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Europa an der Spitze? | Europa | bpb.de

Europa Editorial Ist die Europäische Union als wehrhafte Demokratie gescheitert? EU-Politik in Krisenzeiten. Krisenmanagement und Integrationsdynamik in der Europäischen Union Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Wer kann, geht voran Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Mitgliedsstaaten zweiter Klasse? Zu viel Europa? Europäische Gerichte in der Kritik Gibt es eine europäische Öffentlichkeit? Forschungsstand, Befunde, Ausblicke Neuer Schwung für Europa? Lehren aus der Vergangenheit und aktuelle Handlungsfelder Europa an der Spitze? Ein Blick von außen auf die Zukunft der Europäischen Union

Europa an der Spitze? Ein Blick von außen auf die Zukunft der Europäischen Union - Essay

Steven Hill

/ 15 Minuten zu lesen

Seit Jahren werden EU-Bürger mit Schlagzeilen bombardiert, die das Ende der EU verkünden. Aus US-amerikanischer Sicht sehen Gegenwart und Zukunft Europas jedoch weniger düster aus.

Hiermit möchte ich als US-Bürger den ganz normalen EU-Bürger zum "Helden des Jahres" ernennen. Seit fast einem Jahrzehnt sind Europäer dem medialen Trommelfeuer einer "Schlagzeilen-Schizophrenie" ausgesetzt: Brexit, Grexit, Instabilität der Eurozone, der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, Flüchtlinge, Terrorismus, das Aufkommen von Populismus – und bei alldem handelt es sich angeblich um todbringende Gebrechen. Vor etwa einem Jahr erklärte der damalige französische Premierminister Manuel Valls, Europa könne "innerhalb weniger Monate zerbrechen".

Doch das tat es nicht. Stattdessen hob die Europäische Kommission erst vor Kurzem hervor, die europäische Wirtschaft befinde sich im fünften Jahr in Folge in einer Phase der Konsolidierung, der Beschäftigungsstand innerhalb der EU habe wieder das Niveau von vor der globalen Finanzkrise erreicht, und die Eurozone werde ein noch stärkeres Wachstum zeigen als bisher prognostiziert. Angesichts einer Nettoarbeitsplatzbeschaffung von acht Millionen neuen Jobs erklärt die Europäische Zentralbank, die Erholung der Eurozone werde sich stetig fortsetzen. Angaben des Statistischen Bundesamts zufolge fährt die Wirtschaftslokomotive der EU auf Expansionskurs.

Tatsächlich war die Lage in Europa nie so schlimm, wie manche es gerne darstellen. Auch verkündeten Populisten und Medien nicht zum ersten Mal "das Ende Europas". Schon zu Beginn der 2000er Jahre hatten die meisten Analysten, ob in Europa oder in den USA, die europäische Wirtschaft, vor allem die deutsche, als "kranken alten Mann" abgeschrieben und erklärt, sie sei dem Untergang geweiht. Hier einige Kostproben reißerischer Schlagzeilen aus den Leitmedien: "Das Ende von Europa", "Europa funktioniert nicht", "Was ist faul an Europa?", "Stirbt Europa?", "Warum Amerika Europa abhängt" und dergleichen mehr.

Insbesondere die EU dient führenden Politikern gern als Prügelknabe und als willkommener Sündenbock, dem sie die Defizite des eigenen Landes ankreiden können. Aus diesem Grund sollte man den ganz normalen EU-Bürger dazu beglückwünschen, dass er beziehungsweise sie mit den Höhen und Tiefen des vergangenen Jahrzehnts zumeist würdevoll und besonnen fertig geworden ist. Anders als die USA, die derzeit offenbar von einer gefährlichen Klippe in den Abgrund von Trumpland stürzen, haben sich die meisten Mitgliedsländer dem Populismus bislang widersetzt.

Treten wir einen Schritt zurück und betrachten das große Ganze, so wird deutlich, dass ein wirtschaftlich und politisch dynamisches Europa heute nötiger ist denn je. Nach der Wahl von Donald Trump, dem Brexit, dem Aufstieg von Chinas "aufgeklärter Diktatur" und dem Wiedererwachen des russischen Bären benötigt die Welt dringend eine Führung, die auf Prinzipien wie Humanität, solider Demokratie und einem freien Markt mit menschlichem Antlitz beruht. Die USA tun sich diesbezüglich sichtlich schwer, und vor den nächsten Wahlen in vier Jahren ist kaum Besserung in Sicht. Wenn also Europa nicht die Führung übernimmt, wer dann? Japan? Kanada? Indien? Saudi-Arabien?

Europa ist keineswegs perfekt und sollte für seine Defizite in die Verantwortung genommen werden. Doch im Vergleich zu den Alternativen sieht es gar nicht so schlecht aus. Im Jahr 2100 – das nicht weiter in der Zukunft liegt als die Große Depression und der Aufstieg der Nationalsozialisten in der Vergangenheit – wird die Welt ganz anders aussehen.

Das Aufkommen neuer digitaler Technologien – Robotertechnik, künstliche Intelligenz, "intelligente" Maschinen und die "Zukunft der Arbeit" – wird unsere Zivilisation dramatisch verändern. Wie sich die digitale Wirtschaft in Europa entwickelt, entscheidet über die globale Zukunft und darüber, inwieweit diese auf den Werten von Humanismus und Gleichberechtigung sowie einem breit gestreuten Wohlstand beruht – oder zum neuesten und mächtigsten Instrument für Ausbeutung und den Abbau von Menschenrechten und Menschenwürde wird. Das Ringen um die Gestaltung des neuen Zeitalters hat bereits begonnen, und ich bin der festen Überzeugung, dass Europa dabei eine Führungsrolle übernehmen und es nicht einfach Silicon Valley, der Wall Street und Washington D. C. überlassen sollte, die Entscheidung für alle anderen zu treffen.

Wir stehen vor vielfältigen Weichenstellungen und damit vor einem ungewissen Zukunftsweg. Die EU muss der Situation gerecht werden. Wie schon Voltaire einst sagte: "Aber unverziehen bleibt das Gute, das wir nicht getan haben." Was also muss Europa tun?

Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft

Europa muss seine einzigartige Marke der "Sozialen Marktwirtschaft" neu beleben und im Hinblick auf das digitale Zeitalter so modernisieren, dass eine stärker technologiegesteuerte Zukunft weder Autoritarismus noch den Überwachungsstaat anwachsen und auch die Schere zwischen "Besitzern" und "Besitzlosen" nicht weiter auseinandergehen lässt. Wie die USA und ihr elitegesteuerter "Wall-Street-/Silicon-Valley-Kapitalismus" zeigen, wird dies ohne die entsprechenden Regulierungen nicht einfach werden; Regulierungen, die die Vorzüge einer integrativen Wirtschaft und eines Wohlstands, der möglichst vielen zugutekommt, erkennen. Geht es nach Silicon Valley und der Wall Street, so "besteht die Fabrik der Zukunft vielleicht aus 1000 Robotern und einem Arbeiter, der sie bedient", erklärt der Wirtschaftswissenschaftler Nouriel Roubini.

Europa hat jedoch eine Reihe von Trümpfen in der Hand. Ungeachtet seiner chronischen Uneinigkeit wird es von einem der stärksten Wirtschaftsmotoren der Welt angetrieben. Tatsächlich schnauft die Wirtschaftslokomotive der EU-Plus (die 28 Mitgliedsländer der EU plus Norwegen und die Schweiz) neben denen der USA und Chinas als eine der drei zugkräftigsten weltweit voran. Nach Angaben des Weltwirtschaftsforums umfasst sie so viele Fortune-500-Unternehmen wie die USA, Indien und Russland zusammen (insgesamt 140), mehr kleine und mittlere Unternehmen und elf von 20 der weltweit wettbewerbsfähigsten Volkswirtschaften. An dieser grundlegenden Tatsache ändert selbst der Brexit nichts.

Viele EU-Mitglieder sind aber nicht bloß kraftvolle kapitalistische Wirtschaftsmotoren, sondern auch führend, was Wirtschaftsdemokratie sowie eine Machtteilung zwischen den Sozialpartnern betrifft. Diese beruht auf Praktiken wie betrieblicher Mitbestimmung, Betriebsräten und schlagkräftigen Gewerkschaften. Dies wiederum fördert eine Konsultationskultur und einen noch breiteren allgemeinen Wohlstand samt Sozialleistungen wie eine allgemeine Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung, Bildung, Seniorenbetreuung, Renten, Arbeitsschutz und dergleichen. In einer Zeit zunehmender Ungleichheit, sogar im wohlhabenden Europa, weisen die meisten EU-Mitgliedsstaaten nach wie vor das geringste Einkommensgefälle weltweit auf und haben Standards gesetzt, die es im digitalen Zeitalter fortzuschreiben gilt.

Mag es zwischen den Mitgliedsstaaten auch deutliche Unterschiede geben, so ist doch ein "Europäischer Weg" klar zu erkennen. Dieser Weg ist weltweit führend, wenn es darum geht, wirtschaftliche Gerechtigkeit und eine starke Mittelschicht herzustellen. Der "Amerikanische Weg" hingegen hinkt hinterher, was die Unterstützung von Familien und Arbeitern angeht – und dies schon vor dem Aufstieg von Donald Trump –, und auch in Bezug auf die Entwicklung einer Vision, die wirtschaftliche Gleichberechtigung hochhält.

Als weltweit führend erweist sich die EU auch beim Bestreben, ein weiteres entscheidendes Ziel zu erreichen, nämlich ökologische Nachhaltigkeit. Mit Deutschland und seiner "Energiewende" als treibende Kraft geht Europa ambitioniert voran im Bereich der erneuerbaren Energien und effizienten Nahverkehrssystemen. Europa versucht, "grünes Design" wo immer möglich zu integrieren – das Spektrum reicht von öffentlichen Gebäuden, Häusern und Autos über stromsparende Leuchtmittel und sensorgesteuerte Beleuchtung bis hin zu wassersparenden Toilettenspülungen. Statt der Wirtschaft zu schaden, haben diese Bemühungen im Gegenteil Hunderttausende neue "grüne" Jobs geschaffen.

Es ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit, für ökonomische wie ökologische Nachhaltigkeit zu sorgen. Wenn dieses beispiellose Ziel erreicht werden soll, muss das, was wir gemeinhin "Produktivität" nennen, dabei eine Schlüsselrolle einnehmen. Im "Zeitalter der Begrenzungen" müssen unsere Institutionen und Praktiken allesamt so effizient und rentabel werden wie nur möglich. Auf diese Weise kann die Volkswirtschaft jedes einzelnen National- beziehungsweise Mitgliedsstaats den Wohlstand generieren und verteilen, den die Versorgung seiner Bevölkerung erfordert. Dies bedeutet: Mehr Energie mit weniger Kraftstoff, mehr Gesundheitsversorgung mit weniger öffentlichen Mitteln, mehr wirtschaftliche Produktion mit weniger Arbeitskräften und mehr Effizienz im Dienstleistungssektor. Bei diesem so wichtigen Unterfangen nimmt die EU weltweit eine Vorreiterrolle ein.

Es bedeutet darüber hinaus, dass Europa stabile politische Systeme haben muss und dynamische Medienlandschaften und Online-Welten, die nicht nur unterschiedliche Gemeinschaften miteinander verbinden, sondern gesellschaftlichen Konsens in die richtigen politischen Maßnahmen umsetzen. Es bedeutet ferner, dass bessere Methoden erforderlich sind, um die "Weisheit der Vielen" zu erfassen und zu mobilisieren sowie die Effizienz unserer diversen Institutionen und Praktiken zu bewerten, um auf diese Weise optimale Vorgehensweisen zu ermitteln. Und nicht zuletzt bedeutet es, die neue digitale Technologie so nutzbar zu machen, dass sie für uns arbeitet, nicht gegen uns, und Arbeitsplätze schafft statt sie zu vernichten.

Tatsächlich besteht eines der schmutzigen kleinen Geheimnisse von Silicon Valley nämlich darin, dass seine Unternehmen gar nicht so viele Jobs schaffen. So beschäftigt Facebook direkt nur etwa 12.000 Vollzeitangestellte, Google und Apple jeweils etwa 70.000, Uber, Airbnb und Twitter jeweils zwischen 5.000 und 10.000. Die genannten Unternehmen sind allesamt lahme Jobmotoren verglichen mit traditionellen Wirtschaftsunternehmen wie BMW, Mercedes, Bosch, Volkswagen, Ford, IBM und Siemens, die jeweils Hunderttausende Menschen beschäftigen. Die kleinen und mittleren Unternehmen des deutschen Mittelstands generieren 25 Millionen Arbeitsplätze; Facebook, Google, Amazon und Apple haben zusammen eine Gesamtbeschäftigung von nicht einmal einem Prozent dieser Zahl. Und so rühmen sich die Technologie-Gurus auch damit, dass sie mit ihren Erfindungen Software und Algorithmen in immer intelligentere Maschinen einspeisen in dem Bestreben, die Menschen zu ersetzen. Diese Unternehmen ergänzen ihre Belegschaft, indem sie Heerscharen von Freiberuflern und Lieferanten anheuern, doch bei vielen dieser Jobs handelt es sich um prekäre Arbeitsplätze, ohne Sicherheit oder Sozialleistungen. Diese Beschäftigungsart ist kein gutes Fundament für eine starke Wirtschaft.

Europa, USA oder China?

Welches der großen drei Entwicklungsmodelle – das europäische, das US-amerikanische oder das chinesische – bietet also die besten Chancen, die historische Herausforderung ökonomischer und ökologischer Nachhaltigkeit zu schultern?

Die USA haben viele Stärken und bewundernswerte Eigenschaften, aber die Politik des Landes laboriert an Lähmungserscheinungen und einer stark ausgeprägten parteipolitischen Polarisierung – auch wenn die föderale Union der Vereinigten Staaten fest etabliert ist und vorläufig fest im Sattel zu sitzen scheint. Die US-Wirtschaft hat in den letzten Jahren von niedrigen Energiepreisen profitiert, ist jedoch mittlerweile aufgeteilt in ungleiche Lager von Gewinnern und Verlierern. All diese Spannungen haben das Fass zum Überlaufen gebracht und das Phänomen Donald Trump hervorgerufen, dessen unberechenbare Amtsführung dringend notwendige Reformen hinauszögert und die Spaltung des Landes vorantreibt.

Unterdessen bleibt Chinas Zwitter eines "kommunistischen Kapitalismus" ein autoritäres Rätsel voll gewaltiger Widersprüche. Während China den Ausbau erneuerbarer Energien mit Nachdruck vorantreibt, wächst seine Mittelschicht, ist aber immer noch klein im Vergleich zum enorm hohen Anteil armer Bevölkerungsschichten. Gleichzeitig grassieren Ungleichheit, Korruption und Vetternwirtschaft. Ein beeindruckendes Niveau industrieller Produktion hat zu einem unfassbaren Ausmaß von Umweltzerstörung geführt.

Wie sich herausstellt, ist eine starke Exekutive wie in China und den USA nur dann von Vorteil, wenn diese auch in die richtige Richtung führt. Insofern schneidet die EU im Vergleich gar nicht schlecht ab. Die soziale Marktwirtschaft in Europa nimmt in Bezug auf eine Reihe wesentlicher Aspekte eindeutig eine führende Position ein, mehr jedenfalls als Chinas Staatskapitalismus und Amerikas Wall-Street-Silicon-Valley-Kapitalismus.

Herausforderungen für die EU

Doch auch die EU sieht sich mit enormen Herausforderungen konfrontiert. Dazu zählen ein Mangel an wirtschaftlicher Solidarität zwischen Mitgliedsstaaten, das Wiederaufleben von Stammesdenken und die institutionelle Inkohärenz auf EU-Ebene. Diese drei Phänomene sind eng miteinander verknüpft.

Wirtschaftliche Solidarität oder Sparpolitik?

Obwohl die Wirtschaft in jüngster Zeit wieder angezogen hat, erholt sich die EU nach wie vor nur langsam von der Wirtschaftskrise 2008 und der Eurokrise 2010. Dies gilt insbesondere im Vergleich zu anderen internationalen Konkurrenten. Europas Gesamtanteil an der Weltwirtschaftsleistung ist seit 2008 geschrumpft, und zwar mehr noch als der der Vereinigten Staaten, während der Anteil Chinas und Indiens um etwa 40 Prozent angewachsen ist. Die Erholung der europäischen Wirtschaft ist ungleich über den Kontinent verteilt: Manche Mitgliedsstaaten, zum Beispiel Deutschland, haben sich schneller erholt als etwa Frankreich, Griechenland, Italien und einige der osteuropäischen Länder.

Dass Europa hinter den Erwartungen zurückbleibt, liegt zum Teil daran, dass sich, unter der Federführung Deutschlands, einige Mitgliedsstaaten jedweder Transferunion für die Eurozone verweigern. Ein solcher Mechanismus wird für gewöhnlich in einer Währungsunion eingesetzt, um die wirtschaftliche Gesamtsituation zu verbessern. So erhalten beispielsweise in den USA, wo reichere Mitgliedsstaaten wie Kalifornien, New York und Illinois weit mehr in die Bundeskasse einzahlen als von ihr zurückbekommen, ärmere Mitgliedsstaaten wie Alabama, Mississippi und Alaska von ersteren eine jährliche Beihilfe, die unangefochten, nämlich über das normale Gesetzgebungsverfahren zur Mittelzuweisung, erfolgt. Ein Ziel einer Währungsunion ist es, Zusammenhalt zwischen Mitgliedsstaaten zu schaffen, um so die Gesamtwirtschaft zu stärken, damit "mit der Flut alle Boote steigen". Während also die EU-Mitgliedsländer auf ihrer jeweiligen nationalen Ebene mehr Solidarität gegenüber Einzelpersonen, Arbeitern und Familien herstellen, als es US-amerikanische Bundesstaaten tun, sorgen die USA für mehr Solidarität zwischen ihren Mitgliedsländern, als es die EU tut.

Dieser Mangel an institutioneller und ideologischer Unterstützung für eine Währungsunion hemmt die EU in ihrer wirtschaftlichen Erholung. Die Austeritätspolitik hat zu einer Erosion der Mittelschicht geführt, bedingt dadurch, dass es Beschäftigungszuwachs vor allem bei Stellen mit den niedrigsten und den höchsten Gehältern gab. Während der wirtschaftlichen "Erholung" wurden unbefristete Vollzeitarbeitsplätze am härtesten in Mitleidenschaft gezogen, weil an die Stelle dieser hochwertigen Arbeitsplätze prekäre Teilzeitarbeitsplätze und befristete Anstellungen traten. Ein Teil dieses wirtschaftlichen Schadens wurde in jüngster Zeit wiedergutgemacht, und die Europäische Kommission sowie die Mitgliedsstaaten haben die eine oder andere Form institutioneller Solidarität etabliert. Dazu gehört beispielsweise die noch in den Kinderschuhen steckende Bankenunion zur Unterstützung der europäischen Finanzinfrastruktur. Alles in allem aber hat die Austeritätspolitik zu einer sinkenden Zahl an Arbeitsplätzen für die Mittelschicht geführt und dazu, dass die EU im Vergleich zu globalen Konkurrenten an Boden verloren hat. Europa sollte seine Sparpolitik aufgeben und stattdessen einen eigenen, dieses Mal selbst finanzierten Marshallplan auflegen, um so auf intelligente Weise in Infrastruktur, Bildung und digitale Innovation zu investieren.

Wiederaufleben von Stammesdenken

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hat sich im Verlauf der letzten zweieinhalb Jahrzehnte die Logik politischer Auseinandersetzungen dramatisch verändert. Der politische Wettstreit hat sich auf nationaler wie internationaler Ebene im Wesentlichen von einem Wettstreit um Wirtschaftssysteme hin zu einem Streit um Identitäten, also eine neue Form des Stammesdenkens, verlagert – Nord gegen Süd, Ost gegen West, links gegen rechts und vor allem weiß/christlich gegen nicht-weiß/islamisch. Angesichts dieser Spaltungen prophezeien Europaskeptiker in Europa wie in den Vereinigten Staaten, die sich ohnehin nichts sehnlicher wünschen als das Scheitern des europäischen Wegs, hämisch den unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch der EU. Allerdings prophezeien sie dies bereits seit Jahrzehnten und haben sich jedes Mal getäuscht.

Wir sollten uns vor Augen halten, dass Stammesdenken in verschiedenen Formen seit Jahrtausenden wesentlicher Teil der menschlichen Erfahrung ist. Der national, ethnisch oder religiös bedingte Instinkt, den Erfolg des eigenen Stammes auf Kosten eines anderen zu sichern, ist eine uralte Reaktion. Wir können ihn weder verbieten noch durch Gesetzgebung abschaffen – aber können wir wenigstens seine Auswirkungen abschwächen?

Ja, ich glaube, das können wir. Und zwar indem wir die richtigen Institutionen entwickeln – Institutionen, die Gerechtigkeit, Demokratie, einen möglichst breit geteilten Wohlstand sowie Rechtsstaatlichkeit bewahren. Vor diesem Hintergrund kommen die Inkohärenz und Uneinigkeit der Institutionen in EU und Eurozone einer existenziellen Herausforderung gleich.

Institutionelle Inkohärenz

Die EU wird von einem merkwürdigen Vierkammersystem regiert, dessen einzelne Organe sehr ähnlich klingen: Europäische Kommission, Europäischer Rat, Rat der Europäischen Union (Ministerrat) sowie Europäisches Parlament. Und jede dieser Institutionen verfügt auch noch über einen eigenen "Präsidenten" – wer kann da schon den Überblick behalten? Warum nicht den einen Präsident und den anderen Premierminister oder Regent nennen? Sogar eine Supermacht kommt mit einem einzigen Präsidenten aus!

Diese Verwirrung in Bezug auf die Titel ist nur die Spitze eines Eisbergs und spiegelt eine tiefer liegende institutionelle Inkohärenz wider. Die Gewaltenteilung in dieser semidemokratischen und übermäßig komplexen Bürokratie frustriert selbst die glühendsten Europaverfechter. Zusammen mit dem Druck durch das neue Stammesdenken hat das ineffiziente Regieren in Brüssel mit dazu geführt, dass die EU zur Zielscheibe weitverbreiteten Unmuts wurde. Die institutionelle Inkohärenz ist eine Ursache dafür, warum Bundeskanzlerin Angela Merkel als Regierungschefin des größten Mitgliedsstaats während der jüngsten Ereignisse in die Rolle einer De-facto-Premierministerin Europas gedrängt wurde. Merkel hat in ihrer aus der Not geborenen Rolle bewundernswerte Arbeit geleistet. Sie hat aber auch Fehler begangen, was zum Teil daran liegt, dass ihre Rolle als EU-Premierministerin in Widerspruch mit ihren innenpolitischen Prioritäten als deutsche Kanzlerin und Parteivorsitzende steht.

Um dieses Demokratiedefizit zu beseitigen, sprechen sich Wissenschaftler wie Thomas Piketty, Jürgen Habermas und ich selbst für vereinfachte und integrierte politische Strukturen aus. Doch bevor nicht in der Bevölkerung das explizite Verlangen danach lauter wird – das sich erst manifestieren wird, wenn eine stärkere politische Führung bei den Wählerinnen und Wählern für eine "immer engere Union der Völker Europas" wirbt –, werden Fortschritte nicht zu erreichen sein. Angesichts dessen ist ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten erst einmal sinnvoll: eine EU mit stärker föderalistischen Regeln und Strukturen für das Euro-Währungsgebiet und weniger Zentralisierung in der Handels- und Sicherheitspolitik. Dabei ist der Brexit als unverhoffter Segen anzusehen, denn das Vereinigte Königreich hat oft genug die Rolle des Spielverderbers eingenommen, wenn es darum ging, einen Konsens in diesen wichtigen Angelegenheiten zu finden.

Andere Herausforderungen, beispielsweise Russlands Abenteurertum und der Zustrom von Flüchtlingen, werden aufgrund Europas unzusammenhängender institutioneller Ausgestaltung und Einheit weiterhin Unruhe und Besorgnis hervorrufen. Doch wie in der Vergangenheit wird jede Krise die Weiterentwicklung der Union beflügeln. Denn Europa und die Welt brauchen mehr denn je einen modernisierten Humanismus als tragfähige Alternative zur Wiederkehr von Stammesdenken, Prügelknaben, Wutgeheul und Mauern.

Der Historiker Arnold Toynbee schrieb einmal: "Länder haben einen genauso ausgeprägten Charakter wie Menschen." Derlei "Nationalcharaktere" sind tief verankert in Geschichte, Kultur und Institutionen und verändern sich im Laufe der Jahrzehnte und Generationen nur sehr langsam. Eine Weiterentwicklung ist mitunter schwer auszumachen. So wird beispielsweise oft verkannt, dass die noch jungen Vereinigten Staaten von Amerika Jahrzehnte dafür benötigten, um sich als Bundesstaat zu stabilisieren. Die Nation war 1789, als sich mit einer Verfassung und dem ersten Präsidenten George Washington der Bundesstaat konsolidierte, von regionalen Spannungen zerissen. Auf Eigenständigkeit bedachte Mitgliedsstaaten revoltierten gegen eine Zentralregierung und die "immer engere Union". Anfangs gab es im jungen Amerika nicht einmal eine gemeinsame Währung – jeder Staat und sogar einzelne Banken arbeiteten mit eigenem Geld. In den folgenden Jahrzehnten durchlitt die Wirtschaft mindestens sieben Bank- und Finanzkrisen, gegen die die heutigen Probleme mit dem Euro harmlos wirken. Volle 70 Jahre nach der ersten Regierungsbildung fochten Amerikaner einen blutigen Bürgerkrieg um die Rechte der Staaten aus, um die Frage, ob die Zentralregierung bei einem so brisanten Thema wie der Sklaverei die Gesetzgebung der Mitgliedsstaaten aufheben durfte. In den 1960er Jahren, in der Zeit der Bürgerrechtsbewegung, als sich Staaten mit der US-Bundesregierung über die Rechte ethnischer Minderheiten stritten, wirkten diese zentrifugalen Spannungen nach. Man spürt sie auch heute noch in der Präsidentschaft von Donald Trump und dessen Attitüde. Kurzum, derlei Spannungen sind heute sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten zu erkennen.

Dieser Vergleich ist zwar aufschlussreich, hinkt aber auch. In der Europäischen Union gibt es Spaltungen, die auf Jahrhunderte alten Konflikten und Kulturen beruhen, und es grenzt an ein Wunder, dass die EU überhaupt so weit gekommen ist. Wenn Sie also das nächste Mal die Überschrift "Europa stirbt" lesen, bedenken Sie, dass das "alte Europa" eigentlich noch recht jung ist. Die Erweiterung der EU und die gemeinsame Währung wurden vor kaum zehn Jahren umgesetzt. Die EU kann die Torheit des Vereinigten Königreichs und die Unverfrorenheit eines Viktor Orbán ebenso überstehen wie die Flüchtlingskrise und Wirtschafts- und Finanzkrisen und deren Auswirkungen – solange die Lust der Europäerinnen und Europäer, Teil dieser Union zu sein, unerschütterlich anhält und das Herz dieses Vorhabens weiterschlägt.

Der EU zuzuschauen, ist wie die Entstehung eines Planeten zu beobachten – ein noch unvollendetes Werk auf einer Jahrzehnte währenden Flugbahn. In diesem alles entscheidenden Jahrhundert steht die Zukunft zur Disposition, und im "Europäischen Weg" steckt nach wie vor großes Potenzial, um der Welt Anstöße zu geben.

In Anlehnung an ein Zitat von Winston Churchill steht die EU heute nicht etwa an ihrem Ende, sondern am Ende ihres Anfangs.

Übersetzung aus dem Englischen: Peter Beyer, Bonn.

ist freier Journalist, Dozent und Autor der Bücher "Europe’s Promise: Why the European Way Is the Best Hope in an Insecure Age" und "Die Startup Illusion: Wie die Internet-Ökonomie unseren Sozialstaat ruiniert". Er war 2016 Holtzbrinck Fellow an der American Academy in Berlin. Externer Link: http://www.Steven-Hill.com