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Ist die Europäische Union als wehrhafte Demokratie gescheitert? - Essay | Europa | bpb.de

Europa Editorial Ist die Europäische Union als wehrhafte Demokratie gescheitert? EU-Politik in Krisenzeiten. Krisenmanagement und Integrationsdynamik in der Europäischen Union Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Wer kann, geht voran Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Mitgliedsstaaten zweiter Klasse? Zu viel Europa? Europäische Gerichte in der Kritik Gibt es eine europäische Öffentlichkeit? Forschungsstand, Befunde, Ausblicke Neuer Schwung für Europa? Lehren aus der Vergangenheit und aktuelle Handlungsfelder Europa an der Spitze? Ein Blick von außen auf die Zukunft der Europäischen Union

Ist die Europäische Union als wehrhafte Demokratie gescheitert? - Essay

Jan-Werner Müller

/ 17 Minuten zu lesen

Die EU kann Verstöße ihrer Mitgliedstaaten gegen gemeinsame Grundwerte sanktionieren, tut das aber selten. Wie kann sie mit illiberalen Tendenzen in Ungarn und Polen umgehen?

Ist die EU eine wehrhafte Demokratie? Eine plausible Antwort fällt anders aus, als mancher denken mag: Man kann mit guten Gründen anzweifeln, dass die Union in ihrer jetzigen Form eine Demokratie ist – aber dass das Institutionengefüge, das der frühere Kommissionspräsident Jacques Delors einmal als "unidentifiziertes politisches Objekt" (UPO) bezeichnete, gegenüber politischen Feinden wehrhaft sein soll, das steht seit spätestens Ende der neunziger Jahre fest: Seinerzeit wurden spezifische Sanktionen für diejenigen Mitgliedsstaaten, die gegen gemeinsame europäische Grundwerte verstoßen, in die Verträge aufgenommen.

Bis heute ist keine dieser Sanktionen angewendet worden – obwohl es derzeit in der EU zwei Regierungen gibt, die ohne Zweifel auf eine Weise agieren, die mit demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien schlicht nicht in Einklang zu bringen ist: die Regierungen in Ungarn und Polen. Zeigt dies nun, dass es die EU-Vertreter mit ihren Werten nicht ernst meinen? Oder liegt es weniger an Individuen als an schlecht konstruierten Institutionen? Um hier eine Antwort zu finden – und bessere Lösungen ins Auge zu fassen – bedarf es zuerst eines kleinen historischen Rückblicks: Warum wurde die EU wehrhaft gemacht? Hatte man Szenarien wie heute in Budapest und Warschau überhaupt im Auge? Darüber hinaus braucht es eine realistische Bewertung der derzeit verfügbaren wehrhaften Institutionen (oder, wie es im EU-Jargon heißt: "der Instrumente"). Meine These – die auf den ersten Blick paradox anmuten mag – lautet wie folgt: Je mehr sich die EU demokratisiert, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sie als wehrhafte Demokratie funktionieren kann. Es bedarf einer unabhängigen, von parteipolitischem Druck möglichst isolierten Institution, die über Europas Werte wacht; mein Vorschlag ist, diese neue Einrichtung "Kopenhagen-Kommission" zu nennen.

Eine kurze Geschichte von Demokratie und Wehrhaftigkeit in Europa

In Sonntagsreden heißt es häufig, die EU sei gegründet worden, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa zu verankern. Das klingt schön, ist aber eine Geschichtsklitterung. Die Europäische Gemeinschaft (EG) hatte in der Tat von vornherein einen politischen Zweck: Man wollte durch die Verflechtung der Volkswirtschaften Wohlstand und Frieden fördern. Die Sicherung von Demokratie und Menschenrechten oblagen jedoch einem anderen, in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegründeten Gebilde: Dem Europarat, der insofern eine viel direktere politische Rolle hatte.

Diese Arbeitsteilung zwischen EG beziehungsweise EU und Europarat funktionierte lange leidlich gut; auch heute noch verlässt sich Brüssel regelmäßig auf die verfassungsrechtliche Kompetenz der Experten der Venedig-Kommission, dem Gremium des Europarats zur Förderung der Demokratie durch Rechtsstaatlichkeit. Doch vor allem seit den siebziger Jahren wurde ein gewisses Ungleichgewicht immer deutlicher. Zwar waren dies für die Europäische Gemeinschaft die Jahre der "Eurosklerose" (Rückkehr zu protektionistischen Tendenzen gepaart mit steigendem Reformdruck) – gleichzeitig zeigte sich aber auch, dass die südeuropäischen Länder, die in jenem Jahrzehnt den Übergang von Diktatur zu Demokratie schafften, einen EG-Beitritt als entscheidend für eine langfristige Sicherung der Demokratie erachteten. Dieser Trend verstärkte sich noch einmal nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989: Die osteuropäischen Staaten strebten nicht nur aus ökonomischen, sondern auch aus politischen Gründen in die EU. Eine Mischung aus kalkulierendem Realismus und demokratischem Idealismus fand sich auch im Westen des Kontinents: Man wollte mit dem in Frieden und Freiheit geeinten ganzen Europa ernst machen – aber hatte auch ein Auge darauf, durch die Osterweiterung die Gefahr eines europäischen "Hinterhofes" von politischer Instabilität abzuwenden.

Dass man den Osteuropäern nicht ganz traute, zeigte sich an der Aufnahme eines Artikels zum Schutz von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten in die europäischen Verträge. Eine Regierung, die diese Werte verletzt, sollte von nun an mit Entzug der Stimme im Europäischen Rat bestraft werden (Artikel 7 Vertrag über die Europäische Union, EUV). Es ist eine kleine Ironie der Geschichte, dass diese Schutzvorrichtung seinerzeit vor allem von Italien und Österreich gefordert worden ist – also Länder, die selbst in den Verdacht geraten sollten, europäische Werte zu missachten. In Italien griff Berlusconi schamlos die Justiz an und brachte immer mehr Medien unter seine Kontrolle. In Österreich kam im Jahr 2000 die rechtspopulistische FPÖ als Partner der christdemokratischen ÖVP an die Macht – was die übrigen 14 EU-Mitglieder zu "Sanktionen" veranlasste, die im Nachhinein oft als blamabel für die Union beschrieben wurden.

Bis heute spielen zum Teil sehr verfälschte Erinnerungen an diese unrühmliche Episode in der Geschichte der EU eine wichtige Rolle; man wehrt allein schon den Gedanken an Sanktionen gegenüber Mitgliedsstaaten mit dem Argument – oder eigentlich nur der Analogie – ab, das sei 2000 so desaströs schief gelaufen. Dabei war die EU gar nicht tätig geworden; es handelte sich um bilaterale, größtenteils eher symbolische Sanktionen. Wien konnte sich mit guten Gründen beschweren, dass die EU ja bereits einen Mechanismus gegen Demokratie-Sünder habe, den traue man sich aber offenbar nicht zu aktivieren. Gleichzeitig bedienten sich die anderen Regierungen zur Verkündung ihrer Sanktionen der Website der portugiesischen Ratspräsidentschaft, um der ganzen Aktion doch eine Art supranationale Legitimität zu verleihen. So fiel es dem damaligen österreichischen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel relativ leicht, das Land hinter sich gegen das zu einen, was fälschlicherweise immer als "Sanktionen gegen Österreich" bezeichnet wurde, obwohl es sich doch um vorbeugende Maßnahmen gegen eine bestimmte Regierung handelte. Letztlich wurden die Sanktionen auf Empfehlung einer Expertenkommission aufgehoben. Es blieb der Eindruck, Europa habe sich mit den Sanktionen ins eigene Fleisch geschnitten. Als Reaktion wurde das Repertoire von europäischer Wehrhaftigkeit um eine Art Vorwarnstufe ergänzt – die EU konnte bereits tätig werden, wenn nur eine Gefahr der Verletzung von Grundwerten bestand. Zudem wurde die Fundamental Rights Agency gegründet, um den Schutz der Menschenrechte in Europa konsistent und kontinuierlich zu beobachten.

Ungarn nach 2010: Lektionen aus dem Versagen europäischer Wehrhaftigkeit

Im April 2010 errang Viktor Orbáns Partei Fidesz eine absolute Mehrheit bei den nationalen Wahlen in Ungarn und eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Diese nutzte er, um den ungarischen Staat systematisch umzugestalten. Hier ist nicht der Ort, die einzelnen Schritte in Richtung eines Regimes mit eindeutig autoritären Zügen im Detail nachzuzeichnen – das ist mittlerweile oft genug geschehen. Was bis heute fehlt, ist eine systematische Bestandsaufnahme des Versagens der EU gegenüber der Orbán-Regierung. Dieses Versagen schuf einen Präzedenzfall; heute ist es sehr viel schwieriger, effektiv gegenüber den Machthabern in Warschau zu handeln, weil es mit Ungarn bereits einen sich selbst als "illiberal" bezeichnenden Staat gibt, der geschworen hat, jegliche Sanktionen gegenüber Polen zu verhindern.

Für das Versagen Europas gibt es drei Gründe. Vielleicht im Rückblick am wichtigsten war erstens ein eigenartiger Defätismus: Von vornherein wurde so gut wie kategorisch ausgeschlossen, die vorhandenen vertraglichen Mittel auch wirklich zu nutzen. Der damalige Kommissionspräsident José Manuel Barroso bezeichnete Artikel 7 ein ums andere Mal als "nukleare Option", was ja nichts anderes signalisierte, als dass man diese Option nie nutzen würde – womit man sich aber auch von vornherein eines Drohmittels beraubte. Bis heute gilt es bei vielen Akteuren wie auch Beobachtern als ausgemacht, dass Artikel 7 unbrauchbar ist. Nur: Warum eigentlich? Wenn morgen in einem EU-Land die Generäle putschten, würde man immer noch sagen, die "nukleare Option" sei von vornherein außen vor?

Zweitens zeigte sich eine klare Asymmetrie zwischen Brüssel und Budapest, da es ersterem an Informationen und effektiven rechtlichen Mitteln jenseits von Artikel 7 fehlte. Orbáns Partei Fidesz ist eine Partei von Juristen – und diese schafften es jahrelang, Beobachter von außen an der Nase herumzuführen. Auf jegliche Kritik an neuen Institutionen und Elementen in der Verfassung antwortete man mit gelehrten verfassungsvergleichenden Ausführungen, nach dem Motto, die EU messe mit zweierlei Maß, denn was man an Budapest kritisiere, gebe es in anderen europäischen Ländern auch. Wobei jedoch regelmäßig unterschlagen wurde, dass es beispielsweise zwar nicht in jedem europäischen Land ein Verfassungsgericht gibt, aber eben doch ein effektives System von Gewaltenteilung – was in Ungarn so gut wie nicht mehr nachweisbar ist. Aber auch politisch vermochte man Brüssel irrezuführen: Jahrelang ließen europäische Eliten sich von Orbáns Argument beeindrucken, dass, wenn man ihm das Leben zu schwierig mache, demnächst die rechtsextreme Jobbik an der Macht sein werde. Was den wenigsten auffiel, war, dass Fidesz selbst längst viele der von Jobbik geforderten Maßnahmen umsetzte. Neben diesem Informationsdefizit sah sich die Kommission noch einem anderen Problem gegenüber: Ihr Repertoire von Vertragsverletzungsverfahren ist nicht wirklich geeignet zum Schutz von Demokratie und Rechtsstaat. Zwar konnte man in Bereichen wie Justiz und Medienpluralismus auf Basis der Verträge tätig werden, aber das eigentliche Problem der Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaat ließ sich damit nicht angehen. Ein Beispiel: Die Fidesz-Regierung reduzierte das Pensionsalter von Richtern drastisch – um den Apparat dann mit eigenen Leuten besetzen zu können. Die Kommission leitete ein Verfahren wegen Diskriminierung aus Altersgründen ein – und siegte damit auch vor dem Gerichtshof in Luxemburg. Nur bekamen die Richter ihre Ämter nicht zurück; stattdessen gab es eine Entschädigung. Die Kommission konnte individuelle Ungerechtigkeiten zu fassen kriegen, das systemrelevante Problem einer parteipolitisch motivierten Ausrichtung des Justizapparats aber nicht.

Drittens wurde sehr bald deutlich, dass Parteipolitik in der EU eine wichtige Rolle spielt. Für diejenigen, die sich eine weitergehende Demokratisierung der EU wünschen, ist dies prinzipiell eine gute Nachricht. So wurde ja bereits die Wahl zum Europäischen Parlament 2014 als Kampf zweier Spitzenkandidaten verschiedener Parteifamilien inszeniert. Dies hatte jedoch auch zur Folge, dass die europäischen Christdemokraten sich immer wieder dezidiert hinter Orbán stellten – und Kritik an dem Mann, der sich selbst stolz "illiberal" nennt, als rein parteipolitisch motiviert zurückwiesen. Zwar gab es auch deutliche Worte von Christdemokraten – die luxemburgische Kommissarin Viviane Reding oder auch der amtierende Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sind kaum als Orbán-Freunde zu bezeichnen – doch schreckte man im entscheidenden Moment immer wieder vor deutlichen Worten und vor allem konkreten Maßnahmen zurück. 2014 machte Joseph Daul, der Vorsitzende der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP), lautstark Wahlkampf für seinen "Freund" Viktor Orbán auf dem Budapester Heldenplatz; da fiel es schwer, diesen "Freund", als er ein Jahr später laut über die Wiedereinführung der Todesstrafe in Ungarn nachdachte, effektiv zu kritisieren – obwohl gerade für Christdemokraten ein Thema wie die Todesstrafe eine absolute rote Linie markieren sollte.

Hier muss man leider ein Paradox konstatieren: Je mächtiger eine demokratische Institution wie das Europäische Parlament geworden ist, desto negativer können die Folgen für die Demokratien in einzelnen Mitgliedsstaaten sein. Zu Zeiten, als das Parlament noch eine weitgehend symbolische Funktion hatte, wäre es den Christdemokraten sicher viel leichter gefallen, Fidesz aus der EVP auszuschließen. Aber heute sind die Fidesz-Abgeordneten zum Erhalt der Mehrheit in Straßburg und Brüssel tatsächlich wichtig, und diese Mehrheit wiederum kann wirklich etwas bewegen. Zugespitzt gesagt ergibt sich folgendes Dilemma: Je mehr sich das gesamteuropäische Demokratiedefizit verringert, desto grösser kann es in Mitgliedsstaaten werden, in denen eine Regierung sich dem Projekt eines gnadenlosen Machterhalts verschrieben hat.

Neue "Instrumente"?

Das Versagen gegenüber Ungarn blieb natürlich auch in Brüssel nicht unbemerkt. Im Frühjahr 2014 stellte die Kommission einen neuen "Rechtsstaatsmechanismus" vor, der einem weiteren europäischen Frühwarnsystem gleichkam. Bisher konnte die Kommission ohne Parlament und Regierungen so gut wie nichts in Sachen Grundwerteverletzungen unternehmen; nun war die entscheidende Innovation, dass die Kommission eigenständig im Falle einer systematischen Gefährdung des Rechtsstaats in einem Mitgliedsstaat tätig werden kann. Der neue "Mechanismus" blieb jedoch einem Muster treu, das sich schon während der Konflikte mit Budapest immer wieder gezeigt hatte: Die Kommission ging davon aus, dass sich in einem Dialog mit der Regierung eines Mitgliedsstaates die Probleme letztlich einvernehmlich lösen lassen. Die Grundannahme war also die letztlich technokratische, dass alle Seiten an der sachlichen Lösung eines Problems interessiert sind – anstatt einzugestehen, dass es sich eigentlich um einen politischen Konflikt handelt, bei dem die betreffende nationale Regierung alles daran setzen wird, nicht durch Kleinbeigeben das Gesicht zu verlieren. Vor allem änderte der neue Mechanismus aber nichts an der Tatsache, dass auch der Kommission letztlich keine andere Möglichkeit blieb als der Versuch, Artikel 7 auszulösen – und dieser galt auch nach 2014 weiterhin als "nukleare Option".

Der erste Testfall für den neuen Mechanismus ließ nicht lange auf sich warten. Aus den Parlamentswahlen in Polen im Oktober 2015 ging die rechtspopulistische Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) siegreich hervor; sie hatte zwar keine verfassungsändernde, aber doch immerhin eine absolute Mehrheit. Zudem hatte die PiS bereits im Frühjahr 2015 die Präsidentschaftswahl gewonnen. Die Regierung von Beata Szydło ging von Anfang an mit einer Brutalität vor, auf die sogar ein Viktor Orbán neidisch sein musste: Die öffentlichen Medien wurden parteipolitisch neu ausgerichtet, das Verfassungsgericht systematisch als Kontrollorgan ausgeschaltet; im Sommer 2017 versucht man, der Unabhängigkeit der Justiz ganz ein Ende zu setzen. Zwar legte der Präsident Andrzej Duda sein Veto gegenüber zweien der drei gefährlichsten Gesetzesvorhaben ein – was auf eine mögliche Spaltung innerhalb der PiS hindeutete, aber auch zeigte, dass massive Proteste der Zivilgesellschaft innerhalb eines Landes einen wichtigen Beitrag zur Wehrhaftigkeit leisten können. Die Kommission reagierte auf alle Verstöße gegen die Grundwerte, und ließ es auch an deutlicher Kritik gegenüber Warschau nicht fehlen (die Tatsache, dass PiS nicht Mitglied einer der mächtigen Parteifamilien in der EU ist, machte die Sache sicher etwas einfacher). Aber Ultimatum um Ultimatum zur Kursänderung sollte verstreichen – auf Trotzreaktionen seitens der polnischen Regierung antwortete Brüssel einfach mit einer neuen Frist – welche Warschau wiederum auch nicht beeindrucken sollte. Zwar wandte sich Frans Timmermans, Erster Vizepräsident der Kommission und von Juncker eigens zu einer Art Hüter der Rechtsstaatlichkeit in der EU ernannt, in einem Zeitungsartikel direkt an die polnischen Bürger. Aber auch dieser an sich lobenswerte Versuch, direkt in die innerpolnische Diskussion einzugreifen, blieb folgenlos. Je aktiver Brüssel wurde, desto vehementer verteidigte Warschau die vermeintlich gefährdete polnische Souveränität. Das offensichtliche Gegenargument, dass Polen sich freiwillig dem EU-Club angeschlossen habe und dementsprechend auch die Club-Regeln einhalten müsse, wurde mit der Behauptung abgetan, die Mahnungen der Kommission seien von partikularen liberalen Werten motiviert. Der polnische Außenminister Witold Waszcykowski verstieg sich zu der erstaunlichen Behauptung: "Als müsse sich die Welt nach marxistischem Vorbild automatisch in nur eine Richtung bewegen – zu einem neuen Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen. Das hat mit traditionellen polnischen Werten nichts mehr zu tun."

Orbán schien erst jetzt zu merken, was man in der EU alles machen kann, ohne Sanktionen zu fürchten. Bisher hatte er nach eigenen Aussagen immer einen "Pfauentanz" aufgeführt – was hieß, dass er in Brüssel das eine sagte, im eigenen Land aber das andere machte, beziehungsweise bei besonders drastischen Verstößen gegen demokratische Grundwerte bereit war, nach drei Schritten vorwärts einen oder zwei Schritte zurück zu tun. Im Frühjahr 2017 aber stand das Vorgehen von Fidesz der Brutalität von PiS in nichts mehr nach: Neue Gesetze wurden erlassen, um die Zivilgesellschaft zu schwächen und die weitgehend vom US-Investor und Philanthrop George Soros finanzierte Central European University de facto zur Schließung zu zwingen. Zudem startete die Regierung eine "nationale Konsultation" mit dem Titel "Lasst uns Brüssel stoppen!" (eine Bürgerbefragung mit manipulativen Fragen, um die EU als Gefahr für Ungarn erscheinen zu lassen) sowie eine Kampagne gegen Soros persönlich, die sich schamlos antisemitischer Stereotypen bediente.

Auch hier blieb die Kommission nicht untätig: Timmermans initiierte eine Aufklärungskampagne gegen die in der "nationalen Konsultation" suggerierten Unwahrheiten; zudem leitete die Kommission Vertragsverletzungsverfahren gegen das "Lex CEU" sowie das "Lex NGO" ein. Orbán ließ keinen Zweifel daran, dass ihn diese Maßnahmen nicht beeindrucken würden. Er konnte sich seiner Sache wohl auch deswegen so sicher sein, weil einmal mehr EVP-Granden wie Daul und Manfred Weber keinerlei wirkliche Kritik an seiner Regierung äußerten.

Was tun? Die Idee einer Kopenhagen-Kommission

Was also tun angesichts des offensichtlichen Versagens der EU? Es gilt zuerst noch einmal einen Blick auf den bereits existierenden Artikel 7 zu werfen. Er legt die Hürden in der Tat sehr hoch, um Sanktionen auszulösen: Mitgliedsstaatliche Regierungen, Europäisches Parlament und Kommission müssen sich letztlich einig sein, dass eine Regierung die Grundwerte dauerhaft verletzt. Das besondere Problem scheint bei den nationalen Regierungen zu liegen, denen man mit Artikel 7 eine Art peer review eines anderen Landes anvertraut (was ungefähr so wäre, als würde man in Deutschland die Entscheidung über ein Parteienverbot vor allem anderen Parteien überlassen). Die Hemmungen europäischer Regierungen, sich irgendeines Teils von Artikel 7 zu bedienen, haben damit zu tun, dass offizielle Verurteilungen eines Mitgliedslandes der ganzen EU-Kultur von Konsens und Kompromiss zuwiderlaufen (wobei man sich allerdings nach den Konfrontationen des Jahres 2015 in der Griechenland- und Flüchtlingskrise fragen kann, ob das Klima in der EU vielleicht doch rauer wird – und Mitgliedsstaaten in Zukunft eher bereit sein werden, ihre peers an den Pranger zu stellen).

Ganz unabhängig von Spekulation darüber, ob die Mitgliedsstaaten jemals einen der ihren ausschließen und damit einen Präzedenzfall schaffen würden, ist es wichtig zu verstehen, was Artikel 7 seiner Natur nach eigentlich ist. Er verhängt eine Art Quarantäne über eine Regierung, frei nach dem Motto: "Ihr dürft über den Rest der Union nicht mehr mitbestimmen." Er isoliert einen Staat von den anderen Mitgliedsländern, stellt aber an sich keine Intervention in diesem Staat dar. Unter Umständen könnte sich eine Regierung ganz gut mit dem Verlust der Rolle im Europäischen Rat einrichten – und innerhalb des Landes fröhlich mit dem Abbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit weitermachen. Das legt die Überlegung nahe: Die EU müsste zu wirklichen Interventionen – und nicht nur einer Isolierung – fähig sein.

Wünschenswert ist meiner Ansicht nach eine Institution, die kurzfristig eine Art politischen Alarm auslösen kann – und über Fachkompetenz, politische Urteilskraft sowie Autorität verfügt, eigens Untersuchungen anzustellen, um einen Alarm ausreichend zu begründen, und, nicht zuletzt, um eigenständig Sanktionen zu veranlassen. Eine derartige Institution kann einem Gericht in mancher Hinsicht ähneln, aber sie sollte keine Kopie eines Gerichtes sein: Sie muss nicht nur individuelle Rechtsverletzungen in den Blick nehmen, sondern das gesamte politische Institutionengefüge eines Staates erfassen können. Sie muss überparteiisch sein, aber eben nicht im strikten Sinne unpolitisch, weil es ja gerade um dezidiert politische Herausforderungen (und den Blick auf ein politisches Gesamtbild) geht.

Wird hier nicht das Rad neu erfunden? Hängt der Prozess der EU-Erweiterung nicht von genau dieser Art Urteilen ab? Sind die "Kopenhagener Kriterien", die unter anderem Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als Vorbedingung für einen EU-Beitritt fordern, nicht eben jene Art von Kriterien, die auch innerhalb der EU nun wieder angewendet werden sollten? Es leuchtet ein, die vor der großen Erweiterung 2004 gewonnenen Erfahrungen fruchtbar zu machen. Es ist aber auch zu bedenken, dass der Erweiterungsprozess eben oft im "Checklist-Verfahren" vorgenommen wurde: Beamte machten Häkchen bei den einzelnen Kästchen ("Haben die Gerichte funktionstüchtige Computer, ja oder nein?"), ohne sich zu fragen, ob denn beispielsweise der Rechtsstaat bei den Bürgern am Ende wirklich als effektiv gelten kann. Urteilskraft – das heißt eben, dass man nicht einfach mechanisch Regeln anwenden oder Listen abarbeiten kann.

Sinnvoll wäre also eine Institution, die "holistischer" vorgeht, ohne das Erbe der Kopenhagener Kriterien zu verleugnen. "Kopenhagen-Kommission", in Anlehnung an die Venedig-Kommission des Europarates, wäre ein passender Name. Idealerweise würde diese Kommission routinemäßig – vielleicht gar jedes Jahr – Berichte über den Zustand des Rechtsstaats und der Demokratie in allen Mitgliedsländern erstellen. Die Absicht solcher Berichte bestünde nicht darin, Krittelei an jedem Aspekt nationaler Institutionen zu legitimieren oder einen letztlich unpolitischen Traum völlig homogener Rechtsstaatlichkeit zu verwirklichen, sondern in dem Versuch, systematische Probleme möglichst rasch paneuropäisch zur Sprache zu bringen.

Warum, so mag man allerdings einwenden, eigentlich nicht die Kommission, also die Europäische Kommission, damit beauftragen, anstatt schon wieder eine neue (teure) supranationale Einrichtung zu schaffen? Es scheint, dass die Europäische Kommission in den kommenden Jahren bewusst politisiert werden wird. Bald könnte der Präsident der Kommission ganz direkt gewählt werden (und eines Tages vielleicht ein parteipolitisch homogenes "Kabinett" von Kommissaren um sich scharen). Es sei dahingestellt, ob eine solche Politisierung die Legitimitätsdefizite der EU ausgleichen kann – recht sicher ist, dass eine derartige Kommission sich nicht mehr wie bisher als überparteiliche Hüterin der Verträge darstellen könnte und deswegen auch viele regulatorische Funktionen ausgliedern müsste.

Die bereits existierenden Verdachtsmomente – das entsprechende Misstrauen wird von PiS, Orbán und ihren Verbündeten kräftig geschürt –, beim supranationalen Schutz von Rechtsstaat gehe es eigentlich nur um Parteipolitik oder paneuropäischen Kulturkampf mit anderen Mitteln, würden noch einmal deutlich verstärkt. Man kann also nicht so ohne Weiteres beides gleichzeitig haben: Demokratieschutz und direkt demokratisch legitimierte Institutionen zum Demokratieschutz, weswegen ja auch in der Bundesrepublik nicht Berlin, sondern Karlsruhe Parteien verbieten kann.

Die Kopenhagen-Kommission sollte warnen können, dass in einem Mitgliedsland Rechtsstaat und Demokratie in Gefahr sind. Natürlich muss die betreffende Regierung die Möglichkeit haben, sich zu verteidigen, beziehungsweise die Probleme nach informellen Gesprächen anzugehen. Die Kopenhagen-Kommission muss ihre Kritik aber auch von vornherein öffentlich machen dürfen – zum Beispiel in Form eines Warnschusses, der überall im gemeinsamen europäischen Haus zu hören sein würde. Wenn eine Regierung nicht umdenkt, sollten die "Kopenhagener" die Europäische Kommission dazu veranlassen können, Fördergelder einzufrieren – eine Idee, die schon von den Außenministern Dänemarks, Finnlands, der Niederlande und Deutschlands in einem Brief an den seinerzeitigen Kommissionspräsidenten Barroso ins Spiel gebracht und jüngst von deutscher Seite wieder forciert worden ist.

Weiterhin wären politische Urteilsbildung und Ausführung der Sanktionen getrennt – wobei das Problematische an solchen Sanktionen zweifelsohne wäre, dass sie alle oder im Falle von Strukturfonds im Zweifel gar die Ärmsten eines Landes treffen könnten, statt spezifisch die Regierung. Allerdings gilt auch, dass EU-Subventionen oftmals ohnehin nicht den Ärmsten zugutekommen, sondern bei Spezis der Regierung (oder gar direkt bei der Regierung) landen. Mit guten Gründen hat man Ungarn inzwischen als eine Art "Mafia-Staat" bezeichnet, in dem sich die "Fidesz-Familie", mit Orbán als eine Art "Padrone", systematisch bereichert und zudem durch ökonomische Abhängigkeiten (und die umfassende Politisierung der Wirtschaft) ihre Macht immer weiter ausbaut. Mit anderen Worten: In einem Fall wie Ungarn trägt EU-Geld entscheidend dazu bei, einen erklärten Feind der EU im Amt zu halten. Emmanuel Macron hatte Recht, als er vor kurzem anmerkte, Europa sei kein Supermarkt, und es werde geschwächt, wenn es einfach akzeptiere, dass man seine Prinzipien ablehne.

Im Übrigen sollten die weiter oben diskutierten rechtlichen und politischen Instrumente intakt bleiben. Idealerweise würde Artikel 7 allerdings noch um die Möglichkeit erweitert, ein Mitgliedsland ganz aus der Union auszuschließen. Ein solches Szenario ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, unmöglich ist es allerdings auch nicht. Derzeit könnte eine Militärdiktatur offiziell in der EU verbleiben – nur eben ohne Stimmrechte im Rat. Eigentlich ein skandalöser Zustand und eine völlige Missachtung der Tatsache, dass eine politische Gemeinschaft entweder umfassende Interventionsmöglichkeiten im Innern oder eine Art "right to expel" haben muss. Derzeit verfügt die EU weder über das eine noch das andere.

ist Politikwissenschaftler und lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte in Princeton, USA. 2016 erschien sein Buch "Was ist Populismus?" (Suhrkamp). E-Mail Link: jmueller@princeton.edu