in der Charta nicht hinreichend zur Sprache gebracht. Diese politische Freiheit, diese Freiheit des Menschen als Bürger, der mit anderen Bürgern in gleicher Freiheit lebt, nicht individualistisch, sondern sozial, in Brüderlichkeit, meint Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Dort heißt es: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen." Art. 2 Abs. 1 GG hat das gut formuliert: "Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt."

"Freiheiten" und "Rechte" identifiziert ein Liberalismus, welcher die politische Freiheit des Menschen nicht zur Wirkung kommen lassen will, sondern den Staat als Einrichtung der Herrschaft missversteht, der Freiheiten vornehmlich als "Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat" (BVerfGE 7, 198 (204)) entgegengestellt werden. Dementsprechend unterscheidet der Entwurf auch "Freiheiten" und "Bürgerrechte", die er als politische Rechte des Unionsbürgers vorstellt, den er der Sache nach zum Unionsuntertanen degradiert. Wer Freiheiten sagt, rechtfertigt Herrschaft und moderiert diese durch liberale, soziale und politische Rechte. Ein Gemeinwesen, das sich auf die Grundsätze der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit, der Solidarität, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit gründet, ist eine Republik. Eine solche legitimiert keinerlei Herrschaft , sondern verwirklicht Freiheit durch Recht. Konzeptionell verbleibt der Konventsentwurf jedoch bei der Formulierung der einzelnen "Rechte, Freiheiten und Grundsätze", sei es aus dogmatischer Inkompetenz, sei es aus interessierter Inkonsistenz, weitgehend im Konstitutionalismus, der durch das monarchische Prinzip geprägt war. An die Stelle des monarchischen Prinzips ist das Prinzip der Parteienherrschaft getreten. Demgemäß festigt Art. 12 Abs. 2 des Entwurfs erneut (vgl. schon Art. 191 EGV) die politischen Parteien auf der Ebene der Union - ein Artikel, der im Übrigen systematisch zu den "Bürgerrechten" gehört, wenn man schon Freiheiten von Bürgerrechten meint unterscheiden zu müssen.

Freiheit, Grundrechte, Menschenrechte, Grundfreiheiten, Freiheiten, Rechte, Ansprüche sind in einer inkonsistenten Begrifflichkeit nebeneinander gestellt, welche Verwirrung bei den Interpreten und in der Praxis stiften wird. Schwer zu durchschauen, aber sicher folgenreich stuft der Entwurf mit den Verben "garantieren", "schützen", "einhalten", "gewährleisten", "anerkennen und achten", "das Recht auf Achtung haben", "achten", "gewähren können", "niemand darf . . . werden", "verboten sein", "das Recht haben", "frei sein", "die Freiheit haben", "Freiheit anerkennen", "Anspruch haben", "Anspruch auf Schutz haben", "das Recht auf Zugang haben", "sicherstellen", "besitzen" (das Wahlrecht) die Schutzintensität der Freiheiten, Rechte und Grundsätze ab. Ganz unklar bleibt, aus welchen "Grundrechten" überhaupt subjektive Rechte, also Klagemöglichkeiten der Unionsbürger folgen sollen. Die Grundsätze, mit denen etwa der Umweltschutz (Art. 37) und der Verbraucherschutz (Art. 38) sichergestellt werden, gehören wohl nicht dazu. Elementare Prinzipien wie "die akademische Freiheit" (Art. 13) und die "Freiheit der Medien" (Art. 11 Abs. 2) werden lediglich "geachtet", nicht etwa gewährleistet oder gar garantiert oder wenigstens als Recht anerkannt. Ob differenzierte Gesetzesvorbehalte der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten bestehen oder ob in Art. 52 Abs. 1 ein allgemeiner Gesetzesvorbehalt gemacht ist, ist zweifelhaft. Die häufigen grundrechtsimmanenten Gesetzesvorbehalte sprechen dafür, dass die vorbehaltlosen Grundrechte wie die Rechte auf Leben und körperliche und geistige Unversehrtheit uneinschränkbar sein sollen. Freiheiten, die nur gedacht werden, sind ohnehin, auch ohne Gesetzesvorbehalt, nicht wirkungsstark. Nach der in Deutschland praktizierten allgemeinen Grundrechtslehre kann ein vorbehaltloses Grundrecht (nur) zugunsten anderer Gemeinwohlbelange eingeschränkt werden, welche ihrerseits den Schutz des Verfassungsgesetzes genießen .

V. Soziale Rechte

Während die liberalen Rechte in den Kapitel I, II und V eine weitgehende, der Grundrechtstradition verpflichtete Aufnahme in den Entwurf gefunden haben - freilich mit beunruhigenden Einschränkungen wie in Art. 13, der die Freiheit der Lehre, die keinesfalls durch die in der neuen Fassung aufgenommenen Achtung der "akademischen Freiheit" hinreichend geschützt ist, nicht nennt -, hat der Entwurf der Charta die sozialen Grundrechte der zweiten Generation weitgehend verschwiegen, obwohl das Kapitel IV die Überschrift "Solidarität" trägt. Das Sozialprinzip als das Prinzip der Brüderlichkeit , jetzt als Prinzip der "Solidarität" gehandelt, wird entgegen der menschheitlichen Verfassung der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, zu der sich die Präambel bekennt, in kleinen Arbeitnehmerschutzrechten und in herkömmlichen Einrichtungen (schon fragwürdig gewordener) sozialstaatlicher Versicherungssysteme abgetan. Kapitel IV vermeidet die großen sozialen Postulate, welche sowohl in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 als auch in der Europäischen Sozialcharta von 1961, insbesondere aber in dem Internationalen Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte von 1966 enthalten sind. Wenn die Lebensverhältnisse in Europa nach dem neokapitalistischen Entwurf der Grundrechtscharta gestaltet werden, wird die soziale Frage erneut Europa erschüttern. Aber das Sozialprinzip will gar nicht zum Kapitalprinzip passen, dem die Währungsunion (Euro) als geradezu logischer Baustein der Kapitalunion verpflichtet ist. Weil eine echte europäische Sozialunion weder mittel- noch langfristig eine Chance hat, wird das freiheitliche Sozialprinzip schlicht aufgegeben - entgegen den Fundamenten der ebenso christlichen wie humanistischen (Aufklärung!) Kultur Europas, die mit dem (fragwürdigen) Hinweis in Punkt zwei der Präambel auf das "Bewusstsein ihres (sc. der Union) geistig-religiösen und sittlichen Erbes" angesprochen ist. Gegen diese Politik werden Barrikaden errichtet werden.

Vor allem fehlt das Recht auf Arbeit, welches in dreizehn Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (außer Deutschland und Österreich) genannt ist, das die meisten Landesverfassungen Deutschlands kennen und das bei richtiger Lesweise sowohl aus dem Sozialprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG als auch der Eigentumsgewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG folgt . Aufgrund des Rechts auf Arbeit kann eine bestmögliche Beschäftigungspolitik eingefordert werden, wenn auch nicht ein Arbeitsplatz eigener Wahl. Ein Recht auf Arbeit setzt wegen des diesem Recht verpflichteten Beschäftigungszieles eine allein an der Preisstabilität orientierte Politik, welche die Unternehmensinteressen fördern mag, aber die Arbeitnehmerinteressen vernachlässigt, ins Unrecht. Eine Grundrechtscharta, welche die unternehmerische Freiheit anerkennt (Art. 16), aber das Recht auf Arbeit ausspart, verändert die Wirtschaftsverfassung grundlegend. Sie wandelt die marktliche Sozialwirtschaft in eine Markt- und Wettbewerbswirtschaft, die der "globalen Revolution des Kapitals" keine Steine in den Weg legen will.

Zur Anerkennung der Arbeitnehmer als Miteigentümer der Unternehmen schreitet die Charta nicht fort, obwohl die Unternehmen genauso das Eigentum der Arbeitnehmer sind wie das der Anteilseigner . Allemal das Arbeitsverhältnis ist ein Eigentum des Arbeitnehmers. Das Arbeitsverhältnis gibt dem Arbeitnehmer die Möglichkeit, aus eigener Kraft zu leben. Es ist sein Eigenes, das in Deutschland etwa im Kündigungsschutz- und im Mitbestimmungs-, aber auch im Betriebsverfassungsrecht rechtlich anerkannt ist und anerkannt werden muss. Nach Art. 27 muss für die "Arbeitnehmer oder ihre Vertreter" "auf allen Ebenen eine rechtzeitige Unterrichtung und Anhörung in den Fällen und unter den Voraussetzungen gewährleistet sein, die nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehen sind". Die unternehmerischen Entscheidungen betreffen das Eigentum der Arbeitnehmer am Unternehmen, nämlich ihren Arbeitsplatz. Die unternehmerische oder auch nur die betriebliche Mitbestimmung ist nicht gewährleistet, obwohl sie in Deutschland zu den Arbeitnehmerrechten gehört, für welche die Gewerkschaften jahrzehntelang gekämpft haben. Dafür gibt es das Recht auf Zugang zu einem "unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst" (Art. 29), gegenüber dem Menschenrecht auf Arbeit ein Hohn für das Millionenheer von Arbeitslosen. Ein Aufschrei der Gewerkschaften war nicht zu hören.

Die Arbeitnehmer werden in dem Kapitel IV, das "Solidarität" verspricht, nur in kleinen Rechten geschützt. Sie sollen human behandelt werden, nämlich Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, freilich nur "nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten" (Art. 30), Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen, auf Begrenzung der Höchstarbeitszeiten, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub (Art. 31) und auf Mutterschafts- und Elternschutz, um das Familien- und das Berufsleben in Einklang bringen zu können (Art. 33 Abs. 1), haben. Art. 32 verbietet die Kinderarbeit und schützt die Jugendlichen vor allem vor "wirtschaftlicher Ausbeutung".

Dem entspricht es, dass auch das "Eigentumsrecht" des Art. 17 auf den Bestands- und Gebrauchsschutz des Eigentums reduziert wird, während die Menschenrechtstexte (Art. 17 AEMR) und, wiederum bei richtiger Lesweise, auch das Grundgesetz ein Recht auf Eigentum gewährleisten . Frei sind die Menschen nur, wenn sie selbständig sind; denn nur wer selbständig ist, ist der Autonomie des Willens, also der politischen Freiheit, fähig (Kant). Dementsprechend hat jeder ein Recht darauf, dass die Eigentumsordnung allen das erforderliche Eigentum gewährleistet. Die Eigentumsordnung muss dem Sozialprinzip genügen, also, wenn man so will, solidarisch sein. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, welche Art. 14 Abs. 2 GG ("Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen") klar formuliert, nennt der Entwurf der Charta nicht, obwohl der Europäische Gerichtshof eine soziale Grundrechtslehre der Gemeinschaftsverpflichtetheit praktiziert . Eine liberalistische Stärkung des Privatheitsprinzips würde die funktionale Staatlichkeit der Mitgliedstaaten entgegen deren Verfassungsgesetzen relativieren, etwa die Verwirklichung des Sozialprinzips, zumindest in Deutschland ein Fundamentalprinzip , das nicht zur Disposition der Integrationspolitik steht. Eine europäische Grundrechtscharta kann rechtens nicht vom Freiheits- zum Herrschaftsprinzip und auch nicht vom Sozial- zum Individualprinzip wechseln. Jedes Verfassungsgesetz muss die Verfassung der Menschheit des Menschen wahren.

VI. Auf dem Weg zum Verfassungsstaat Europäische Union

Ein Grundrechtstext ist klassischer Bestandteil eines Verfassungsgesetzes, welches ein Volk zum Staat verfasst. Außerdem regelt ein Verfassungsgesetz die Ziele, Aufgaben und Befugnisse eines Staates und die Organisation des Staates, welche gewaltenteilig sein muss, um einer Verfassung der Freiheit und des Rechts zu genügen. Die organisationsrechtliche Verfassung (im funktionalen Sinne) enthalten die primärrechtlichen Verträge der Union, vor allem der Vertrag über die Europäische Gemeinschaft. Dennoch sind diese Verträge im Gegensatz zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs und einer früheren, inzwischen nicht wiederholten Äußerung des Bundesverfassungsgerichts keine Verfassungsgesetze, eben weil sie die Europäische Union nicht zu einem Staat, einem Bundesstaat , und die Unionsbürger nicht zu einem Volk im staatsrechtlichen Sinne integrieren . Es hat niemals eine Staatsgründung der Europäischen Union gegeben. Insbesondere sind die Politiken der Europäischen Union nicht eigenständig demokratisch legitimiert . Das aber wäre eine unabdingbare Voraussetzung eines freiheitlichen Gemeinwesens, einer Republik der Europäer. Die demokratische Legitimation der Rechtsakte der Unionsorgane beruht auf den demokratisch legitimierten Zustimmungsgesetzen der mitgliedstaatlichen Legislativorgane zu den Gemeinschaftsverträgen. Spezifisch daraus erwächst das Prinzip der begrenzten Ermächtigung der Unionsorgane durch die Übertragung von Hoheitsrechten zur gemeinschaftlichen Ausübung .

Mit der entworfenen Charta der Grundrechte (letzter Entwurf vom 28. September 2000) wird die Europäische Union ihre existentielle Staatlichkeit vertiefen. Im Laufe der Zeit sind die Europäischen Gemeinschaften zum Staat im existenziellen Sinne entwickelt worden . Der letzte geradezu diktatorische Schritt war die Währungsunion. Unbeirrt gehen die Integrationisten den Weg zum Großstaat Europa weiter. Die existenzielle Staatlichkeit der Völker Europas (der Mitgliedstaaten) lässt nur eine gemeinschaftliche Ausübung der Staatlichkeit der Völker, also eine funktionale Staatlichkeit der Europäischen Union, zu. Zu diesem Zweck ist letzterer die gemeinschaftliche Ausübung von bestimmten und begrenzten Hoheitsrechten übertragen (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG). Diese Hoheitsrechte dürfen nur nach Maßgabe der Grundrechte der Mitgliedstaaten ausgeübt werden; denn kein Staat hat Hoheit entgegen den Grundrechten der Menschen und der Bürger. Vielmehr sind die Grundrechte als solche negative Kompetenzen . Grundrechte sind zwar einschränkbar, so dass auch die Rechtsakte der Europäischen Union, der funktionale Staatlichkeit delegiert ist, Grundrechte einzuschränken vermögen, aber doch nicht zu Lasten des Wesensgehalts der Grundrechte. Nach Art. 19 Abs. 2 GG darf "in keinem Fall ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden". Dementsprechend hat sich das Bundesverfassungsgericht vorbehalten, den Grundrechtsstandard, der zumindest den generellen Wesensgehalt der Grundrechte ausmacht, auch gegenüber Rechtsakten der Europäischen Union zur Geltung zu bringen .

Die Charta der Grundrechte verfolgt scheinbar nur den Zweck, der Existenz eines europäischen Staates ein weiteres Symbol zu verleihen. In Wahrheit will man aber einen weiteren Schritt auf dem Wege zu einer existenziellen Staatlichkeit der Europäischen Union gehen, der seit Jahrzehnten mit den Mitteln des Völkerrechts, aber weitestgehend ohne die Völker selbst zu fragen, beschritten wird. Durch ein Verfassungsgesetz soll die existenzielle Staatlichkeit der Union weiterentwickelt werden, indem in einer Regierungskonferenz nach Nizza die Gemeinschaftsverträge einschließlich des letztlich angestrebten Grundrechtsvertrages zum Verfassungsvertrag zusammengefasst, jedenfalls als ein einen Verfassungsstaat begründendes Verfassungswerk ausgegeben werden.

Die existenzielle Staatlichkeit der Europäischen Union können jedoch nur die Völker der Mitgliedstaaten ermöglichen, weil sie, jedes Volk für sich, die eigene existenzielle Staatlichkeit (seine Souveränität) aufgeben müssen. Das setzt Verfassungsreferenden der Völker voraus. Ein Verfassungsgesetz für Europa bedarf einer Vorbereitung durch eine eigens für diese Aufgabe von allen Unionsbürgern gewählte europäische Nationalversammlung. Durch diese Wahl würden sich die Europäer zu einem Staatsvolk konstituieren. Über das Verfassungsgesetz müsste schließlich das europäische Volk abstimmen. Die gegenwärtigen Vertreter der mitgliedstaatlichen Völker in den Regierungen und Parlamenten haben weder die Aufgabe noch gar die Befugnis, die Union zu einem existenziellen Staat zu entwickeln. Das "vereinte Europa" im Sinne des deutschen Integrationsprinzips (Präambel, Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG) ist eine Union als Staatenverbund . Dieser setzt die existenzielle Staatlichkeit der Völker der Mitgliedstaaten voraus. Das Ziel eines existenziellen Verfassungsstaates Europa ist verfassungswidrig; denn es gefährdet den "Bestand der Bundesrepublik Deutschland" als existenziellen Staat, also die Souveränität Deutschlands, die es trotz aller Gemeinschaftlichkeit der Ausübung der Staatlichkeit (auf Grund der übertragenen Hoheitsrechte, Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG) Deutschland wie jedem anderen Mitgliedstaat erlaubt, aus der Union auszuscheiden, indem das Integrationsprinzip aus dem Grundgesetz gestrichen wird (Voraussetzung: Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat) und die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen aufgehoben werden . Die Organe der Europäischen Gemeinschaften haben keinesfalls die Aufgabe und Befugnis, den existenziellen Verfassungsstaat Europa zu schaffen. Sie haben im Rahmen der begrenzten Ermächtigungen (Aufgaben und Befugnisse) die Ziele der Gemeinschaften zu verwirklichen .

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. K. A. Schachtschneider, Der republikwidrige Parteienstaat. Festschrift für H. Quaritsch, Berlin 2000, S. 141 ff.; ders., Res publica res populi. Grundlegung einer Allgemeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Freiheits-, Rechts- und Staatslehre, Berlin 1994, S. 1060 ff., 1086 ff., 1113 ff.

  2. Vgl. etwa Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 4, 157 (168 ff.); 97, 350 (370 ff.); dazu W. G. Grewe, Auswärtige Gewalt. Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, Heidelberg 1988, § 77, Rdn. 89 ff.

  3. Vgl. BVerfGE 37, 271 (280 f.); 73, 339 (374 ff., 386 f.); 89, 155 (174 f.); etwa Europäischer Gerichtshof (EuGH) - Rs. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, 491 (508); Rs. 44/79 (Hauer/Land Rheinland-Pfalz), Slg. 1979, 3727 (3747); A. Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, Berlin 2000, S. 348 ff.; vgl. auch K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, in: Datenverarbeitung/Steuer/Wirtschaft/Recht, (1999), S. 82 ff., 116 ff.

  4. Vgl. EuGH - Rs. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, 491 (507, Rdn. 13); Rs. 44/79 (Hauer/Land Rheinland-Pfalz), Slg. 1979, 3727 (3745); Rs. 265/87 (Schräder/Hauptzollamt Gronau), Slg. 1989, 2237 (2267 f.); A. Emmerich-Fritsche (Anm. 3), S. 125 ff.

  5. Vgl. BVerfGE 89, 155 (174 f.).

  6. Vgl. K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum. Aspekte freiheitlicher Eigentumsgewährleistung, Festschrift für W. Leisner, Berlin 1999, S. 743 ff., insb. S. 755 ff.

  7. Vgl. dazu ders., Recht auf Arbeit - Pflicht zur Arbeit, Festschrift für J. G. Helm (i. E.).

  8. Vgl. Art. 28 ff. EGV (Warenverkehrsfreiheit), Art. 30 ff. EGV (Arbeitnehmerfreizügigkeit), Art. 43 ff. EGV (Niederlassungsfreiheit), Art. 49 ff. EGV (Dienstleistungsfreiheit), Art. 56 ff. EGV (Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit).

  9. Vgl. EuGH - Rs. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1994, 1251 (1269 f.); Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- u. Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel), Slg. 1970, 329 (331); K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche (Anm. 3), S. 81 ff.

  10. Vgl. BVerfGE 89, 155 (174 f.).

  11. Vgl. BVerfG v. 7. Juni 2000, Akz: 2BvL 1/97, mit Anmerkung von A. Emmerich-Fritsche, in: Bayerische Verwaltungsblätter, (2000), S. 755 ff.

  12. Vgl. K. A. Schachtschneider, Demokratiedefizite in der Europäischen Union, Festschrift für W. Hankel, Stuttgart 1999, S. 119 ff.

  13. Vgl. dazu BVerfGE 89, 155 (186); zum Homogenitätsprinzip K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 1177 ff.; ders., Die Republik der Völker Europas, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, (1997), Beiheft 71, S. 168 ff.

  14. Vgl. G. Dürig, Der Grundrechtsschutz der Menschenwürde, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 81 (1956), S. 1 ff., 46 ff.; vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 819 ff., insb. S. 827; BVerfGE 80, 367 (373 f.).

  15. Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hrsg. von H. Winkelmann, Tübingen 19725, S. 838 ff.; R. Michels, Zur Soziologie des Parteienwesens in der Demokratie, 19252, S. 349; R. Wassermann, Die Zuschauerdemokratie, München 1986/89, S. 112 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 1064 ff.

  16. I. Kant, Zum ewigen Frieden, hrsg. von W. Weischedel, Bd. 9, Darmstadt 1983, S. 228 ff.

  17. Vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 350ff.; ders., Freiheit in der Republik (i. E.), S. 47, 72, 113, 158.

  18. Zur kantianischen Freiheitslehre vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 275 ff., 325 ff., 427 ff; ders., Freiheit (Anm. 17), S. 14 ff., 79 ff., 200 ff..

  19. I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345.

  20. Vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 35 ff., 275 ff., 303 ff., 325 ff., 494 ff., 519 ff.

  21. Vgl. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hrsg. W. Weischedel, Bd. 6, Darmstadt 1983, S. 67 f.

  22. Vgl. dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 441 ff.; ders., Freiheit (Anm. 17), S. 129 ff.

  23. Vgl. ebd., S. 71 ff.

  24. Vgl. etwa BVerfGE 50, 290 (369); 84, 212 (228); 92, 26 (41); 100, 271 (283).

  25. Vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 234 ff.

  26. Vgl. dazu J. Ringler, Die europäische Sozialunion, Berlin 1997.

  27. Vgl. K. A. Schachtschneider (Anm 7), S. 4 ff., 13 ff.

  28. Vgl. W. Hankel/W. Nölling/K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Klage. Warum die Währungsunion scheitern muss, Reinbek 1998, S. 200 ff.; K. A. Schachtschneider, Freiheit (Anm. 17), S. 270 ff.

  29. Vgl. K. A. Schachtschneider, Eigentümer globaler Unternehmen, Festschrift für H. Steinmann, Stuttgart 1999, S. 412 ff.

  30. Vgl. K. A. Schachtschneider (Anm. 6), S. 755 ff.

  31. Vgl. EuGH - Rs. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, 491 (507); A. Emmerich-Fritsche (Anm. 3), S. 333 ff.

  32. Zum Privatheitsprinzip K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 370 ff.

  33. Vgl. BVerfGE 84, 90 (121); 100, 271 (284).

  34. Vgl. BVerfGE 22, 293 (296); 89, 155 (188).

  35. Vgl. BVerfGE 89, 155 (188)

  36. Vgl. K. A. Schachtschneider (Anm. 12), S. 119 ff.

  37. Vgl. BVerfGE 89, 155 (181, 191 ff.).

  38. Vgl. K. A. Schachtschneider, Die existenzielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union. Ein Beitrag zur Lehre vom Staat nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag über die Europäische Union von Maastricht, in: K. A. Schachtschneider/W. Blomeyer (Hrsg.), Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, Berlin 1995, S. 111 ff., ders., Die Republik der Völker Europas (Anm. 13), S. 170 ff., 174 ff.

  39. Vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 353 f., 476, 821 f., 1030

  40. Vgl. BVerfGE 89, 155 (174 f.).

  41. Vgl. BVerfGE 89, 155 (184, 186, 188 ff.), Maastricht-Urteil.

  42. Vgl. BVerfGE 89, 155 (190).

  43. Zum Prinzip der begrenzten (Einzel-)Ermächtigung BVerfGE 89, 155 (181, 191 ff.); K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche/Th. C. W. Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, in: Juristenzeitung, (1993), S. 751 f.

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geb. 1940; Studium der Rechtswissenschaften in Berlin, Bonn und Tübingen; seit 1989 Ordinarius für öffentliches Recht der Universität Erlangen-Nürnberg.

Anschrift: Universität Nürnberg-Erlangen.
E-Mail: wsro01@wsrz2.wiso.uni-erlangen.de

Veröffentlichungen u. a.: Res publica res populi. Grundlegung einer allgemeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Feiheits-, Rechts- und Staatslehre, Berlin 1994; (zus. mit W. Hankel/W. Nölling/J. Starbatty) Die Euro-Klage. Warum die Währungsunion scheitern muss, Reinbek 1998.