Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Armutsbekämpfung durch Entwicklungshilfe | Entwicklungspolitik | bpb.de

Entwicklungspolitik Editorial Von der Mitwirkung zur Selbstbestimmung Internationale Handelspolitik und weltwirtschaftliche Integration der Entwicklungsländer Lösungsansätze für die Verschuldungsprobleme der ärmsten Entwicklungsländer Armutsbekämpfung durch Entwicklungshilfe In der internationalen Entwicklungspolitik stecken erhebliche Finanzreserven

Armutsbekämpfung durch Entwicklungshilfe

Jürgen H. Wolff

/ 17 Minuten zu lesen

Armutsbekämpfung als Legitimation von Entwicklungshilfe kann wissenschaftlich nicht diskutiert werden, wohl aber die Frage, ob Entwicklungshilfe in ihrer bisherigen Form Armut reduziert. Die Antwort hierauf ist methodisch allerdings schwierig.

I. Armutsbekämpfung als Legitimation von Entwicklungshilfe

Mindestens deklamatorisch nimmt das Ziel der Bekämpfung von Armut bei der Begründung von Entwicklungshilfe einen hohen Stellenwert ein. Der vorige Minister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Eduard Spranger, hat immer wieder betont, Armutsbekämpfung sei neben Ausbildung und Umweltschutz ein Schwerpunkt der deutschen Entwicklungspolitik . Sein Ministerium lieferte sich regelmäßig harte Auseinandersetzungen mit nichtstaatlichen Organisationen, die ihm vorwarfen, dass nur wenige Prozente des deutschen Entwicklungshilfeetats der Armutsbekämpfung gewidmet seien. Insbesondere das Eurostep-Projekt von Nichtregierungsorganisationen weist in seiner jährlichen kritischen Publikation über die "Wirklichkeit der Entwicklungshilfe" immer wieder anklagend darauf hin, dass dieses politische Ziel nicht in die Wirklichkeit umgesetzt werde , es also deklamatorisch bleibe; insbesondere werde das 20/20-Ziel nicht erreicht, d. h., 20 Prozent der Entwicklungshilfemittel und 20 Prozent der nationalen Budgets der Empfängerländer für soziale Kernbereiche auszugeben.

Dieser Beitrag möchte einige der Schwierigkeiten bei der Bekämpfung weltweiter Armut mit entwicklungspolitischen Mitteln diskutieren. Dabei wird insbesondere auf die neuere internationale Diskussion Bezug genommen; das Thema in seiner ganzen Breite zu erörtern ist hier aus Platzgründen nicht möglich .

Zunächst bleibt festzuhalten, dass Armutsbekämpfung als Legitimation für nationale und internationale Entwicklungspolitik (so weist z. B. auch die Weltbank immer wieder auf dieses Ziel hin ) als Wertentscheidung nicht wissenschaftlich diskutiert werden kann. Allerdings ist das von wissenschaftlicher Seite vorgebrachte Argument , ohne Armutsbekämpfung habe die Entwicklungshilfe keine Legitimation, Armutsbekämpfung als Ziel der Entwicklungshilfe müsse folglich beibehalten werden, als wenig überzeugend zurückzuweisen: Logischerweise kann man nicht ein bestimmtes Ergebnis postulieren (nämlich Entwicklungshilfe müsse beibehalten werden) und daraus dann bestimmte legitimatorische Überlegungen für unverzichtbar erklären. Intellektuell hätte man, sollte sich die Armutsbekämpfung als fragwürdig erweisen, auch der letzten Konsequenz (der Verminderung oder Einstellung von Entwicklungshilfe) ins Auge zu sehen; ein argumentum ad institutionem jedenfalls ist unhaltbar.

Was jedoch von wissenschaftlicher Seite diskutiert werden kann bzw. muss, ist die Frage, ob Entwicklungshilfe in ihrer gegenwärtigen Form überhaupt Armut reduziert, um wie viel sie Armut reduziert und ob es gegebenenfalls bestimmte Sachzusammenhänge gibt, die eine Veränderung der Stoßrichtung der bisherigen Entwicklungshilfe zur Erhöhung der Armutswirksamkeit angezeigt sein lassen. Die gegenwärtige, wesentlich von den Nichtregierungsorganisationen getragene Diskussion jedenfalls krankt an mechanistischem Denken . Es herrscht die Vorstellung vor, wenn man nur genügend Geld für eine bestimmte Sache ausgebe, werde sich wie bei einem funktionierenden Automaten der Erfolg notwendig einstellen. Letztlich steht eine solche Vorstellung hinter der 20/20-Forderung des Kopenhagener Sozialgipfels. Selbst wenn es - eine mehr als fragwürdige Annahme - mit den in Rede stehenden Geldmitteln gelänge, für die Armen dieser Erde genügend Schulplätze, Impfstoffe, Lebensmittel usw. zur Verfügung zu stellen, wäre in keiner Weise gewährleistet, dass die Armen diese "basic social services" in Anspruch nähmen: sie könnten, aber sie würden nicht! Die rein auf die Angebotsseite zielende 20/20-Initiative greift erheblich zu kurz. Viel Arme sind, aus welchen Gründen auch immer, in einer physischen und psychischen Verfassung, die es ihnen verwehrt, bestehende Hilfen anzunehmen. Ein freier Schulplatz allein nützt nichts, wenn das winzige Einkommen eines Jungen aus dem Verkauf von Zigaretten auf der Straße für das Familienbudget unverzichtbar ist, wenn ein Mädchen die jüngeren Geschwister beaufsichtigen muss, damit die Mutter putzen oder auf dem Feld arbeiten kann. Kurz: Die Vorstellung, bei Einsatz von genügend Geld würden die Probleme automatisch gelöst, ist mechanistisch und geht an der Wirklichkeit der Armen in der Dritten Welt vorbei, nimmt darüber hinaus zentrale Ergebnisse der internationalen Armutsforschung nicht zur Kenntnis. Die Vorstellung, mit der Bereitstellung von 30-40 Mrd. US-Dollar pro Jahr weltweit (diese Beträge waren bei der 20/20-Initiative im Gespräch) könne man zentrale Ausprägungen der Armut abschaffen, ist nicht realistisch. In keinem Land der Erde, auch den reichsten nicht, ist es gelungen, die Armut und ihre Folgen auszurotten.

Zum anderen liegen der Diskussion häufig Interessen der Beteiligten insbesondere aus dem Nichtregierungsbereich zugrunde, ohne dass dies in der Öffentlichkeit je thematisiert würde. Zu Recht oder Unrecht gilt bei den "weichen" sozialen Bereichen ein Vorteil der Privaten gegenüber dem "häßlichen" Staat als ausgemacht, weshalb die Diskussion mit Vorliebe auf eben solche Bereiche gelenkt wird. Dabei ist fraglos neben dem häufig zu beobachtenden Idealismus auch ein Interesse von Nichtregierungsorganisationen an Renteneinkommen zu konstatieren, die ihnen Legitimation, Überleben und Betätigung sichern.

II. Armutsentwicklung und Entwicklungshilfe: Methodische und empirische Probleme

Die Frage stellt sich damit ganz grundsätzlich, ob und wieweit Entwicklungshilfe Armut überhaupt reduzieren könne.

Einige methodische Vorüberlegungen: Die Aussage, dass Entwicklungshilfe Armut reduziere oder nicht reduziere, ist methodisch schwer zu treffen. Armut mag ohne jede Entwicklungshilfe zurückgehen (das war etwa die Entwicklung in den heutigen Industrieländern), sie mag trotz Entwicklungshilfe gleich bleiben oder sogar zunehmen. Selbst wenn dieses konstatiert werden sollte, ist das konterfaktische Argument, dass Entwicklungshilfe eine Zunahme von Armut gebremst habe, schwer zu widerlegen. Oder anders: Die Entwicklung eines zentralen gesellschaftlichen Problems wie der Armut hängt wie andere Entwicklungen auch von einer unübersehbar großen Zahl von Faktoren ab, so dass es im Einzelfall methodisch schwierig ist, eine beobachtete Veränderung der in Rede stehenden Größe einem dieser Faktoren zuzuschreiben.

Zweitens: Will man über ein gesellschaftliches Phänomen wie Armut und ihre Veränderung Aussagen treffen, dann ist die entscheidende Analyseebene diejenige des Gesamtlandes beziehungsweise der Gesamtgesellschaft. Die Feststellung etwa, in einer bestimmten Bevölkerungsschicht oder einer bestimmten Region eines Landes sei eine Verbesserung der Armutssituation eingetreten, sagt über die Gesamtentwicklung logischerweise nichts aus, da es in anderen Regionen oder anderen Schichten zu einer Verschärfung der Armutssituation gekommen sein kann, die die Erfolge aufwiegen oder gar überwiegen kann. Analysen über die Wirkung von Entwicklungshilfe auf die Vermehrung oder Verminderung von Armut bleiben demgegenüber allzu oft auf der Ebene von Einzelprojekten stehen . Hier gilt es jedoch festzuhalten, dass es für praktisch jedes nicht völlig sinnlose Entwicklungsprojekt eine angebbare Gruppe von Begünstigten gibt, denen eine Besserung ihrer Lage gebracht wird. Die allgemeine Befriedigung über den hohen Anteil erfolgreicher Entwicklungsprojekte bleibt aber vordergründig bzw. unberechtigt. Hier gilt der klare Satz, dass die Summe noch so vieler Einzelprojekte über die Gesamtwirkung von Entwicklungshilfe, d. h. die Entwicklung gesamtgesellschaftlicher Aggregatgrößen, auf die es allein ankommt, nichts aussagt. Oder anders: Noch so viele erfolgreiche Entwicklungsprojekte garantieren in keiner Weise Entwicklung; es gibt genügend Länder, in denen es zahlreiche erfolgreiche Projekte gibt, ohne dass sich das große Ziel der Entwicklung, wie auch immer definiert, eingestellt hätte.

Warum ist das so? Hier können verschiedene logische Ebenen unterschieden werden:

1. Positive nachgewiesene Wirkungen von Projekten können im Ergebnis durch gegenläufige Entwicklungen des Gesamtsystems konterkariert werden. (Von dem nicht seltenen Fall, dass das Projekt selbst an ungünstigen Rahmenbedingungen scheitert, wird hier ganz abgesehen.) Hat etwa ein Landwirtschaftsprojekt zum Ziel, die Ernährungssituation zu verbessern und die bäuerlichen Einkommen zu steigern (das wären typische Ziele von Landwirtschaftsprojekten), dann mag auch der Erfolg eines Projektes durch eine falsche Preispolitik des Staates, die alle Bauern betrifft (sie zählen weltweit zu den ärmsten Bevölkerungsschichten) ganz oder teilweise neutralisiert werden. Selbst wenn die Zielgruppe des Projektes besser dastünde als ohne das Projekt, wäre für die Lage der armen Bauern insgesamt nichts erreicht worden.

2. Auf einer zweiten Ebene ist die Frage zu stellen, wie sich das inländische Spar- und Investitionsverhalten bei Zustrom von Auslandskapital, den Entwicklungshilfe direkt oder indirekt darstellt, verändert. Kann davon ausgegangen werden, dass die Nettoinvestitionen um die Höhe des Kapitalzuflusses zunehmen, oder führt dieser zu einer Reduktion der inländischen Ersparnis und damit der inlandsfinanzierten Investitionen, so dass die Nettoinvestitionen mehr oder weniger gleich bleiben, aber zum Teil vom Ausland (ausländischen Kapitaleigentümern und Steuerzahlern) finanziert werden? Seit der Frühzeit der Entwicklungshilfe und der Entwicklungshilfekritik wird ein negativer Zusammenhang zwischen der Höhe inländischer Ersparnis und ausländischer Kredite aus theoretischen Gründen postuliert und in einer Reihe von ökonometrischen Studien nachgewiesen . Entwicklungshilfe tritt also nicht einfach additiv zu den entwicklungswirksamen Ausgaben der Empfängerregierung bzw. des Empfängerlandes, sondern ersetzt diese mindestens zum Teil, wie neuerdings wieder durch Studien der Weltbank nachgewiesen wurde . Hiernach steigen bei einem Zustrom von einem US-Dollar Entwicklungshilfe die öffentlichen Investitionen nur um 29 Cents, führen, in einem anderen Länderbeispiel, verbilligte Kredite (sog. Concessional loans) wie diejenigen der International Development Association von einem US-Dollar nur zu einer Zunahme der Staatsausgaben von 63 Cents, wobei der Effekt von verbilligten Krediten und Geschenken von einem US-Dollar zusammengenommen nur 33 Cents ausmacht - mit großen Unterschieden von Land zu Land, was also nichts anderes heißt, als dass ein erheblicher Teil der Entwicklungshilfe schlicht für Staatskonsum verwendet wird . Selbst präzis auf einen Sektor ausgerichtete Entwicklungshilfe kommt nicht in voller Höhe an, wie z. B. bei Landwirtschaftsprojekten: Ein US-Dollar Hilfe für Landwirtschaft führt zu einer Zunahme der Ausgaben für Landwirtschaft, die - wiederum mit großen Unterschieden von Land zu Land - in der Regel weit unter einem US-Dollar liegt . Für die Entwicklungshilfe für das Gesundheitswesen und Erziehung gilt sogar, dass der Nettoeffekt negativ ist, tatsächlich also weniger für diese Bereiche ausgegeben wird, wenn ausländische Entwicklungshilfe hierfür gewährt wird . So gesehen wäre das 20/20-Ziel vollends kontraproduktiv!

III. Die "Fungibilität" der Entwicklungshilfe

Wie können solche Erscheinungen erklärt werden? Entscheidend hierfür ist, dass Entwicklungshilfe fungibel ist, "what you see is not what you get". Um einen theoretisch verwickelten Sachverhalt einfach darzustellen: Nehmen wir an, die Regierung eines Entwicklungslandes habe sich ein Investitionsprogramm aus zehn großen Projekten vorgenommen. Diese lassen sich, was ihren ökonomischen bzw. entwicklungspolitischen Wert angeht, grundsätzlich in eine Reihenfolge bringen, von 1 (am rentabelsten) bis 10 (am wenigsten rentabel oder gar unrentabel). Die Regierung habe aber nur Geld für neun Projekte; bei rationalem Vorgehen fällt also das am wenigsten rentable Projekt dem Rotstift zum Opfer. Nun kommt die Entwicklungshilfe ins Spiel: Wird diese um Finanzierung eines Projektes angegangen, wird die Regierung zweckmäßigerweise nicht gerade Projekt zehn vorschlagen (und sich mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Abfuhr einhandeln), sondern z. B. Projekt zwei.

Dieses hat eine gute Chance einer ausländischen Finanzierung. Diese führt dazu, dass das Budget der Regierung um die Kosten für Projekt zwei entlastet wird; sie kann nun auch noch Projekt zehn (und damit möglicherweise ökonomischen Unsinn) finanzieren. Faktisch, wenn auch indirekt, hat der ausländische Geldgeber das Projekt zehn finanziert (es sei erinnert, dass dieses Projekt nicht notwendig ein rentables Projekt ist, nach unseren gemachten Voraussetzungen, selbst wenn es rentabel sein sollte, jedenfalls das am wenigsten rentable unserer Liste aus zehn Projekten darstellt). Die Behauptungen der nationalen und internationalen Entwicklungshilfe-Bürokratie über ihre erfolgreichen Projekte sind, so betrachtet, wenig aussagekräftig. "Früher nahm man an, dass bei der Finanzierung eines bestimmten Investitionsprojektes durch eine Organisation der Entwicklungshilfe wie der Weltbank die für dieses Projekt ausgegebenen Mittel tatsächlich dieses Projekt finanzierten und kein anderes. In der Tat war die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung . . . stolz auf die Solidität (soundness) und den hohen ökonomischen Ertrag einiger ihrer Projekte. Demgegenüber wurde jedoch bald erkannt, dass ausländisches Kapital nicht das Projekt finanzierte, für das es dem Anschein nach ausgegeben wurde, sondern das Grenzinvestitionsprojekt (marginal investment project), d. h. von allen realisierten Projekten dasjenige, das auf der Prioritätenliste ganz unten stand. Das ist mit der Behauptung gemeint, Hilfe sei ,fungibel'. . . Die Fungibilität der Entwicklungshilfe ist in keiner Weise begrenzt. Das bedeutet, dass ausländisches Kapital nicht das Grenzinvestitionsprojekt, sondern das Grenzausgabenprojekt (marginal expenditure project) finanziert, und Grenzausgaben (expenditure on the margin) werden ebenso wahrscheinlich (vielleicht wahrscheinlicher) für Konsum- wie für Kapitalgüter getätigt (d. h., für ,Projekt zehn' in unserem Beispiel könnte Champagner stehen! - J.H.W.). Auslandskapital bedeutet Ressourcen- oder Kaufkrafttransfer von einem Land in ein anderes, und wie diese zusätzlichen Ressourcen verwendet werden, kann nicht a priori bestimmt werden. Sicherlich steht nicht fest, dass nichts davon zur Erhöhung des Konsums verwendet wird." Unglücklicherweise kann die Überlegung noch weitergesponnen werden: Für "Projekt zehn" kann, je nach Land, auch Militär oder Verstärkung des polizeilichen Repressionsapparates stehen - oder auch schlicht Korruption, die (indirekte) Umlenkung der zusätzlichen Kaufkraft in nicht dafür bestimmte (oder, je nach Standpunkt, besonders dafür bestimmte!) Taschen. Dem könnte ein internationaler Financier nur entgehen, wenn das Empfängerland sich im Kreditvertrag verpflichtete, keinerlei Einschränkungen von geplanten rentablen Investitionen nach Mittelzufluss aus ausländischen Krediten vorzunehmen. Solche Verpflichtungen sind jedenfalls mir nicht bekannt geworden (da sie zweifellos die nationale Souveränität berührten); sie wären übrigens unkontrollierbar und daher auch nicht erzwingbar . Wir können also feststellen, dass Entwicklungshilfe in Wahrheit nicht die Projekte finanziert, für die das Geld tatsächlich gezahlt wird, oder auch die Programme, für die Geld abfließt, sondern die Prioritäten der Empfängerregierung, wobei von direkter Korruption noch völlig abgesehen wird; das genannte Resultat hat hiermit gar nichts zu tun, kann also auch dann eintreten, wenn die bestimmungsgemäße Verwendung jedes Pfennigs nachgewiesen werden kann.

IV. Entwicklung, Entwicklungspolitik und Armut

Was können wir nun empirisch über den Zusammenhang von Entwicklung, Entwicklungspolitik und Armut feststellen? Die erste, aus der Literatur völlig eindeutig zu entnehmende Beobachtung ist, dass Wirtschaftwachstum und Armutsreduktion empirisch hoch miteinander korrelieren, dass sogar die Schnelligkeit des Wachstums und die Schnelligkeit der Armutsreduktion eng miteinander zusammenhängen - wie übrigens auch das Gegenteil: Die Asienkrise etwa hat in den vergangenen Jahren den Anteil der Bevölkerung, der in Armut lebt, in einigen Ländern massiv emporschnellen lassen, wie in Indonesien. Auf der anderen Seite lässt sich, vergleicht man alle Länder miteinander, zwischen der Höhe der Entwicklungshilfe pro Kopf und dem Wirtschaftswachstum kein Zusammenhang feststellen: "The simple relationship between aid and per capita growth in developing countries is weak, if it exists at all . . . Some countries get a great deal of assistance and grow slowly . . . while others also get a lot and grow quickly." Daraus folgt auf dieser globalen Ebene, dass Entwicklungshilfe und Armutsreduktion nichts miteinander zu tun haben. Was ist dafür verantwortlich?

Die unentwegten Verfechter höherer Entwicklungshilfe nach dem Motto: "Viel hilft viel" können mit einigem Recht darauf verweisen, dass die Entwicklungshilfe inzwischen so gering geworden ist, dass letztlich auch nichts anderes zu erwarten war. Bezogen auf die Armen dieser Erde macht Entwicklungshilfe nur noch um 50 US-Dollar pro Kopf und Jahr aus: Welche Effekte können damit wohl bewirkt werden?

Wichtiger aber ist ein anderer Punkt: Entscheidend ist, dass der Mangel an Korrelation von Entwicklungshilfe und Wirtschaftswachstum dann verschwindet, wenn man die Länder in eine Gruppe mit guter Wirtschaftspolitik und guten Institutionen und eine Gruppe mit schlechter Wirtschaftspolitik und schlechten Institutionen aufteilt . Entsprechend der inzwischen in der entwicklungspolitischen Literatur weitgehend entschiedenen Debatte sind Indikatoren für gute Wirtschaftspolitik geringe Inflation, ein ausgeglichener Haushalt und fehlende Hemmnisse für den Außenhandel (trade openness) - Inflation, Haushaltsdefizite und binnenmarktorientierte Entwicklungspolitik führen zu geringen Wachstumsraten, Stagnation oder gar ökonomischen Rückschritten. Die institutionelle Qualität bemisst sich am Fehlen von Korruption, dem Bestehen eines Rechtsstaates (rule of law) und der Qualität der Verwaltung. Nimmt man die erwähnte Aufteilung der Länder vor, dann ändert sich das Bild: Entwicklungshilfe trägt zum Wachstum in Ländern mit guter Wirtschaftspolitik und guten Institutionen bei; die Korrelation wird positiv und signifikant. Hieraus folgt, wenn die vermerkte Korrelation zwischen Wirtschaftswachstum und Armutsreduktion besteht, dass Entwicklungshilfe indirekt auch zur Armutsreduktion via Wirtschaftswachstum beiträgt; dabei ist Geld weniger wichtig als Ideen. Politikberatung auch im Bereich der Wirtschafts-, Finanz-, Währungs- und Fiskalpolitik dürfte wichtiger sein als der reine Transfer von Kapital. Nicht die Übertragung von Geld schlechthin reduziert Armut, sondern die Konzentration auf Länder, die bewiesen haben, mit diesem Geld sinnvoll wirtschaften zu können.

V. Entwicklungspolitische Folgerungen

Was folgt daraus für die Entwicklungspolitik insgesamt, insbesondere aber auch für die deutsche Entwicklungspolitik? Die genannten Erscheinungen, die auch in der neuesten Studie der Weltbank zum Thema wieder nachdrücklich bestätigt werden , müssen zu einer weitreichenden Neuorientierung der Entwicklungshilfepolitik führen. Über Jahrzehnte hinweg wurde als selbstverständlich angenommen, Entwicklungsländerregierungen seien a) entwicklungsbewusst, entwicklungswillig und entwicklungsfähig und b) kennten die Bedürfnisse des eigenen Landes, seien also "Partner". Dies ist für zahlreiche Länder kritisch zu hinterfragen. In nicht wenigen Ländern sehen die politischen Prioritäten in Wahrheit ganz anders aus. Regierungen haben Interesse a) an Machterhalt (notfalls mit Gewalt) und b) an Extraktion (Ausbeutung oder Besteuerung). Natürlich kann argumentiert werden, dass idealerweise beides zusammenfallen könne, dass also Machterhalt und vermehrte Extraktion über Entwicklung gesucht werden könne, wie das etwa für die britischen Lords im 18. und 19. Jahrhundert gegolten hat. Eine solche Koinzidenz kann aber nicht einfach vorausgesetzt, sie muss vielmehr empirisch nachgewiesen werden. Es stellte sich dann rasch heraus, dass sowohl die solide Wirtschaftspolitik als auch die institutionelle Qualität - auch und gerade in armen Ländern - zu wünschen übrig läßt, von Entwicklungsbewusstsein keine Spur herrscht (allen Deklamationen zum Trotz) und Entwicklungshilfe in diesen Fällen nur die Aufrechterhaltung von Zuständen ermöglicht, die das Land zur Fortdauer von Armut und Unterentwicklung verdammen müssen.

Bisher lässt sich feststellen, dass die deutsche wie die internationale Entwicklungspolitik trotz des erklärten Grundsatzes, das "Entwicklungsbewusstsein" einer Regierung sei ein Kriterium bei der Vergabe deutscher Entwicklungshilfe, keineswegs die genannte Gruppe mit positiver Politik bevorzugt . Im Ergebnis wird erhebliches Geld des Steuerzahlers verschwendet, denn in Ländern mit schlechter Politik kann Entwicklungspolitik nichts bewirken; sie vermindert unter Umständen sogar die Zuspitzung der Probleme und damit den Druck hin zu Reformen, die einzig auf Dauer das Los der Armen verbessern können. Zu fordern wäre also die Konzentration auf die genannten positiven Länder und nicht etwa auf Länder, die mit direkter Finanzierung der Gebergemeinschaft im Ausland einen Krieg führen (Ruanda) oder ein marxistisches Unterdrückerregime mit Gewalt aufrechterhalten (wie etwa Äthiopien). Hier muss endlich Ernst gemacht werden mit den wiederholten Deklarationen der Konzentration der Entwicklungshilfe auf die Länder, in denen sie etwas bewirkt. Welche Rechtfertigung gibt es für die jahrzehntelange internationale Zusammenarbeit mit dem Zaire des Cleptocrator maximus Mobutu?

Solche Länder müssen ermittelt werden. Hierzu bedarf das Berichtswesen über entwicklungs- und allgemeinpolitische Entwicklungen einer Verbesserung. Ein erstes Analyseinstrument zur wirtschafts- und institutionspolitischen Bewertung ist in der Weltbank entwickelt worden und könnte vielleicht von der deutschen Seite übernommen und verfeinert werden. Es sollte nicht sein, dass bei der Vergabe von Entwicklungshilfe persönliche Vorlieben oder Abneigungen von Politikern oder Mitarbeitern im BMZ oder Auswärtigen Amt oder partikulare Interessen von Durchführungsorganisationen oder Experten vor Ort wichtiger sind als solche objektivierbaren Daten, an denen die erklärten politischen Präferenzen der Entscheidungsträger gemessen werden können.

Nach all dem folgt auch, dass der direkte Angriff auf Armut mit entwicklungspolitischen Maßnahmen mit hoher Wahrscheinlichkeit überflüssig ist. Empirische Studien zur Armutswirksamkeit von einzelnen Projekten, selbst wenn sie die oben vorgebrachten methodischen Einwände nicht berücksichtigt haben, sind in der Regel zu vorsichtigen bis negativen Urteilen gekommen: Das politische Umfeld erweist sich in der Regel als entscheidendes Hindernis. Eliten verstehen es in der Regel ausgezeichnet, sich die Früchte von gar nicht für sie bestimmten Projekten zu sichern. Das gilt auch für lokale Eliten. Der indirekte Weg des Angriffs auf die Armut dürfte bei weitem vorzuziehen sein. In Ländern mit guter makroökonomischer Politik hilft Entwicklungspolitik bei Wirtschaftswachstum, und dieses dürfte dazu beitragen, dass immer mehr Arme Zugang zu Schulen, Gesundheitswesen und Beschäftigungsmöglichkeiten gewinnen und damit die Armut reduziert wird. Die Ausrottung der Armut jedenfalls, auch wenn sie als Ziel im Auge behalten werden sollte, ist ein zu hoch gestecktes Ziel. Bei alledem sind, so sei wiederholt, institutionelle und wirtschaftspolitische Verbesserungen wichtiger als Geld - gleichgültig, was die in diesem Bereich tätigen Nichtregierungsorganisationen sagen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die neue Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul hat diese Zielsetzung m. W. nicht widerrufen, setzt allerdings mit dem Ansatz der Konfliktprävention eine neuen Akzent.

  2. So auch wieder in dem im Juli 1999 erschienenen Bericht: Internationales Eurostep-Projekt von Nichtregierungsorganisationen in Deutschland, vorgelegt von Deutsche Welthungerhilfe und terre des hommes Deutschland e. V., Die Wirklichkeit der Entwicklungshilfe. Siebter Bericht 1998/99. Eine kritische Bestandsaufnahme der Deutschen Entwicklungspolitik, Bonn 1999, S. 13 ff.

  3. Vgl. mit weiterführenden Belegen drei frühere Publikationen des Verfassers zum Thema: Armut, Entwicklung und Entwicklungspolitik. Ein Tabubruch, in: Udo Steinbach/Volker Nienhaus (Hrsg.), Entwicklungszusammenarbeit in Kultur, Recht und Wirtschaft. Grundlagen und Erfahrungen aus Afrika und Nahost, Festgabe für Volkmar Köhler zum 65. Geburtstag, Opladen 1985, S. 73-103; Armutsbekämpfung durch Entwicklungshilfe? Fünf Thesen zur Diskussion, in: Robert Kappel (Hrsg.), Weltwirtschaft und Armut, Hamburg 1997, S. 310-327; Armutsbekämpfung durch Entwicklungshilfe: Mythos oder Realität?, in: Politische Bildung, 32 (1999) 3, S. 54-69.

  4. Vgl. Winfried Pinger (Hrsg.), Armutsbekämpfung. Eine Herausforderung an die deutsche Entwicklungspolitik, Unkel u. a. 1998.

  5. Die Kopfzeile der Vorabdrucke von Entwürfen des Weltentwicklungsberichts 2000 oder des Jahresberichts 1999 ( im Internet) z. B. wiederholt auf jeder Seite: "A World Free of Poverty". Es versteht sich, dass die Bretton-Woods-Institutionen mit diesem Anspruch durch eine bestimmte Denkschule massiv unter Kritik gekommen sind. Insbesondere Anpassungsprogramme sind unter massiven Beschuss geraten (vgl. etwa Michel Chossudovsky, The Globalisation of Poverty. Impacts of IMF and World Bank Reforms, London u. a. 1996). Gelassenere Stimmen (z. B. Christian Michelsen Institute, The World Bank and Poverty in Africa. A Critical assessment of the Bank's operational strategies for poverty reduction, Oslo 1998) kommen zu ganz anderen Resultaten ("Despite various shortcomings, it - cf the World Bank - is at present far ahead of other donor agencies", S. 16). Genauer zum Thema Jürgen H. Wolff, Entwicklungspolitik - Entwicklungsländer, Fakten - Erfahrungen - Lehren, München 1998², S. 211 ff.; UNDP (Poverty report 1998, Kap. 1) spricht gar von "The Eradication of Poverty", sie sei "Within our Reach"! Zur Strategie der Bank vgl. Hans P. Binswanger/Pierre Landell-Mills, The World Bank's Strategy for Reducing Poverty and Hunger, Washington 1995; The World Bank, Poverty Reduction and the World Bank. Progress in Fiscal 1998, Washington 1999.

  6. Vgl. Franz Nuscheler, Deutsche Entwicklungspolitik: Auf alten Wegen vor neuen Herausforderungen?, in: Politische Bildung, 32 (1999) 3, S. 9-22, hier S. 16.

  7. Vgl. Jürgen H. Wolff, Noch einmal zum Weltsozialgipfel. Sechs Argumente gegen die 20/20-Initiative von UNDP, in: Entwicklung und Zusammenarbeit, 36 (1995), S. 47-50.

  8. Man vergleiche hierzu die Erfolgsberichte von entwicklungspolitischen Organisationen wie Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (J. H. Wolff [Anm. 5], S. 309 ff.), Gesellschaft für technische Zusammenarbeit oder Kreditanstalt für Wiederaufbau (der gerade publizierte fünfte Auswertungsbericht über geförderte Vorhaben in Entwicklungsländern: Ergebnisse der Finanziellen Zusammenarbeit z. B. enthält auf S. 20 ff. Übersichten über die Anteile erfolgreicher Projekte) oder der Weltbank (vgl. J. H. Wolff [Anm. 5], S. 273 f.). Allerdings ist einzuräumen, dass die im Folgenden erörterten strukturellen Probleme allmählich in das Bewusstsein der entwicklungspolitischen Akteure rücken, ohne dass die für sich genommen wenig aussagekräftigen Erfolgsmeldungen relativiert würden.

  9. Eine genauere Erörterung des Forschungsstandes in: J. H. Wolff (Anm. 5), S. 48 f.

  10. Vgl. The World Bank, Assessing Aid. What Works, What Doesn't, and Why, Oxford u. a. 1998, S. 19. Vgl. auch Janine L. Bowen, Foreign Aid and Economic Grouth, Aldershot u. a. 1998, S. 85.

  11. Vgl. ebd., S. 64 f.

  12. Vgl. ebd., S. 67.

  13. Vgl. ebd., S. 68.

  14. Vgl. ebd., S. 69 f.

  15. Keith B. Griffin, International Inequality and National Poverty, London 1978, S. 62. Übersetzung durch den Verfasser.

  16. Der Investitionshaushalt Ruandas, eines bevorzugten Empfängers internationaler Entwicklungshilfe, hängt zu etwa 95 %, das Budget der laufenden Ausgaben zu, je nach Quelle, der Hälfte bis zwei Dritteln von ausländischer Hilfe ab. Die frei gewordenen Ressourcen erlauben es dem Land, zum zweitenmal innerhalb von zwei Jahren (1996 und 1998) einen Krieg im Ausland (Kongo-Zaire, siebenhundert Kilometer von seiner Grenze entfernt) zu führen (z. Z. prekärer Waffenstillstand!).

  17. Auch wenn die Weltbank in ihrer neuesten Publikation zum Thema zu Recht darauf hinweist, dass der erste Chefökonom der Bank, Rodenstein-Rodan, schon in den fünfziger Jahren darauf aufmerksam gemacht habe, dass Entwicklungshilfe fungibel sein könne, ist diese völlig richtige Erkenntnis in der Folgezeit über Jahrzehnte von den interessierten Institutionen, die Weltbank eingeschlossen, totgeschwiegen worden. Man vergleiche die oben erwähnten Erfolgsberichte etwa der deutschen Durchführungsorganisationen oder die nur teilweise öffentlichen Evaluierungen des Operations Evaluation Department der Weltbank, die sich praktisch ausschließlich auf Einzelprojekte beziehen - es ist ja auch einfacher so!

  18. Hierzu jüngst wieder Hans-Rimbert Hemmer (Hrsg.), Wirtschaftliche Systemtransformation und Armutsbekämpfung - eine ökonomische Analyse am Beispiel der Sozialistischen Republik Vietnam, Münster u. a. 1999 ("Dabei zeigt sich, dass durch das rasche Wirtschaftswachstum der letzten Jahre Umfang und Tiefe der Armut auf nationaler Ebene mit einer Geschwindigkeit reduziert werden konnte, für die sich kaum empirische Vergleiche finden lassen", S. 245).

  19. The World Bank ( Anm. 10), S. 35.

  20. Vgl. ebd., S. 12, 36.

  21. Vgl. ebd., Kap. 3.

  22. Vgl. ebd., S. 12.

  23. Vgl. Paul Collier/David Dollar, Aid Allocation and Poverty Reduction, World Bank Policy Research, Working Paper 2041, 1998 (Internetausgabe), S. 1. Hiernach erhalten die Länder mit guter Politik und 74 Prozent der Armen weltweit nur 56 Prozent der internationalen Entwicklungshilfe. "We find that the actual allocation of aid is radically different from poverty-efficient allocation."

  24. Laut Anwort Bmureks (World Bank) auf persönliche Anfrage (via Internet) über Country Policy and Institutional Assessment am Beispiel Boliviens, (http://wbln0018.world bank.org / Exte .  .  . 69255852567fd00548efe? - Open). Document)

Dipl.-Volksw., Dr. phil. habil., geb. 1940; Professor für Soziologie der Entwicklungsländer an der Ruhr-Universität Bochum.

Veröffentlichungen zu Politik und Gesellschaft von Entwicklungsländern mit Schwerpunkt Andenländer, Schwarzafrika und Südostasien sowie zu Fragen der Entwicklungspolitik; gutachterliche Tätigkeit in diesem Bereich.