Die Ohnmacht der Objektivierung Deutsche Historiker und ihre Umbruchserinnerungen nach 1945 und nach 1989
I. Zitierte Erfahrung
Zeitgeschichtliches Erleben tritt im historischen Diskurs in zwei Hauptformen als unmittelbare Autorität zutage: als Citatio und als Narratio. Zitative Erinnerung liegt vor, wenn in der DDR der fünfziger Jahre bei den Beratungen des Autorenkollektivs für das "Lehrbuch deutsche Geschichte" ein 1909 geborener Historiker die wahlbeherrschende Macht der ostelbischen Junker in der Weimarer Republik mit seiner Erinnerung an die Landagitation des Kommunistischen Jugendverbandes zu stärken versuchte [3] oder ein siebzehn Jahre älterer Fachkollege "schon aufgrund meiner Tätigkeit in Süddeutschland" unterstreichen konnte, "welche ungeheure starke Tätigkeit die Kommunistische Partei in der Bauernfrage in den Jahren der Weimarer Republik entfaltet hat" [4] .Zitative Erinnerung ist ihrer Struktur nach selektiv und instrumentell; sie macht erlebte Geschichte zum beglaubigenden Argument. Im Kontext der von dem Hamburger Neuzeithistoriker Fritz Fischer (1910-1999) zu Beginn der sechziger Jahre ausgelösten Kontroverse um die deutsche Kriegsschuld 1914 verwiesen konservative Historiker in der Bundesrepublik ebenso gerne auf ihre Erinnerung an Fischers einstige Nähe zu Institutionen der NS-Historiographie [5] , wie in der DDR mancher parteifromme Wissenschaftler nicht müde wurde, an die einstige abtrünnige Haltung nachmals bedeutender SED-Historiker in der Weimarer Republik zu erinnern, oder altgediente Fachfunktionäre sich umgekehrt in vertrautem Kreise häufig gerne darauf besannen, dass Thälmann und Ulbricht noch in der USPD aktiv waren, als sie schon die KPD mitbegründet hätten [6] .
Dennoch zeigen sich in der zitativen Verwendung historischen Erlebens charakteristische Unterschiede der drei deutschen Geschichtskulturen nach 1945 in Ost und West sowie nach 1989 in der vereinigten Bundesrepublik. In der westdeutschen Fachzunft spielte der beglaubigende, distanzierende oder werbende Rekurs auf die eigene Erfahrung nach dem Zusammenbruch von 1945 nur für kurze Zeit eine prominente Rolle, in der es um Positionsfindung und akademische Neuordnung ging. Hartnäckig konnte in dieser Zeit ein in der Zeit der NS-Herrschaft nicht kompromittierter Historiker wie Siegfried A. Kaehler (1885-1963) [7] an die "fast wahnsinnige" England-Rede des im "braunen Nebel" um "sein sonst gutes Urteil" gebrachten Zunftgenossen Karl Alexander von Müller (1862-1964) von 1939 erinnern [8] , der Hitlers Nähe bereits in den zwanziger Jahren gesucht, sich 1933 zur NSDAP bekannt und 1935 Friedrich Meinecke (1862-1956) aus der Herausgeberschaft der Historischen Zeitschrift hinausgedrängt hatte. Im gleichen Stil vermochte Kaehler sich über den noch 1943 unerschütterten Glauben des Posener und später Göttinger Universitätsprofessors Reinhard Wittram (1902-1973) an die den Überfall bemäntelnde Lüge vom unbeantworteten deutschen Ultimatum an Polen zu verwundern [9] . Analog weigerte sich in derselben Zeit der erste Vorsitzende des Deutschen Historiker-Verbandes nach dem Zweiten Weltkrieg, Gerhard Ritter (1888-1967), seinem 1945 suspendierten Marburger Fachkollegen Wilhelm Mommsen (1892-1966) den erbetenen Persilschein auszustellen, "weil ich eben zu wenig von Ihrer Lehrtätigkeit weiß" und weil es ihm unmöglich sei, Mommsen zu bescheinigen, "dass Sie ein ,tapferes Buch' geschrieben hätten oder sonstwie eine besonders tapfere Haltung gezeigt hätten" [10] .
Die bald aufkommende Aversion gegen die "Naziriecherei" beendete diese Phase einer kritischen Durchleuchtung vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung bekanntlich rasch. Es dauerte nur ein Jahr, bis Gerhard Ritter Wilhelm Mommsen doch die erbetene Unbedenklichkeitsbescheinigung ausstellte, und zehn Jahre später war auch Siegfried Kaehler geneigt, einem nationalsozialistischen Volkstumspropagandisten, dem er im Juli 1945 noch seine "stark hervorgekehrte" Parteimitgliedschaft verübelte [11] , die Abhängigkeit vom Zeitgeist zugute zu halten und die "Frucht seiner Lebensarbeit" zu rühmen [12] .
Differenzierter stellt sich die Lage in der DDR dar. Der parteiamtlichen Ausforschungspraxis in der Zeit der Stalinisierung und des Kampfes gegen den "Kosmopolitismus" blieb kein Detail im Leben ,westemigrierter' Historiker verborgen. Sie zwang Hochschulprofessoren wie außeruniversitäre SED-Historiker, ihre Vergangenheit in ausführlichen Lebensläufen niederzulegen und gegebenenfalls die Erinnerung an die "elende Scharte in meiner Parteivergangenheit" in selbstkritischen Unterwerfungsschreiben an die Parteispitze selbst festzuhalten [13] . Fachöffentlich aber regierte auch in der DDR bis in die Zeit des Zusammenbruchs ein nur selten durchbrochener Schweigekonsens. So profitierte der entpflichtete Priester, Theologe und Historiker Eduard Winter (1896-1982) vom selbstverordneten Schweigen des ostdeutschen Fachbetriebs, in dem kaum jemand nach Winters Verhalten in Bezug auf die Gleichschaltung nach dem deutschen Einmarsch in Prag zu fragen wagte oder Näheres über seine Rolle in der dortigen Reinhard-Heydrich-Stiftung während des Krieges wissen wollte [14] .
Wie Winter schützte das verordnete Schweigen auch andere NS-belastete Kollegen an der Akademie der Wissenschaften über ihre Vergangenheit, und es blieb einem sozialistischen Dissidenten wie Robert Havemann vorbehalten, sich darüber zu empören, dass an seinem Ausschluss aus der Akademie der Wissenschaften 1965 mit dem Rektor der Berliner Humboldt-Universität, dem Präsidenten der Akademie der Wissenschaften und dem zuständigen Staatssekretär gleich drei "ehrenwerte Herren" mitwirkten, die "ehemals Mitglieder der Nazipartei gewesen seien" [15] . Doch eisern wahrten in der DDR-Historiographie auch Opfer des Stalinismus ihr Schweigen. Nur sehr verdeckt wagte selbst ein so mächtiger Repräsentant der DDR-Geschichtswissenschaft wie der als Geschichtsfunktionär wie Fachhistoriker gleichermaßen einflussreiche Leo Stern (1901-1982) sich für die Rehabilitierung seines unter Stalin umgekommenen Bruders Manfred Stern einzusetzen, der als General Emilio Kléber eine herausragende Rolle im Spanischen Bürgerkrieg gespielt hatte [16] . Nie brachen erst nach Stalins Tod aus der Sowjetunion entlassene Kommunisten, die dann in der DDR als professionelle Historiker arbeiteten, das Schweigen über ihr Schicksal in Stalins Lagern, in denen sie fast zwanzig Jahre verbringen mussten. Als unbegründet erwies sich daher die Furcht von Einheitspartei und Staatssicherheit, der 1956 aus dem "Archipel GULAG" nach Deutschland zurückgekehrte und am Akademie-Institut für Geschichte tätige Neuzeithistoriker Wolfgang Ruge (geb. 1917) könne "seine doppelbödigen Auffassungen kund . . . tun" und "deutlich auf seine persönlichen Erlebnisse in 10-jähriger Haft in der UdSSR an(spielen)" [17] . Die Angst, dass das sozialistische Weltprojekt durch eine kritische Offenlegung seiner mörderischen Geschichte in Gefahr geraten könne, band Verfolger und Verfolgte dauerhafter als der Wunsch nach persönlicher Genugtuung.