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Die Bundeswehr-Reform aus bündnispolitischer Sicht | Bundeswehr | bpb.de

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Die Bundeswehr-Reform aus bündnispolitischer Sicht Die gewandelten politischen und strategischen Rahmenbedingungen

Lothar Rühl

/ 23 Minuten zu lesen

Die Bundesrepublik ist im Bündnis Verpflichtungen eingegangen, die Konsequenzen für die Stärke der Streitkräfte haben. Eine wesentliche Rolle spielen der Umfang und die Bewaffnung, die militärischen Fähigkeiten und die Verfügbarkeit von Truppen.

I. Abschnitt

Die Bundeswehr wurde kraft der Londoner und Pariser Abkommen von 1955 als deutscher militärischer Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung Westeuropas in der Atlantischen Allianz geschaffen und von vornherein als Bündisarmee in den militärischen Integrationsrahmen der alliierten Streitkräfte Europas eingefügt. Sie war, bevor sie vom Bundesverfassungsgericht viel später als "Parlamentsarmee" bezeichnet wurde, als internationale Vertragsarmee gegründet worden. Die Westeuropäische Union (WEU) wurde als engerer Rahmen mit einem Rüstungskontrollsystem geschaffen, um die Wiederbewaffnung und die deutschen Streitkräfte durch ein Abkommen mit den westlichen Nachbarn in der NATO zu begrenzen und die Fortdauer der Präsenz britischer Truppen in Deutschland - insbesondere der britischen Rheinarmee - festzuschreiben. Deutsche Truppen sollten nicht unter nationalem Oberbefehl stehen und nicht nationalen Zwecken der Bundesrepublik Deutschland außerhalb der gemeinsamen Verteidigung dienen. Dies war die politische Geschäftsbasis für die Zulassung der Bundesrepublik zur NATO und die Freigabe der deutschen Souveränität durch die drei westlichen Siegermächte, die damit die Reste des alliierten Besatzungsregimes in Westdeutschland beseitigten, um nur noch ihre mit der UdSSR gemeinsame Verantwortung für "Deutschland als Ganzes und Berlin" zu konservieren.

Damit war die Bundeswehr von Anfang an Ausdruck und Mittel der Gleichberechtigung der Bundesrepublik im Bündnis und in Westeuropa. Es gab für diesen übergeordneten Zweck damals kein anderes politisches Mittel. Dieser staats- und außenpolitische Charakter ist auch 1990 in der Wiedervereinigung nicht verloren gegangen, denn zu deren Voraussetzungen gehörten in der deutsch-sowjetischen Übereinkunft vom Juli 1990 sowie im "Zwei-Plus-Vier-Abkommen" die Begrenzung des deutschen Streitkräfteumfangs im internationalen Rahmen des Vertrags über die Bewaffnung der konventionellen Land- und Luftstreitkräfte in Europa (KSE) sowie die Ausschließung einer Unterstellung deutscher Truppen in Ostdeutschland unter alliierten Befehl, dazu auch der Stationierung von Kernwaffen und nuklearwaffenfähigen Trägersystemen sowie von alliierten Truppen. In diesem Kontext wurden die alliierten Garnisonen in Berlin abgezogen und das ehemalige Gebiet der DDR von den russischen Truppen 1994 geräumt.

Die Bundeswehr erwies sich 1990-1994 abermals als Instrument deutscher und euro-atlantischer Sicherheitspolitik wie nationaler Außenpolitik. Ihre politische Natur als Bündnisarmee trat wie bei ihrer Gründung deutlich hervor: Weder 1956 bei Beginn der Aufstellung der deutschen Streitkräfte - deren Umfang und Bewaffnung zwischen den Alliierten vereinbart worden waren -, noch 1990 bei der Übernahme der NVA mit einer noch vorhandenden Stärke von rund 90 000 Mann in die Bundeswehr, bei der Auflösung aller NVA-Verbände im Zuge der vereinbarten Verringerung der deutschen Streitkräftestärke auf 370 000 Soldaten Friedensumfang sowie bei der Beseitigung der überzähligen schweren Waffen oberhalb der Höchstgrenzen des Pariser KSE-Vertrags von 1990 handelte Deutschland unabhängig von seinen Partnern, zu denen die Sowjetunion kam. Die deutsche Souveränität, die erst mit dem "Zwei-Plus-Vier"-Abkommen der beiden deutschen Staaten mit den vier Siegermächten von 1945 ohne Vorbehalt freigegeben wurde, konnte 1990 bei der Verpflichtung auf Rüstungsbegrenzungen und die Verringerung der deutschen Streitkräfte auf eine von der Sowjetunion akzeptierte Stärke durch eine Formalität gewahrt werden: durch die freiwillige deutsche Verpflichtung in dem internationalen Vertragsrahmen KSE als eine "conditio sine qua non" der Zustimmung zur Wiedervereinigung und Gegenstück zur freien Bündniswahl Deutschlands, also dessen NATO-Mitgliedschaft, was politisch auch die Abtretung der ehemaligen DDR als Teil des Warschauer Pakts und als Stationierungsgebiet der Sowjetarmee an die Atlantische Allianz samt dem Rückzug aller sowjetischen Truppen aus Mitteleuropa bedeutete. Die Auflösung der NVA und das Vorrücken der Bundeswehr auf das Gebiet der untergegangenen DDR war die akzeptierte nationale Konsequenz eines internationalen Abkommens.

Auch zehn Jahre später ist die geplante Umwidmung des unter nationalem Befehl stehenden deutschen IV. Korps in Potsdam zu einem zentralen Bundeswehrkommando mit einer NATO-Assignierung seiner Truppen keine unabhängige deutsche Entscheidung, sondern sie bedarf der Deckung durch das "Zwei-Plus-Vier"-Abkommen, also des russischen Einverständnisses mit einer entsprechenden Auslegung der Übereinkunft - ein weiteres Zeichen für die internationale Natur der Bundeswehr und der Militärstruktur in Deutschland.

Die Bundeswehr war also im Unterschied zu allen anderen europäischen Armeen stets eine internationale politische Größe, die nie zur alleinigen Disposition nationaler Entscheidung stand. Sie war integraler Bestandteil der NATO von Anfang an und zudem die einzige nationale Armee, deren Truppen (bis auf die der Territorialverteidigung mit den Heimatschutzbrigaden) sämtlich schon im Frieden dem NATO-Oberbefehl unterstellt wurden; damit ist sie als einzige Armee dauernd in die alliierte Militärintegration eingebunden. Nationaler Alleingang in Aufbau, Ausrüstung und Verwendung der deutschen Streitkräfte war und ist ausgeschlossen; die Bundeswehrplanung ist an die gemeinsame Streitkräfteplanung der NATO-Partner gebunden; auch diese Bindung war und ist freiwillig, sie liegt im deutschen Sicherheitsinteresse. Hat sich daran inzwischen Wesentliches geändert?

II. Abschnitt

Seit 1991 sind der NATO neue Aufgaben gestellt:

1. Abbau des militärischen Konfrontationsprofils gegenüber Osteuropa auf Gegenseitigkeit mit Russland im Rahmen der konventionellen Streitkräfteverringerungen, die schon deshalb neue Aktualität gewannen, weil

- mit dem Abzug der russischen Armee aus Mitteleuropa bis Mitte 1994 (90 Prozent der 1990 noch auf deutschem Boden stehenden russischen Truppen in Stärke von 340 000 Soldaten waren zum Jahresende 1993 abgezogen);

- dem Zurückweichen der russischen Westgrenzen um 600 km im Nordwesten und bis zu 1 300 km im Südwesten als Folge der Unabhängigkeit der westlichen und südlichen Randländer;

- dem Verlust des mitteleuropäischen Vorfeldes für Vorwärtsstationierung, Aufmarsch und Verstärkung russischer Streitkräfte westlich des russischen Gebietes und dem Rückzug aller russischen Truppen aus diesen Ländern;

- und schließlich mit der einseitigen strukturellen Abrüstung Russlands, die von der Staats- und Wirtschaftskrise erzwungen wurde,

eine militärische Bedrohung durch Russland mit einem raumgreifenden europäischen Kontinentalkrieg nach Westen, der "Invasionsfähigkeit", seit spätestens 1994 nicht mehr gegeben ist.

2. Ausbau der vertraglichen Rüstungskontrolle in Europa im Rahmen des Pariser KSE-Vertrags vom November 1990 noch mit den damaligen Mitgliedern des Warschauer Pakts und im weiteren Rahmen der KSZE, deren politische Regeln in der Pariser "Charta für ein Neues Europa" gleichzeitig konkretisiert und deren bis dahin schwache politische Struktur durch ständige Organe gestärkt wurden. Neben dieser Verbindung von militärischer und politischer Sicherheit im Zeichen der nicht länger "antagonistischen" Beziehungen, sondern der Kooperation wurde eine weiter reichende sicherheitspolitische Verständigung über Stabilität in Europa gesucht.

3. Veränderung der NATO-Strategie durch Rückversetzung der nuklearen Waffen in die Droh-Reserve und Verlagerung des Schwergewichts der Verteidigung wie der Abschreckung auf die konventionellen Streitkräfte des Bündnisses, womit diese weiter an militärischer Bedeutung für die Sicherheit in Europa und die Sicherung des europäischen Bündnisgebietes gewannen. Die neue NATO-Nuklearkriegs-Doktrin, die Kernwaffen nur noch als "weapons of last resort" oder "ultima ratio"-Waffen sieht, die auch nach Kriegsbeginn so lange wie möglich zurückgehalten würden (im Übrigen nur eine deklaratorische, nicht aber eine reale Änderung der Strategie der kontrollierten Eskalation nach der Doktrin der "flexible response"), sollte das alte Streitthema "first use" oder Initiative zum Ersteinsatz nuklearer Waffen als Defensive gegen einen Angriff aus dem Osten politisch entschärfen und den vereinbarten Abzug der weiterreichenden Kernwaffensysteme aus Europa begleiten. Die NATO-Partner zogen nach 1990/91 alle bodengestützten Kernwaffen und die nukleare Artilleriemunition aus Europa ab. Es blieben nur noch etwa 700 nukleare Gefechtsköpfe für die Flugzeuge als vorgelagertes Eskalations-Potential gegen taktisch-operative Ziele eines Angreifers. Diese weitgehende "Entnuklearisierung", die in erster Linie Deutschland entlastete (aber zugleich auch von den NATO-Mitteln zur nuklearen Eskalation entblößt hat), sowie die Erklärung bei der NATO-Erweiterung nach Osten, dass die NATO in den neuen Bündnisländern weder Kernwaffen lagern noch nuklearfähige Trägerwaffensysteme stationieren werde, solange die Sicherheitslage unverändert bliebe, macht die konventionellen Streitkräfte - deren Bewaffnung, Beweglichkeit und militärische Qualität - zum Kriterium der Verteidigungsfähigkeit der NATO und der militärischen Stabilität in Europa.

4. "Bündnisöffnung" nach Osten, zunächst "NATO-Osterweiterung" genannt, zum Zwecke des "Stabilitätstransfers" auf die in der "Transformation" begriffenen ehemaligen Verbündeten der UdSSR durch militärische Integration in die NATO. Solange diese Länder noch nicht in die EU aufgenommen worden sind, ist die militärische Integration ihrer Streitkräfte in die NATO die einzige effektive Verklammerung mit den USA und Westeuropa. Die Streitkräfte der NATO-Länder bilden die Anschlussleiste auf deutschem Boden in Mitteleuropa, unter ihnen in erster Linie die Bundeswehr mit ihrem militärischen Integrationsprofil und ihren Mitteln der Kooperation. Es sind weniger die Landstreitkräfte Frankreichs, Britanniens, der Niederlande oder Belgiens, zu denen die polnischen und tschechischen in unmittelbaren Kontakt treten können, als die deutschen neben den amerikanischen in Deutschland. Für diesen Zweck muss die Bundeswehr Truppen und Organisation aufwenden, die andere Armeen für andere Zwecke verwenden können.

5. Die internationale Friedenssicherung ("peace support missions") durch Krisenbeherrschung, Prävention von Konflikten und Konfliktbeendigung, die die Alliierten über die Verteidigung ihres Bündnisgebiets hinaus auf das weite Feld der internationalen Sicherheit führt. Dieser Übergang von der "kollektiven Verteidigung" im Bündnisrahmen zur "kollektiven Sicherheit" im Rahmen der VN, eventuell auch der OSZE, hat unmittelbare Konsequenzen für die konventionellen Streitkräfte in der NATO, künftig auch der EU, und national mit Kontingenten in UNO-Schutztruppen. Die Bundeswehr wird wie alle übrigen europäischen Streitkräfte solche Truppenkontingente für NATO, EU, VN und OSZE bereitstellen. Diese Aufgabenstellung wurde 1999 als zweite militärische Funktion der NATO in das strategische Konzept der Allianz aufgenommen. In dieser Funktion - die im Kern die einer militärischen Interventionspolitik ist - liegen seit 1991 die aktuellen Hauptaufgaben der allierten Streitkräfte, die bisher größten Herausforderungen an die Einsatzbereitschaft der NATO-Kräfte seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation und die größten Risiken der Sicherheitspolitik. Die NATO-Militärstruktur wie die nationalen Armeen werden davon verändert, was schon die Umwidmung zweier alliierter Korps als "Krisenreaktionskorps" zusätzlich zu dem schon bestehenden Allied Rapid Reaction Corps (ARRC) bei einer geplanten Gesamtzahl von neun alliierten Armeekorps in Europa einschließlich der Türkei zeigt: ein Drittel der Korps für Interventionskräfte, zwei Drittel für die Bündnisverteidigung, aber auch zur Verstärkung der drei Krisenreaktionskorps.

Die Bundeswehr wird mit Truppen an allen drei NATO-Eingreifkorps beteiligt sein, ihre Kontingente werden vermutlich den britischen und französischen ungefähr entsprechen. Dies dürfte für das bis 2003 aufzustellende europäische Eingreifkorps der EU-Partner nicht anders sein. Auch für die direkte Beteiligung an UNO-"Friedensoperationen" werden deutsche Truppenkontingente vorzusehen sein, unabhängig von NATO- und EU-Beteiligung, vor allem dann, wenn Deutschland ständiges Mitglied im UN-Weltsicherheitsrat werden sollte.

6. "Gegenproliferation" ("counter proliferation") zur rechtzeitigen Verhinderung einer Ausbreitung bzw. des Einsatzes atomarer, biologischer und chemischer Massenvernichtungsmittel durch Einsatz geeigneter militärischer Kräfte gegen fremde Länder außerhalb des Bündnisses. Die Mittel dafür sind Spezialtruppen für gezielte Eingriffe und Luftstreitkräfte für gezielte Angriffe. Ob die Bundeswehr daran im Bündnisrahmen der NATO oder in einem anderen Aktionsrahmen beteiligt wird, ist heute noch eine offene Frage.

7. Terrorabwehr, soweit diese militärisch möglich und nützlich ist. Ähnlich wie bei der Gegenproliferation wird es sich dabei für die meisten europäischen NATO-Partner mehr um indirekte Beteiligung durch das Nachrichtenwesen mit Informationsaustausch, logistische Unterstützung von Operationen und politische Solidarität bei militärischen wie bei Polizei-Aktionen und geheimdienstlichen Aktivitäten handeln als um direkte Beteiligung an solchen Operationen, die den USA, Britannien und Frankreich vorbehalten bleiben dürften, solange nicht die EU aktiv wird.

8. Allgemeine Verteidigung oder Durchsetzung gemeinsamer vitaler Sicherheitsinteressen in der Welt, inbesondere Zugang zu Rohstoffen und Energieressourcen, Öffnung bzw. Freihaltung internationaler Schiffartsstraßen und Seegebiete von gewaltsamen Störungen, Sperren oder Kriegshandlungen, die die Freiheit der Meere und die Sicherheit des Seeverkehrs gefährden. Zwar hat der Nordatlantikrat im April 1999 wegen der französischen Opposition und der Bedenken auch anderer NATO-Partner darauf verzichtet, eine politische Doktrin über "common vital interests" in das zweite "Neue Strategische Konzept" der Allianz zu schreiben. Doch bleibt das Thema auf der Bündnisagenda, schon weil die Realitäten der internationalen Situation dies erzwingen und Konstellationen des Zusammenfalls von regionalen und inneren Konflikten mit organisiertem Terror, Sperre des Zugangs zu Ressourcen (etwa zum Golföl), Boykottpolitik einzelner Länder gegen andere (wie 1973/74 der arabischen Staaten gegen westeuropäische Länder) sowie Gefährdung der Schifffahrt in internationalen Gewässern (wie im ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran ab 1985 im Persischen Golf durch Seeminen und Raketen) bedeutende Krisen mit Konfrontations- und Eskalationsrisiken verursachen können.

Es ist abzusehen, dass die Aufgaben 5 bis 8 sich nebeneinander oder nacheinander in bestimmten Krisen stellen können, ja dass sie sich aus einem Kausalzusammenhang ergeben. Diese Sicherheitsrisiken und Unsicherheitsmomente bewirken für Europa und die NATO bisher noch keine konkreten Bedrohungen, wohl aber latente Gefährdung, für deren Eintritt vorgesorgt werden muss.

Der Abzug der bodengestützten Kernwaffensysteme aus Westeuropa hat den konventionellen Streitkräften der NATO die Hauptlast der "kollektiven Verteidigung" für den unwahrscheinlichen, aber nicht unmöglichen Kriegsfall in Europa überlassen und ihre Bedeutung für begrenzte Konflikte und Krisenfälle noch gesteigert. Im NATO-Verteidigungsdispositiv in Europa kommt es deshalb auch auf dem abgesenkten Niveau der Truppenstärken, der Einsatzbereitschaft der Streitkräfte und des Bedarfs an ausgebildeten Reservisten für den Mobilmachungsfall noch immer auf gut bewaffnete, hoch bewegliche und einsatzbereite konventionelle Land-, Luft- und Seestreitkräfte ausreichender Stärke an, die von der NATO möglichst schnell zur Bedienung der noch immer im Prinzip gültigen Kernfunktion der "kollektiven Verteidigung" eingesetzt werden könnten.

Deutschland als das östlichste Land der NATO-Zentralregion, als das bevölkerungsstärkste Land Europas westlich Russlands mit der größten Volkswirtschaft und als westlicher Nachbar Polens und Tschechiens wird vom Bündnis wie von der neu beschlossenen "Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik" der EU mit Vorrang für militärische Stabilität im Zentrum Europas und gemeinsame Verteidigung in Anspruch genommen. Der deutsche militärische Beitrag an verfügbaren und einsatzbereiten Truppen möglichst hoher Qualität und moderner Ausrüstung wird darum in Brüssel sowohl bei der NATO als auch bei der EU als kritische Größe angesehen. In dieser Hinsicht hat sich seit 1990 nichts Wesentliches in der Perzeption Deutschlands in Westeuropa und Amerika oder an den Interessen der westlichen Nachbarn am deutschen Bündnispartner und an dessen militärischer Leistung geändert. Die Bundeswehr bleibt das Kernstück des "militärischen Europa" auf dem Kontinent. Eine Abrüstung der Bundeswehr nach Truppenstärke und Bewaffnung, eine Qualitäts- und Niveausenkung deutscher Streitkräfte sind in den Augen der NATO- und EU-Partner Deutschlands nicht ohne Risiko für ihre eigene und für die gemeinsame Sicherheit, selbst wenn der deutsche Nachbar damit nur westeuropäischen Beispielen von Britannien über die Niederlande und Belgien bis Frankreich und Italien folgt.

Inzwischen liegt Deutschland aber bei den Investitionen in seine Streitkräfte an zweitletzter Position - vor Luxemburg. Damit ist "die fallende Linie" der Entwicklung des deutschen Verteidigungshaushalts nach der Finanzplanung schon eine "red line", eine rote Warnlinie, die nicht weiter unterschritten werden dürfte, wenn nicht auch die Vorhaben der Partner für "autonome" europäische Fähigkeiten in der NATO und den so lange Jahre auf dem Papier vorgezeichneten, aber stets wieder verschobenen Bau eines "europäischen Pfeilers" in der Allianz am Mangel an geeigenten europäischen Streitkräften scheitern sollten. Dies wäre für das Verhältnis zur amerikanischen Schutz- und Führungsmacht, von deren Politik mit und Präsenz in der NATO die Stabilität des Bündnisses und Europas abhängt, eine kritische Belastung - dies auch nach französischem Urteil.

III. Abschnitt

Für die neue NATO-Politik ist ein militärisch im Bündnis mit ausreichenden und modernen Streitkräften aktiv engagiertes Deutschland als Land des Übergangs nach Osteuropa das Schlüsselland: Nur über die militärische Kooperation mit Deutschland erschließt sich der Zugang zur NATO. Nur über die deutsche Brücke führt der Weg in die Brüsseler Zitadelle des atlantischen Europa für eine Teilhabe an der standardisierten NATO-Luftverteidigung nördlich der Alpen, an den NATO-Seestreitkräften in Ost- und Nordsee, am zusammenhängenden Verband der alliierten Landstreitkräfte und damit das Zusammenwirken auch mit den in Deutschland stationierten US-Streitkräften. In diesem praktischen Sinne hat Deutschland eine militärpolitische und militärtechnische Klammerfunktion, in der der deutsche Partner ebenso unersetzlich ist wie der amerikanische. Diese Klammer kann nur die Bundeswehr materialisieren wie auch die militärische Integration der polnischen und tschechischen Streitkräfte in die NATO-Streitkräftestruktur. Um diese Integration wirksam zu machen, braucht es deutsche Truppen, nicht nur deutsche Stäbe oder Stabsanteile in alliierten Kommandos wie dem neuen Korps-Hauptquartier in Stettin für das im Aufbau befindliche deutsch-dänisch-polnische Korps, das natürlich zur Verstärkung der möglichst grenznahen "Vorneverteidigung" Polens nach Osten im Krisen- und Konfliktfall dienen müsste. Dafür allein ist schon eine deutsche Division mit drei Brigaden das operative Minimum.

Von den in der NATO-Planung zunächst vorgesehenen neun Korps hoher Einsatzbereitschaft für den gesamten europäischen Kommandobereich "Allied Command Europe" (ACE) von Südeuropa mit der Türkei bis Nordeuropa (Nordnorwegen) sollen sechs als Hauptaufgabe die gemeinsame Verteidigung des NATO-Gebietes haben, wobei eines in der Südwesttürkei zwischen der NATO-kontrollierten Ägäis und der Levante des Nahen Ostens bereitstehen soll. Ein weiteres Korps will Italien stellen. Beide würden bei ausreichender Stärke, Beweglichkeit, Bewaffnung und Einsatzunterstützung auch der Krisenbeherrschung mit militärischen Mitteln an der südlichen Peripherie des europäischen Bündnisgebietes dienen können. Die beiden Aufgaben "Krisenreaktion" und "Flankendeckung" könnten ohnehin im östlichen Mittelmeer mit der Aufgabe der Verteidigung des Bündnisgebiets zusammenfallen. Für die "contingencies" oder Einsatz-Eventualfälle im Südosten des Befehlesbereichs Südeuropa sind von der gültigen NATO-Planung drei deutsche Kontingente zur Krisenreaktion, also für schnelles Eingreifen vor Ort, vorgesehen: mit 30 000 bis 35 000 Soldaten zur Verstärkung der Flankenverteidigung an den türkischen Meerengen und in Südanatolien gegenüber Syrien oder dem Irak. Diese beiden Eventualfälle verlangen die Bereitstellung von 60 000 bis 70 000 Soldaten in einsatzbereiten operativen Verbänden und entsprechende Unterstützung für Nachhaltigkeit, die von den EU-Partnern derzeit auf bis zu zwölf Monate definiert wird.

Die Beispiele auf dem Balkan lehren im Kleinen, was dies an Personal und an Material zur Bedarfsdeckung über mehrere Jahre bedeuten kann (zumal Truppe und Gerät mehr in Anspruch genommen werden als in der ruhigen Heimat). In jedem Fall muss längerfristig ein Truppenumfang von etwa 100 000 Soldaten für diesen Zweck bereitgehalten werden. Der Eventualeinsatzfall Ägäis betrifft im Wesentlichen die Marine und ein kleines Kontingent. Dafür sind zur Nordflankenverstärkung in Norwegen noch einmal ein Kontingent in der Stärke von etwa 30 000 bis 35 000 Soldaten vorgesehen sowie für die Unterstützung Polens im akuten Krisenfall zur Stärkung seiner Verteidigung ebenfalls ein Kontingent um die 33 000. Es kommt also ohne das Marinekontingent für die Ägäis ein struktureller Bedarf von 130 000 bis 135 000 Soldaten nur für vier Anfangseinsatz-Kontingente und eine Einsatzdauer von bis zu je sechs Monaten zusammen.

Selbst wenn man annimmt, dass der polnische und der norwegische Einsatzfall nicht gleichzeitig eintreten würden, muss doch die deutsche Verpflichtung solide abgedeckt werden, wenn die Aufgaben "kollektive Verteidigung" sowie militärische Integration zuverlässig erfüllt und "Stabilität" gesichert werden sollen. Dasselbe gilt entsprechend für Südeuropa mit den türkischen Meerengen und der Ägäis. Für die Streitkräfte- und Finanzplanung der Bundeswehr wie des Bündnisses reicht es nicht aus, die Annahme der "crisis contingencies" und des militärischen Bedarfs so zurückzuschneiden, dass sie unter die Plafonds passen, die der Finanzminister dem Verteidigungsminister in einer entspannten europäischen Lage für den Friedensumfang der Streitkräfte auferlegt. Streitkräfte und Waffen müssen über lange Zeit, auch in verschiedenen Lagen und Gebieten, einsatzbereit sein, einen ausreichenden Gütegrad nach NATO-Standards haben und tatsächlich dauernd ohne längere Verzögerung verfügbar sein. Streitkräftestruktur, sowie Personal- und Ausrüstungsumfang der Bundeswehr zur Unterstützung von Einsatzkräften größerer Stärke über etwa ein Jahr (wie für das europäische Krisenreaktionskorps von bis zu 60 000 Soldaten in Helsinki gefordert) müssen deshalb mit Margen zur Anpassung und von Reserven ausgelegt werden. Von einem deutschen Kontingent, dessen Umfang an Truppe und Material zu kurz bemessen wäre, hätte weder die deutsche Sicherheitspolitik noch die der EU oder die NATO etwas. Hier liegt eine der Hauptsorgen in Brüssel, wenn die Bundeswehr-Reform zur Sprache kommt.

Die NATO-Forderungen an Berlin gründen sich zunächst auf das alliierte Vorhaben, von den neun Korps drei als Krisenreaktionskorps auszuweisen und entsprechend auszustatten. Es handelt sich um das bisher nur als Rahmenverband mit der deutsch-französischen Brigade und einigen anderen gemeldeten nationalen Kleinverbänden bestehende "Europcorps" mit dem Stab in Straßburg, um das britisch geführte "Allied Rapid Reaction Corps" (ARRC) mit je einer britischen und einer deutschen Division und einigen belgischen Verbänden sowie um das bisher in der "kollektiven Verteidigung" stehende deutsch-niederländische Korps mit einer deutschen und einer niederländischen Division. Wenn das "Eurocorps" wirklich ein einsatzbereites alliiertes NATO-Eingreifkorps (auch für WEU-Zwecke und später EU-Einsätze) werden soll, wird der deutsche Anteil eher eine Division sein müssen statt eine halbe Brigade. Das deutsch-niederländische Korps soll als drittes Krisenreaktionskorps eingeteilt werden. Damit blieben dann das deutsch-amerikanische Korps in Süddeutschland und das bisher nationale IV. Korps in Ostdeutschland, das aber Truppen an das deutsch-niederländische und an das deutsch-dänisch-polnische im Einsatzfall abgeben soll.

Die Frage ist, wie das Heer der Bundeswehr diesen Bedarf an Truppen dauernd abdecken und eine Einsatzflexibilität zwischen verschiedenen Verwendungen erreichen soll. Die Stärke der Bundeswehr bleibt die Schlüsselgröße für die Zusammensetzung und Verfügbarkeit der europäischen Truppen in NATO und EU, für die Krisenreaktion und für Bündnisverteidigung. Deshalb stellen für die NATO- und EU-Partner Umfang, Ausrüstung und Gliederung der Bundeswehr den für alle gemeinsamen Strukturen und Planungen kritischen Faktor in jedem Kalkül dar. Entscheidungen über die Größe, Zusammensetzung, die Aufstellung und Bewaffnung der Bundeswehr sind letztlich auch Entscheidungen über die Struktur europäischer und alliierter Streitkräfte, damit über die Instrumente der euro-atlantischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik.

IV. Abschnitt

In der Allianz wie in der EU (die sich der NATO nur äußerst zögerlich und mit sichtbaren Vorbehalten zum Dialog öffnet, ohne eine Annäherung zu suchen) wird die Bundeswehr-Reform 2000 nach den mehrmaligen Strukturveränderungen und Reduzierungen der deutschen Streitkräfte seit 1990 zunächst mit Gelassenheit und wohlwollender Neutralität betrachtet. NATO-Generalsekretär Robertson erklärte sich im Frühsommer 2000 mit den bekannt gemachten Ansätzen und Zielen zufrieden. Jeder in Brüssel weiß, dass es vor allem auf die konsequente Verfolgung einer klaren Linie hin zu erreichbaren Zielen, und dann auf den Erfolg ankommt. Der Erfolg aber wird erst in einigen Jahren sichtbar - oder aber nicht eingetreten sein. NATO-Rat und Militärausschuss gehen wie der neue Alliierte Oberbefehlshaber Europa davon aus, dass der deutsche Partner die im Mai in Brüssel bei der NATO-Streitkräfteplanung gemeinsam gesetzten Ziele einhalten und also seine Verpflichtungen erfüllen werde.

Noch besteht auch kein Anlass, daran zu zweifeln, obwohl mehrere Gründe für Skepsis offen zutage liegen: Die Finanzdecke wie die Personaldecke erscheinen allzu knapp: 60 Milliarden in zehn Jahren unterbliebene Investitionen in Ausrüstung und Infrastruktur nach der eigenen Schätzung des Bundesverteidigungsministers in seiner Bilanz 1999 können bei einem Jahreswehretat um die 45 Milliarden DM wie im Jahre 2000 - dem niedrigsten seit 1970, mit einem Anteil von nur noch 9,5 Prozent am Bundeshaushalt (gegenüber 17-20 Prozent in den Jahren vor 1990) - nicht wettgemacht werden, zumal die Personalkosten der Bundeswehr seit 1990 trotz einer Reduzierung des Personals um 200 000 bis auf 51 Prozent des Etats im Jahre 2000 angestiegen sind. Wenn dieser Trend nicht korrigiert wird, "wird die Bundeswehr bereits in wenigen Jahren keine Mittel mehr für Investitionen zur Verfügung haben. Ein Personalabbau würde diese Entwicklung nur kurzfristig abbremsen, das Grundübel aber nicht beseitigen", kommentierte der Verteidigungsminister diese Abwärtsentwicklung im Oktober 1999. Seit 1993 unterschreitet Deutschland konstant und zunehmend den NATO-Durchschnitt. Allein 1998 hätten nach Scharpings Urteil "rund 5,2 Milliarden DM mehr aufgewandt werden müssen, um den Durchschnitt der übrigen europäischen NATO-Länder zu erreichen".

Die Frage für die Allianz lautet darum klar und einfach: Wird die Bundeswehr-Reform 2000 den negativen Trend und damit den Verfall der deutschen Streitkräfte aufhalten oder sogar umkehren? Oder wird diese Entwicklung auch bei einer verkleinerten Bundeswehr mit verkürzter Wehrdienstzeit und einer geringeren Anzahl von operativen Großverbänden anhalten? Daran schließt sich nach den jüngsten Erfahrungen die weitere Frage an, ob die Bundeswehr die finanziellen Mittel haben wird, um die Kampfvorräte, den Treibstoff und das sonstige Material, insbesondere die Ersatzteilversorgung, für eine ausreichende Ausbildung und ständige Einsatzbereitschaft ihrer Truppen aufzubringen und zu ergänzen. Hier liegt ein Defizit, das beseitigt werden muss, bevor die in Brüssel im Mai 2000 zugesagten "Verbesserungen" an den deutschen Streitkräften und der Erwerb gesteigerter Kapazitäten den Kampfwert und die Fähigkeit zur "Interoperabilität" im Einsatz mit anderen Alliierten erhöhen können. In diesem kritischen Bereich wurde an allen NATO-Kräften auf dem Balkan ein erhebliches Manko festgestellt, das gemeinsam, vor allem durch technische Standardisierung und Modernisierung beseitigt werden muss.

Daraus ergibt sich die Frage, ob und wie die deutschen Streitkräfte die ihnen zugeteilten Aufgaben erfüllen und die vereinbarten Truppenkontingente für bestimmte Einsatzfälle nachhaltig aufbringen können. Diese Frage stellt sich auch im EU-Rahmen für den jeweiligen deutschen Anteil an europäischen Eingreif- oder Friedenserhaltungs-Kräften. Der Kosovo-Einsatz kostete die Bundeswehr rund 1,2 Milliarden DM im Jahre 1999. Scharpings Forderung, dem Wehretat für solche Aufgaben pauschal in jedem Jahr zwei Milliarden DM zuzuschlagen, wurde in Wahrheit nicht erfüllt, denn der Verteidigungsminister muss diesen Betrag aus dem Wehretat herauswirtschaften und darf dafür den größeren Teil des Erlöses aus dem Verkauf von Liegenschaften und Gerät der Bundeswehr behalten. Diese Finanzregelung ist nichts anderes als Leben aus der Substanz, also Reduzierung der eigenen materiellen Existenzgrundlage. Für eine kurze Übergangszeit mag dies annehmbar sein, nicht aber in der Perspektive mittel- und langfristiger Finanzplanung für die Streitkräfte und die Krisenreaktion, geschweige denn für die kollektive Verteidigung im Bündnis mit den Alliierten.

V. Abschnitt

Für die NATO ist die Frage des Personal- wie des Ausrüstungsumfangs eine Funktion der operativen Fähigkeit der Streitkräfte, ihre Aufträge sicher zu erfüllen und dieses Potenzial in einer mittel- bis längerfristigen Zukunftsperspektive von zehn bis 15 Jahren zu erhalten. Die Erfahrungen mit der Bundeswehr seit 1990 sprechen nicht für eine positive Antwort - aber die für die französische oder britische, die italienische oder die niederländische Armee auch nicht, von der belgischen ganz abgesehen. Die Bundeswehr ist kein leuchtendes Beispiel mehr. Die materielle Solidität des deutschen Alliierten steht in Frage wie die anderer europäischer Bündnispartner auch. In diesem Sinne wird in Brüssel gefragt, ob die Bundeswehr nach einer Strukturveränderung und Reduzierung ihre feste, qualitative Grundstellung wiederfinden kann.

Der Führungsstab der Streitkräfte in Berlin hat im Mai 2000 unter der Leitung des damaligen - und inzwischen zurückgetretenen - Generalinspekteurs von Kirchbach in seinem Dokument "Eckwerte für die konzeptionelle und planerische Weiterentwicklung der Bundeswehr" dem Verteidigungsminister ein brauchbares Modell mit einer Gesamtstärke von rund 290 000 Soldaten vorgelegt. Der Inhalt dieses nicht akzeptierten Konzepts wird in großen Teilen und mit seiner Systematik in die weitere Bundeswehrplanung eingehen. Das Strukturmodell für die "Bundeswehr-Reform" steht also im Großen wie auch in den meisten Details. Die Lücke im militärischen Personalumfang von nominal 13 000 bei einer Personalstärke zwischen 290 000 und 277 000 Mann, real aber 40 000, wenn die 27 000 Stellen für die Berufsvorbereitung der ausgedienten Zeitsoldaten, die ja den operativen Präsenzkräften nicht mehr zur Verfügung stehen, abgezogen werden, ist im Vergleich zu anderen europäischen NATO-Streitkräften nicht riskant oder exorbitant.

Frankreich bringt 324 700 Soldaten an Präsenzkräften auf, davon 178 000 im Heer, 62 000 in der Marine, 8 700 in den strategischen Nuklearstreitkräften sowie 76 000 in der Luftwaffe, und will um die 60 000 davon für Krisenreaktionskräfte bereithalten. Im Inventar stehen 1 200 Kampfpanzer, 1 055 Artilleriegeschütze, 340 Angriffshubschrauber und 530 Kampfflugzeuge als Hauptbewaffnung der konventionellen Land- und Luftstreitkräfte. Die britischen Streitkräfte haben eine Präsenzstärke von rund 212 000 Soldaten, davon 113 500 im Heer

mit 540 Kampfpanzern und 425 Feldgeschützen sowie 270 Kampfhubschraubern, und in der Luftwaffe von 55 000 Soldaten mit 460 Kampfflugzeugen.

Dagegen zählt die Bundeswehr bisher noch rund 3 130 Kampfpanzer, etwa 2 060 Feldgeschütze, rund 200 Panzerabwehrhubschrauber mit einer Heeresstärke von 228 000 Soldaten sowie 450 Kampfflugzeuge in der Luftwaffe mit rund 76 000 Soldaten. Die Marine ist schon auf 28 000 Soldaten reduziert. Der deutsche Ausrüstungsumfang übertrifft sowohl den französischen als auch den britischen um jeweils mehr als das Anderthalbfache bei den Landstreitkräften. Es ist offensichtlich, dass die Bundeswehr den bisherigen Ausrüstungsumfang nicht mehr braucht und dass sie ihn auch nicht Stück für Stück modernisieren könnte, jedenfalls nicht für das Heer. Marine und Luftwaffe können und sollten so bleiben, wie sie jetzt ausgelegt sind.

Das "Eckwerte-Papier" des Generalinspekteurs vom Mai 2000 sieht in seinem Modell für eine "Grobstruktur" des militärischen Personals bei rund 290 000 Soldaten rund 196 000 im Heer, 68 000 in der Luftwaffe und 29 500 in der Marine vor. Auch wenn die Personalstärken der drei Teilstreitkräfte reduziert werden, so sind unverändert 103 000 Soldaten für "die Wahrnehmung von Daueraufgaben im Streitkräftebetrieb" vorgesehen. Diese Basiskräfte dienen auch dazu, die Operationsfreiheit der alliierten Verbände auf deutschem Boden zu sichern und zu unterstützen. 30 000 sollen bei "enger funktionaler Verknüpfung mit den Einsatzkräften" der Vorbereitung der Landesverteidigung im Bündnisrahmen reserviert bleiben und der Ausbildungsorganisation dienen. Die Einsatzkräfte für Krisenreaktion, Flankenschutz und Verteidigung im NATO-Verband sollen 157 000 Soldaten umfassen, davon etwa 87 000 in den unmittelbar verfügbaren und schnell einsatzfähigen "Reaktionskräften" und 70 000 als "Verstärkungskräfte" und Basis der Landesverteidigung.

Die Summe aus den 157 000 Soldaten der "Einsatzkräfte" und den 103 000 an der Basis des Streitkräftebetriebs ergibt 260 000, also 10 000 mehr als der vom Verteidigungsminister gesetzte Plafond bei 250 000 (plus 27 000 inaktive Posteninhaber zur Berufsförderung). Diese Zahlen wird der Militärische Führungsrat der Inspekteure unter Leitung des neuen Generalinspekteurs General Kujat noch um einige Tausend reduzieren, um das Ganze unter dem niedrigeren Plafond des Ministers einzupassen. Rund 40 000 Man ein-

zusparen wird nicht leicht fallen, doch kann man die Präsenzstärke mit Wehrübungsplätzen und Berufsfortbildungsplätzen etwas variieren. So etwas geschieht auf die eine oder andere Weise in den Armeen aller Länder. (Auch hatte man schon über nur 40 000 Mann Einsatzkräfte nachgedacht.)

Diese Differenz beeindruckt in Brüssel niemanden, denn sie ist nicht unbedingt relevant. Die Reduzierung der Zahl der präsenten mechanisierten Divisionen von sieben auf fünf und die Halbierung der Zahl der mechanisierten Brigaden auf zehn plus deutscher Anteil an der deutsch-französischen Brigade haben dagegen eine größere Bedeutung für das Bündnis - vor allem wegen der "multilateralen" Korps und des Plans, neun Korps in Europa aufzustellen, davon drei verfügbare Eingreifkorps. Wie sollen fünf deutsche mechanisierte Divisionen mit insgesamt zehn Brigaden verteilt werden? Das deutsch-dänisch-polnische Korps könnte ohne eine volle deutsche Division nicht ins Feld gestellt werden. Ebenso wenig könnte das jetzige deutsch-niederländische Korps ohne eine volle deutsche Division auskommen, zumal wenn es in ein Eingreifkorps verwandelt werden soll: Dazu müssten wenigstens zwei deutsche Brigaden verfügbar sein. Ohne zwei volle deutsche Brigaden könnte das "Eurocorps" nicht als Korps eingesetzt werden, also auch nicht an der alliierten Bündnisverteidigung teilnehmen. Das deutsch-amerikanische Korps, das der US-Präsenz in Deutschland und Europa Bodenhaftung gibt und die deutsche Ankerfunktion im Verhältnis zu den US-Streitkräften in Europa materialisiert, braucht eine volle Division mit drei Brigaden, wenn die Einsatzfähigkeit nicht gemindert werden soll. Schließlich wird eine deutsche Division wie bisher im "Alliierten Schnellen Eingreifkorps" ARRC, dem britisch-deutsch-belgischen Korps, gebraucht, um dieses als Großverband einsatzfähig zu erhalten.

Es bliebe dann noch eine einzige mechanisierte Division im bisherigen IV. deutschen Korps, dem einzigen Großverband unter nationalem Befehl, der allerdings nach der jüngsten Planung des neuen Generalinspekteurs zum zentralen "Einsatzführungskommando" der Bundeswehr umgewidmet werden soll. Seine beiden Divisionen würden frei für die Landesverteidigung im NATO-Rahmen, etwa im deutsch-dänisch-polnischen Korps. Zwei Divisionsstäbe sollen zur operativen Führung von internationalen Eingreifverbänden bereit sein. Die Divisionen selbst sollen die oberste Ebene der operativen Truppenführung im deutschen Heer sein und von den territorialen Aufga-

ben der Wehrbereiche wieder abgelöst werden. Die NATO interessiert sich vor allem für ihre Beweglichkeit, Kampfstärke und tatsächliche Verfügbarkeit wie für die der Luftwaffendivisionen mit ihren Geschwadern in der alliierten Luftverteidigung. Wie immer man die fünf schweren Divisionen und die zehn schweren Brigaden verteilt - gleich, ob man nach Divisionen (mit je zwei oder drei Brigaden) oder nur nach Brigaden rechnet -, die Zahl der deutschen Bausteine für nationale und multinationale Verbände der NATO wird gerade noch ausreichen, um den derzeit definierten Bedarf zu decken. Reserven und Aufwuchsfähigkeit durch Mobilmachung für "reconstitution of forces" wird die NATO vermissen müssen. Zwar soll die Wehrpflicht als Rekrutierungsbasis auch für Zeit- und Berufssoldaten und als Mobilmachungs-Reservoir erhalten bleiben. Es werden sich auch freiwillige Reservisten finden lassen. Doch der tatsächlich erreichbare Umfang bleibt im Ungewissen wie die Zahl und Qualität der freiwilligen Berufs- und Zeitsoldaten. Die Alliierten haben damit kein besonderes deutsches Problem, sondern ein eigenes, das allen Ländern ohne Wehrpflicht oder mit einem nur geringfügigen Milizdienst gemeinsam ist.

Auf dem Balkan hat sich die hohe soldatische Qualität der deutschen Truppe gezeigt, die auf Wehrpflicht und freiwilligem Einsatz beruht. Andere Bündnisländer müssen ihre Soldaten als Freiwillige zumeist in den sozialen Bevölkerungsschichten gewinnen, in denen Berufsbildung wie Allgemeinbildung nur auf niedrigem Niveau zu finden sind. Dies ist schon lange so in Großbritannien und in den USA. Es könnte sich in den Niederlanden wiederholen und dürfte bald auch in Frankreich der Fall sein. Die NATO ist also daran gewöhnt. Ob die Bundeswehr mit oder ohne Wehrpflicht eine potente Streitmacht ist und ihre Aufgaben im Bündnis erfüllt, ist für die NATO- und EU-Partner unerheblich: Auf das Resultat kommt es an - die Wahrheit des Experiments Bundeswehr-Reform liegt für die Alliierten auf dem Schauplatz des Geschehens. Dort wird die Probe aufs Exempel gemacht.

Dr. sc. pol. (habil.), geb. 1927; 1981/82 Stellv. Regierungssprecher in Bonn; 1982-1989 beamteter Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung; seit 1993 Professor an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln.

Anschrift: Beringstr. 12, 53115 Bonn.

Veröffentlichungen u. a.: Mittelstreckenwaffen in Europa, Baden-Baden 1987; Zeitenwende in Europa, Stuttgart 1990; Aufstieg und Niedergang des Russischen Reichs, Stuttgart 1992; Deutschland als Europäische Macht, Bonn 1996.