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"1968" in der gegenwärtigen deutschen Geschichtspolitik | Die 68er-Generation | bpb.de

Die 68er-Generation Editorial 1968 ist Geschichte Vor der Revolte: Die sechziger Jahre Denkmodelle der 68er-Bewegung "1968" in der gegenwärtigen deutschen Geschichtspolitik Die versäumte Revolte: Die DDR und das Jahr 1968

"1968" in der gegenwärtigen deutschen Geschichtspolitik

Edgar Wolfrum

/ 25 Minuten zu lesen

"1968" wird derzeit zum Dreh- und Angelpunkt des geschichtspolitischen Kampfes um das Selbstverständnis der BRD. Die Frage, welche Deutungsmuster sich in der Öffentlichkeit durchsetzen, ist von großer Wichtigkeit.

I. Zwischen Mythos und Kulturkampf

Auch demokratische Gesellschaften besitzen ihre Mythen, wenn man darunter Erzählungen versteht, die Zusammenhalt stiften und über gesellschaftliche Teilgruppen hinweg eine Art fraglose Geltung im kollektiven Gedächtnis erlangen. Einer dieser Mythen der alten Bundesrepublik Deutschland betrifft das Jahr 1968. Diese Jahreszahl als Chiffre für die Studentenbewegung hat sich erst gegen Ende der achtziger Jahre durchgesetzt, zuvor existierten andere Benennungen. Mit dem populär gewordenen Begriff der "68er" ist nicht zuletzt eine Analogie zu den demokratischen Revolutionären von 1848, den "48ern", hergestellt worden. Der Mythos 1968 erlaubt es, die Geschichte der alten Bundesrepublik plausibel in zwei fast exakt gleich lange Phasen einzuteilen: Zwischen 1949 und 1989 lag 1968. Das Datum fungiert als eine Art Scharnier oder als eine Art Klimascheide zwischen zwei Epochen, die sich über weite Phasen auch parteipolitisch trennen ließen. Die Erzählung über 1968 lautet: Hier ist es zu einer zweiten Gründung, zu einer zivilen Nachgründung der bundesdeutschen Demokratie gekommen; war die Bundesrepublik zuvor lediglich eine formale Demokratie - manche meinten, ein angepasstes, ja sogar restauratives Land -, so war jetzt ein Zugewinn an Partizipation hinzugetreten. In den Unruhen bestand die Demokratie ihre Feuertaufe, und es gab einen Schub hin zu einer langfristigen Verwestlichung. Eine andere Auslegung der Ereignisse von 1968 hebt auf die Lebensstile und kulturellen Umgangsformen ab. Diese Version hat den Vorteil, dass nahezu alle - Befürworter wie auch Kritiker - sich in diesem Mythos auf die eine oder andere Weise wiederfinden können. So oder so: Die Legende einer zweiten "Stunde null" umrankt diese Jahreszahl.

Zu den Jubiläen des Datums gab es regelmäßig Publikationsschübe . Zeitzeugen meldeten sich als Erste zu Wort. Die Beteiligten fühlten (und fühlen) sich als Erbverwalter und rückten ihre eigenen Deutungen in den Vordergrund . Natürlich war das Ereignis hart "umkämpft", '68 hatte tiefe Gräben aufgerissen. Dennoch: Zum 20. Jahrestag 1988, ein Jahr vor dem Ende der "alten" Bundesrepublik, rief das Datum alles in allem eher positive Konnotationen hervor. Die Bundesrepublik schien im sicheren Hafen der Demokratie angekommen, und man konnte sich versöhnliche Rückblicke leisten. Aber beim nächsten Jubiläum fünf Jahre später hatte sich alles verändert; nun wurde von einem "Kulturkampf gegen die Kulturrevolutionäre" gesprochen, der durch das Ende der kommunistischen Systeme und durch die Wiedervereinigung Deutschlands angeheizt worden war .

Seither rissen die kritischen Stimmen nicht mehr ab. Eine Folge des Epochenwandels von 1989/90 war, dass "linke" Strömungen und Zielsetzungen zum Teil dramatisch abgewertet wurden. Außerdem traten die Erblasten von 1968 in den Vordergrund, etwa die Autoritätsschwäche innerhalb der Gesellschaft und der Werteverfall. Als Folge von '68, so vermerkten zahlreiche Kritiker, ziehe die Gesellschaft keine klaren Grenzen und setze keine Maßstäbe mehr - so ließen sich Randale und Gewaltexzesse von Jugendlichen bis hin zu rechtsradikalen Ausschreitungen erklären. Heute, über dreißig Jahre nach 1968, scheint die deutsche Gesellschaft vor einer dritten "Vergangenheitsbewältigung" zu stehen. Deutschland mit seiner gebrochenen Geschichte habe die Vergangenheitsbewältigung zu einer "Staatsdoktrin" erhoben, meinte die Neue Zürcher Zeitung . Nach den Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus und den in das SED-Regime und die Stasi verstrickten Ostdeutschen sind nun die 68er die dritte Gruppe, über deren Vergangenheit gestritten wird. '68 wird dabei zum Dreh- und Angelpunkt des politischen Kampfes um das Selbstverständnis der Republik. Mit dem Machtkampf um Vergangenheitsbilder soll gegenwärtiges und zukünftiges politisches Handeln legitimiert werden. Die Deutungshoheit über das Gestern verspricht die Macht für morgen, und deshalb war die Position des Siegers der Geschichte immer schon heftig umkämpft.

Die (Re-)Konstruktion der Vergangenheit war nie ein Monopol der Geschichtswissenschaft, und sie ist es, wie sich zeigen wird, auch im Fall 1968 nicht. Daneben existieren populäre, pädagogische, triviale und vor allem politische Zugriffe, die im Folgenden im Mittelpunkt stehen. Aber ein kurzer Blick auf die Tendenzen und Ergebnisse der heutigen historischen und sozialwissenschaftlichen Forschung ist vorab notwendig, um die Facetten der politischen Zugriffe besser zu verstehen. Denn gänzlich abseits der wissenschaftlichen Erkenntnisse können sich auch die politischen Aneignungen nicht bewegen, wollen sie Plausibilität beanspruchen.

II. Wissenschaftliche Deutungen

Zwischen eher rechten und eher linken Wissenschaftlern war 1968 schon während der Ereignisse selbst umstritten und blieb es auch. Aber auch Vertreter innerhalb der jeweiligen Lager legten widersprechende Deutungen vor. Für die einen bedeutete 1968 trotz vieler Friktionen eine Emanzipation , andere erkannten nur surreale Verhaltensweisen oder einen im deutschen Kontext geradezu gefährlichen romantischen Rückfall . Im Lichte der neueren Forschung, die intensiv Mitte der neunziger Jahre eingesetzt hat, waren '68 und die Folgen vieles zugleich: politische Protestbewegung, Generationenkonflikt, Kulturrevolution, Renaissance marxistischen Denkens, Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Durchbruch einer liberalen Sexualmoral, Entstehung einer neuen Frauenbewegung, Verharmlosung und Legitimation von Gewalt bis hin zum Terrorismus. Betont werden zudem Trends, die diese Entwicklungen überwölbten, etwa der Kontingenzcharakter einzelner Ereignisse sowie deren Transnationalität und Globalität. Nirgends traten die 68er als dauerhafte Organisation in Erscheinung, "sondern legten vielmehr Wert darauf, für eine Vielzahl von Protestbewegungen offen und anschlussfähig zu sein, je nach den Gelegenheiten, die sich boten" . Bei einem bedeutenden Teil der Forschung hat es sich durchgesetzt, die Ereignisse, für welche die Abbreviatur '68 steht, als Ausdruck einer sozialen Bewegung zu analysieren, womit einzelne Akteure gegenüber strukturellen gesellschaftlichen Entwicklungen nachrangig behandelt werden .

'68 wird heute gemeinhin ein Doppelcharakter bescheinigt: Politisch sei die Bewegung gescheitert, aber soziokulturell habe sie erhebliche Folgewirkungen gehabt - es bleibt allerdings schwierig, deren Ausmaß genau zu bestimmen. Zugleich hat es sich eingebürgert, von den unintendierten heilsamen Effekten für die Stabilität der Bundesrepublik zu sprechen. "Die Wirkungen der Studentenbewegung waren zwiespältig und großenteils ungewollt." So war eine Verwestlichung der Bundesrepublik nicht intendiert, trat aber ein . Auf längere Sicht stiegen die Zustimmungsbereitschaft und die Demokratiezufriedenheit der Bundesbürger, und ihre aktive Beteiligung an der Gesellschaft nahm zu. Was jedoch im Rückblick als Verdienst der 68er erscheinen mochte, war nicht selten vor allem das Ergebnis der Kritik an ihnen oder wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht bereits lange vor 1968 eine fundamentale Liberalisierung von Politik, Kultur und Gesellschaft eingesetzt hätte. Pointiert lässt sich von einer "glücklich gescheiterten Umgründung" der Republik mit paradoxen Folgen sprechen: "Die Thematisierung der Legitimationskrise verschaffte der Zweiten Republik ein höheres Maß an Legitimität." Was bedeutet dies für '68? Kritiker saldieren: Geistig-ideologisch sei das Denken in marxistischen Kategorien ein Rückschritt gewesen; in ihrer politischen Praxis hätten die '68er ziemlich undemokratisch agiert, hätten mithin zur Demokratisierung nichts beigetragen; hingegen hätten sie die Gewaltspirale hin zum Terrorismus in Gang gesetzt; einzig im Abbau von Autoritäten seien die 68er erfolgreich gewesen, aber in der notwendigen Schaffung neuer Werte hätten sie abermals versagt . Vor allem zwei Probleme, die miteinander zusammenhängen, erschweren die Erforschung von 1968: Die vielen ungewollten Ergebnisse öffneten zum einen Lebenslügen und Legenden Tür und Tor. Zum anderen vermischen sich der Erlebnishorizont des Zeitzeugen und der Erklärungshorizont des Wissenschaftlers - oftmals sogar in ein und derselben Person.

III. Politische Zugriffe auf die Geschichte

Wissenschaft und Mythos können sich also verbünden, aber Historiker und Sozialwissenschaftler sind, wenn sie ihr Metier ernst nehmen, der wahrheitsgetreuen Rekonstruktion und der Traditionskritik verpflichtet . Geschichtspolitik vermag aufklärerische oder legitimatorische - und noch weitere - Funktionen zu umfassen. In allen Fällen verweist der Begriff auf den aktiven, tätigen, auf die breite Öffentlichkeit ausgerichteten Part bei der Produktion von Geschichtsbildern. Untersuchungen zur Geschichtspolitik richten das Augenmerk auf die Träger und Institutionen eines Zugriffes auf Geschichte sowie auf deren Motivstrukturen und dahinter stehenden Erwartungen. Sie analysieren Diskurse und Praktiken, mit denen Geschichtsbilder formuliert und popularisiert werden. So lässt sich verdeutlichen, dass es das Ziel dieser Diskurse und Praktiken ist, bestimmten Geschichtsbildern weitmöglichste Geltung innerhalb einer Gesellschaft zu verschaffen, ja bindende Entscheidungen beim Umgang mit der Vergangenheit zu treffen . Erinnern und Vergessen hängen dabei unlösbar miteinander zusammen, denn Abblenden, Verdrängen und Vergessen schafft erst den Raum für die Erinnerung .

Was geschichtspolitische Diskurse sind und was sie so bedeutsam macht, kann durch eine Differenzierung zwischen erstens Basiserzählung, zweitens geschichtspolitische Diskurse und drittens situative Alltagsgeschichten anschaulich gemacht werden. Eine Basiserzählung bildet die Grundlage einer spezifischen Verständigung über die Vergangenheit in einer Gesellschaft. Es handelt sich um die Sedimentierung von Ereignisdeutungen, aus der eine anerkannte, legitime Sichtweise der Vergangenheit entspringt. Dabei ist eine gewisse Variationsbreite immer angelegt, und auch Widersprüche können inkorporiert sein. Dieser Basiserzählung stehen mannigfache, individuelle Geschichten gegenüber, die sich auf die Alltagssphäre beziehen. Die geschichtspolitischen Diskurse wiederum haben eine zentrale Funktion: Sie vermitteln nicht nur zwischen Alltagsgeschichten und Basiserzählung, sondern sie sind zugleich diejenige Instanz, in der das Konkurrenzverhältnis von Geschichtsbildern institutionalisiert ist. Anders gesagt: In öffentlichen geschichtspolitischen Konflikten wird über die legitime Sichtweise der Vergangenheit gestritten. Hier versuchen die politischen Akteure, die Basiserzählung zu gestalten, indem die Botschaften, die formuliert werden, potenzielle Bestandteile einer jeweils modifizierten Basiserzählung bilden. Welche dieser Botschaften in die Basiserzählung aufgenommen werden, entscheidet sich in den Konflikten und in der Konfrontation mit alternativen Sichtweisen.

Friedrich Nietzsche verdanken wir eine Unterscheidung nach drei Arten der Historie. Er unterschied einen antiquarischen, einen monumentalistischen und einen kritischen Zugriff auf die Vergangenheit . Mit einigen Modifizierungen eignet sich diese Unterscheidung gut als Rahmen auch für den heutigen geschichtspolitischen Umgang mit 1968.

1. Der antiquarische Zugriff

Die Voraussetzung für den Machtwechsel von 1998 war eine "Abkehr von den Ideen von 1968", schreibt Heinz Bude. "Im Wahlkampf dieses Jahres wurde im Zeichen von Verlässlichkeit und Anschlussfähigkeit die ganze kulturrevolutionäre Altlast von 1968 entsorgt." Die heutige Debatte über '68 bietet Kritikern der rot-grünen Bundesregierung die Gelegenheit, den "Linken" eine unbewältigte Vergangenheit vorzuhalten und den Machtwechsel als Irrtum, der revidiert werden müsse, zu deuten. Ähnliches hatte es bereits mit Blick auf den ersten Machtwechsel in der Bundesrepublik, den von 1969, gegeben. Nach dem Regierungswechsel von 1982/83 ging es Helmut Kohl in seinen Reden darum, die Wende wie eine zweite "Stunde null" darzustellen. Dahinter tauchte die Frage auf: Welche historische Erinnerung an die siebziger Jahre sollte bleiben? Was von dem, das in der ersten Phase der sozialliberalen Koalition geschaffen wurde, sollte weiterhin Bestand haben? Unverkennbar war damals das Bemühen der Union, den Aufbruchmythos des frühen Sozialliberalismus zu entzaubern. Der Stachel saß und sitzt bis heute tief. Denn mit der Wende zu Helmut Kohl zog Ende März 1983 auch eine bunte Truppe der Grünen in den Deutschen Bundestag ein, und der schmale Keil in der Mitte des Plenums, den die 27 alternativen Parlamentarier besetzten, symbolisierte einen Riss in der Nachkriegsgeschichte. In den Worten von Antje Vollmer verstand sich diese neue Partei auch "als Instrument zur Resozialisierung der 68er für die bundesdeutsche Politik" .

Vor allem über eine Apologie des offenbar kongenialen Gründungskanzlers Konrad Adenauer kehrten in der Ära Helmut Kohl Versatzstücke der fünfziger Jahre in die öffentliche Diskussion zurück. In den Fünfzigern wollten die Union und ihr nahe stehende Intellektuelle und Publizisten eine Zeit des gesellschaftlichen Konsenses, der Stabilität, Sinnerfüllung und Zukunftsgewissheit erkennen. Ihre Vitalität erinnerte im Nachhinein an die (vermeintlichen) "Goldenen Zwanziger" .

Auch heute bezieht sich der Kampf um die Kontrolle der politischen Diskurse darauf, die bundesrepublikanische "Erfolgsnation" Adenauer'scher Prägung in die Gegenwart hinein zu verlängern und die "Leistung" Bundesrepublik für die Konservativen zu reklamieren, indem man deren Geschichte begradigt und dem Sozialliberalismus seit 1969 eine Abirrung vom geraden Weg bescheinigt. "Unser Staat, die Bundesrepublik Deutschland", so die CDU-Vorsitzende Angela Merkel im Januar 2001, "ist seit 1949 ununterbrochen eine freiheitliche, solidarische, weltoffene Republik, auf die wir stolz sein können." Dieser Satz enthält, wie Ulrich K. Preuß bemerkt hat, den Schlüssel zum Verständnis der Schwierigkeiten, '68 zu begreifen. Wie Francis Fukuyama nach dem Ende des Ost-West-Konflikts 1989 voreilig das Ende der Geschichte verkündete , so ließ Angela Merkel die Geschichte Deutschlands 1949 enden. "Denn folgt man ihrer Argumentation, dann hat mit der Gründung der Bundesrepublik die Geschichte der politischen Ordnungen für Deutschland ihren endgültigen Abschluss gefunden und das überzeitliche Ideal einer guten Ordnung seine Verwirklichung erfahren." Ob beabsichtigt oder nicht, damit ist zugleich eine Abwertung eines Teils von 1989 beinhaltet, nämlich des Teils der DDR-Bürgerrechtsbewegung, der sich weniger mit der Adenauer-Ära als vielmehr mit der bundesdeutschen Zivilgesellschaft der siebziger Jahre, vor allem der Friedensbewegung, identifizierte.

Antiquarisch ist dieser Zugriff auf die Geschichte also mit Blick auf die Bundesrepublik vor 1968. Mit Treue, Liebe und Pietät wird dorthin zurückgeblickt, woher man kommt oder wohin man sich zugehörig fühlt. Alles, was dieser Vergangenheit nicht mit Ehrfurcht entgegentritt, das Neue und Unsichere, wird abgelehnt. Bisweilen erscheint hierbei der Protest als kein notwendiger Bestandteil einer lebendigen Demokratie. Vielmehr orientiert man sich an einem von keinerlei Interessengegensätzen geprägten allgemeinen Wohl, an dem alle Politiker gemeinschaftlich arbeiten sollen. Vor diesem Hintergrund wird der häufige Verweis auf "unseren" Staat, der durch die Revolte von 1968 bedroht war, verständlich. Ohne die linksradikalen Gewalttäter wäre der Bundesrepublik ein dauerhaftes Glück beschert gewesen. Deutlich wird, dass es in der gesamten Debatte um 1968 immer auch um die Wertung der Adenauer-Zeit geht.

Wer die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Adenauer-Zeit hoch veranschlagt und die Kontinuität alter Eliten gering bzw. ihnen einen Lernprozess zubilligt, kann den 68ern nur bescheinigen, dass sie sich zu heuchlerischen "Scharfrichtern über ihre Väter" aufspielten, moralisch eingefärbte Urteile fällten, ohne selbst Moral und Sittlichkeit zu besitzen . 1968 wird nicht als Nachgeschichte der angeblich bis dahin unterbliebenen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus interpretiert, sondern als Vorgeschichte des Terrorismus.

Viele Sozialdemokraten vermuten noch heute, dass der Konservatismus im Zuge von 1968 während der siebziger Jahre den "Kulturkampf" verloren habe, "weil er sich zurückgezogen hatte auf einen Traditionalismus, der seine Stärke aus dem Autoritarismus bezog" . In solchen Beschreibungen wird die "Tendenzwende", die kurz nach Willy Brandts Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers eingeleitet und durch neue Krisen verstärkt wurde, völlig ignoriert. Tatsächlich setzte Mitte der siebziger Jahre eine unübersehbare Themenwende ein. Bis dahin geltende Werte und Normen wurden hinterfragt, und vor dem Hintergrund einer sich zuspitzenden geistigen und politischen Polarisierung bildeten sich neue Wahrnehmungen und Leitbilder aus. Die Debatte über den Standort der Deutschen wandelte sich grundlegend . Eine Fortschritts- und Legitimationskrise begann, es setzte ein grassierender Kulturpessimismus ein, und der Terrorismus verursachte ein kollektives Angstgefühl. Die "Linke" verlor auf Jahre hin ihre kulturelle Hegemonie. Auf den überschießenden emanzipatorischen und demokratisch-kritischen Anspruch aus dem Geist der Studentenbewegung und der frühen sozialliberalen Zeit antworteten konservative Intellektuelle mit Gegenidealen. Die alten Signalwörter: Emanzipation, Fortschritt, kritisches Bewusstsein, innere Reformen und Entspannung wurden umfassender Kritik unterzogen. Die linke Theorie und Praxis galt angesichts ausbleibender Erfolge und neuer gesellschaftlicher Bedrohungen als abgenutzt. Die neue Stimmung in der Bundesrepublik förderte hingegen eher konservatives Denken. "Bewahren", nicht mehr "verändern" sollte nun die erste Bürgertugend sein .

Was blieb, war eine geschichtspolitische Ideologisierung, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart hinein reichen. Als Kampfparole hatte der Faschismus-Begriff Ende der sechziger Jahre Eingang in die außerparlamentarische Opposition (APO) gefunden. Durch die Kritische Theorie und die marxistische Faschismusanalyse der "Neuen Linken" war das in den Jahrzehnten zuvor in der Bundesrepublik häufig benutzte Totalitarismustheorem aufgelöst und der fundamentale Gegensatz von Diktatur und Demokratie verwischt worden. Der Nationalsozialismus wurde als eine mögliche Form der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet. Auf diese Weise konnte man nicht nur die "Restauration" der fünfziger Jahre anprangern, vielmehr sah sich ein Teil der APO mit dieser Theorie in die Lage versetzt, die "bürgerliche" Bundesrepublik als eine Fortsetzung des Nationalsozialismus und als strukturell faschistoid zu diffamieren. Auf der gegenüberliegenden Seite stand die Demagogie der meinungsbeherrschenden Medien, namentlich der "Bild-Zeitung", die ihrerseits die 68er und die RAF-Mitglieder als "Kinder Hitlers" bezeichnete . Solchermaßen falsche Faschismus-Analogien, die in dieser Zeit auf beiden Seiten gang und gäbe waren, erschwerten eine realistische Bewertung der Abläufe.

In den medienerzeugten Wahrnehmungsmustern, in den Erregungen und Skandalisierungen sind auch heute noch und wieder solche schiefen historischen Analogien vorzufinden, wenn etwa eine Gemeinsamkeit zwischen den Nazivätern und ihren revoltierenden Söhnen behauptet wird. Der Streit um das Erbe von '68 wird "mit einem Furor geführt, als lägen nicht 30 Jahre, sondern 30 Tage zwischen dem linksradikalen Damals und dem ideologisch gedämpften Heute" . Außerdem wird die rechtsradikale Gewalt der neunziger Jahre durch einen Vergleich mit der linksradikalen Gewalt der siebziger Jahre in eine neue, bisweilen relativierende Perspektive gerückt. So etwa, wenn der prominente CSU-Politiker Peter Gauweiler in der "Bild-Zeitung" zu bedenken gibt, dass in den siebziger Jahren eine Brutalität und Militanz an der Tagesordnung gewesen sei, "die heute Verfassungsschützer rechtsradikalen Parteien mühsam zuzuordnen beschäftigt sind" .

Eine weitere Dimension, die in die 68er-Debatte hineinragt und mitten auf die Basiserzählung der Bundesrepublik zielt, ist wichtig: der Streit darüber, wem der Lorbeer der deutschen Einheit von 1989 zusteht. Der konservativen Interpretation zufolge hatten die Sozialdemokraten im Zuge von 1968 die Nation ganz aus den Augen und dem Sinn verloren. Die Debatte um '68 verzahnt sich mit einer über Nation und Vaterland. Die Neue Ostpolitik der "Wiedervereinigungspessimisten" hat demzufolge die Vereinigung Deutschlands verzögert, weil sie den Status quo verfestigte und die alten Machtstrukturen im Ostblock stabilisierte. Die geschichts- und nationsvergessenen Sozialdemokraten hätten sich, mit der Erbschaft von '68 bepackt, auf dem Marsch in den Sozialismus befunden. Die Politik der Entspannung wird so zu nichts anderem als zu einer Politik der Beschwichtigung und der Kungelei mit der SED. Hätte '68 gänzlich den Sieg davongetragen, so lautet die teils unterschwellige, teils offene Argumentation, wäre es zu einer Aufkündigung der Westbindung und zu einer Abhängigkeit der Bundesrepublik von der DDR gekommen . Das SPD-SED-Papier "Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit" aus dem Jahr 1987, das den ideologischen Gegensatz zwischen Demokratie und Diktatur entdramatisiert habe, sei letzter Höhepunkt eines "Wandels durch Anbiederung" gewesen . 1989 schließlich sei Adenauers Politik, keineswegs aber die sozialliberale, bestätigt worden. Im sozialdemokratischen Gedächtnis ist der Erinnerungsort "Neue Ostpolitik" hingegen in einer ganz anderen Form präsent .

Allgemein gesprochen kann man festhalten: Geschichte wird zum Themenpark. Parteipolitische Geschichtsbilder gruppieren sich um Gedächtnisikonen herum, die mit weiteren Bestandteilen angereichert werden können. Eine emotionale Besetzung historischer Zeichen erzeugt dann Identitätsdruck - gleichermaßen in der Anerkennung wie in der Ablehnung. Geschichte besitzt einen Appellcharakter, vermag Stimmungen hervorzubringen und eignet sich zur Mobilisierung, um verschiedene Gruppen innerhalb einer Gesellschaft zu Interpretationsgemeinschaften zusammenzubinden. Gruppengedächtnisse werden durch Assoziationen und Emotionen mitgeprägt, und unterschwellige Dispositionen, die Geschichtsanschauungen unterhalb der Ebene einer wissenschaftlichen Reflexion vorstrukturieren, setzen Assoziationsketten in Gang. Dies alles ist nun keine Besonderheit des antiquarischen Verständnisses von Geschichte; ganz im Gegenteil, im monumentalistischen Zugriff auf die Geschichte von 1968 ist dies nicht anders.

2. Der monumentalistische Zugriff

"Die Geschichte gehört vor allem dem Tätigen und Mächtigen, dem, der einen großen Kampf kämpft, der Vorbilder, Lehrer, Tröster braucht und sie unter seinen Genossen und in der Gegenwart nicht zu finden vermag." Die monumentalistische Betrachtung der Geschichte spendet Gewissheit in ungewissen Zeiten: Das Große, das einmal war, wird wohl auch wieder einmal möglich sein. Im gegenwärtigen monumentalistischen Zugriff auf die Studentenbewegung war 1968 ein großes Jahr, nur vergleichbar mit 1848, ein Jahr des Aufbruchs, der Emanzipation, der Freiheit und der Ekstase. Die 68er fühlten sich als die "Vollstrecker des Weltgeistes" , als eine Art Freiheitskämpfer, solidarisch mit den Unterdrückten in der "Dritten Welt", Freiheitskämpfer aber auch im eigenen Land, die im Auftrag der historischen Notwendigkeit für die nachfolgende Geschichte der Bundesrepublik eine heilsame Mission zu erfüllen hatten: diesen Staat zu einer brauchbaren Demokratie und zu einer wirklich modernen Gesellschaft umzubilden. So, als habe die Demokratie in Deutschland nicht 1949 begonnen, wurde 1968 zu einem zweiten Gründungsmythos der Republik erhoben. Diese Deutung als die zweite, die nachholende Gründung der Nachkriegsdemokratie erscheint weitaus angenehmer als die Wahrheit: dass die Demokratie von den westlichen Siegermächten des Zweiten Weltkrieges nach Deutschland gebracht werden musste .

Es ist eine Erbschaft der frühen siebziger Jahre, dass sich heute diese Deutung auf der linken Seite des politischen Spektrums großer Zustimmung erfreut. Seit dem Machtwechsel von 1969 hatte der neue Bundeskanzler Willy Brandt nichts unterlassen, um seine Koalition mit dem Pathos des Neuanfangs zu umgeben . Denn nicht allein, dass die Sozialdemokraten erstmals seit 1930 wieder einen deutschen Kanzler stellten, bedeutete einen Einschnitt. Wichtiger noch war, dass Brandt das "andere Deutschland" verkörperte, aus Emigration und Widerstand gegen den Nationalsozialismus kam. Brandt verstand sich daher "als Kanzler nicht mehr eines besiegten, sondern eines befreiten Deutschland" . Hitler habe nun endgültig den Krieg verloren. Sozialdemokraten wie Linksliberale gleichermaßen überhöhten die neue Koalition als eine historische Zäsur und versuchten, die Bundesrepublik in dieser Zeit des Aufbruchs als die qualitativ höchste Stufe der bisherigen Demokratiegeschichte in Deutschland herauszustellen, indem man sie an die Freiheitsbewegungen der deutschen Geschichte anband. Während linke Sozialdemokraten schon einen "antikapitalistischen Frühling" anbrechen sahen, in dem nicht zuletzt rätedemokratische Modelle fröhliche Urstände feiern würden , mochten Liberale die Beendigung des folgenreichen Konflikts zwischen beiden politischen Strömungen erkennen, der 1848 begonnen hatte. Leidenschaftliche Verfechter der "Freiburger Thesen", die einen demokratischen und sozialen Liberalismus aus den Traditionslinien von Rousseau bis Naumann, von Kant bis Keynes herleiteten, idealisierten das Bündnis geradezu geschichtsphilosophisch. Sie begriffen 1848 als freiheitliche Bürgerrechtsbewegung und sahen eine wesentliche Errungenschaft der Revolution in einer Symbiose von rechtsstaatlichem Liberalismus und sozialradikaler Demokratie, die damals an der Unvereinbarkeit der Ideen gescheitert, in der Bonner Koalition 1969 indessen endlich auf die Erfolgsspur gelangt sei .

Die "Heinemann-Bewegung" verstärkte diesen geschichtspolitischen Diskurs noch zusätzlich - mit Folgen bis in die Gegenwart hinein. Bundespräsident Gustav Heinemann hatte einen ausgesprochen politischen Zugang zur Geschichte. Historie und Tradition waren für ihn Felder, in die es einzugreifen galt. Traditionen seien kein Privileg konservativer Kräfte. "Noch weniger gehören sie in die alleinige Erbpacht von Reaktionären, obgleich diese am lautesten von ihnen reden." Überall in der deutschen Geschichte fand Heinemann Freiheitsbewegungen: die Bauernaufstände im 16. Jahrhundert, das Hambacher Fest 1832, die Revolutionen von 1848 und 1918. Sie sollten im historischen Bewusstsein der Deutschen stärker verankert werden, denn einer demokratischen Gesellschaft stehe es schlecht zu Gesicht, wenn sie in Revolutionären nichts anderes als meuternde Rotten sehen wollte, die von der Obrigkeit schnell gezähmt und in Schranken verwiesen würden. Der Bundespräsident spannte den Bogen zu seiner Gegenwart: Freiheitliche Traditionen, staatsbürgerliches Selbstbewusstsein, Bürgertugenden, soziale und emanzipatorische Bewegungen - daran habe es in der Ära Adenauer gemangelt. Eine freie Gesellschaft bedürfe, um sich weiter zu entwickeln, nicht nur freimütiger, sondern auch radikaler Kritik. Dass ein Bundespräsident nicht nur die Freiheitsbewegungen seit dem Mittelalter rühmte, vielmehr die Linie bis zu den 68ern fortführte und zusätzlich sogar von der Kehrseite dieser Linie her - Maßregelung, Zensur und Unterdrückung - die aktuelle Praxis des bundesdeutschen Radikalenerlasses von 1972 verurteilte , ging zahlreichen Kritikern aber viel zu weit. Dennoch: Seither hatte sich im "linken" Geschichtsbild die Deutung verfestigt, dass 1968 die demokratische Zivilgesellschaft in der Bundesrepublik begann.

1968 bedeutet in dieser Interpretation eine Nachgeschichte des Dritten Reiches, insofern in den fünfziger und frühen sechziger Jahren die Verstrickungen in den Nationalsozialismus großenteils verschwiegen worden waren und die deutsche Gesellschaft noch stark unter der Prägung des Nationalsozialismus und dessen Auswirkungen litt . Mit der Geschichte gegen die Geschichte: Es wird darauf verwiesen, dass die Bundesrepublik vor 1968 kein liberales Land gewesen sei. Auch das schillernde Wort von Ludwig Erhard aus dem Jahr 1965 von der "formierten Gesellschaft", das ein starkes Unbehagen an der Konkurrenzdemokratie ausdrückte , findet bei Bundeskanzler Gerhard Schröder Erwähnung. Die 68er hätten erstmals das Schweigekartell gebrochen und an die ungeheuerlichen Verbrechen erinnert, in die sich Repräsentanten der jungen Republik während des Dritten Reiches verstrickt hätten . Überzeugungskraft vermag eine solche Interpretation nur dann zu erlangen, wenn das Klima der fünfziger und frühen sechziger Jahre als steril beschrieben wird. Aber, so die rhetorische Frage des in dieser Hinsicht unverdächtigen Günter Gaus: "Wären wir ohne die 68er politisch-moralisch mehr oder weniger unerweckt durchs Leben gegangen, unfähig zu trauern, fraglos, klaglos, ohne Scham?"

Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus stürzte die "Linke" in eine Krise, gleichzeitig jedoch identifizierte sie sich seither stärker als je zuvor mit der "alten" Bundesrepublik, und es entstand ein retrospektiver bundesrepublikanischer Patriotismus, der auf die Errungenschaften der kulturellen Verwestlichung seit 1968 abhob. Über die Chiffre "Revolution von unten" tritt zu dieser Erinnerung an '68 die Erinnerung an 1989 hinzu und mündet in dem Versuch, '68 und '89 zusammenzubinden: Steht '68 für eine Demokratisierung von unten, für die innere Verwestlichung, mit welcher der untergründige Strom des Nationalsozialismus ausgetrocknet wurde, so '89 für die einzige erfolgreiche demokratische Revolution auf deutschem Boden, die nicht wie 1945 von außen aufgezwungen wurde . Das Problem bei beiden Bezugspunkten, 1945 und 1989, ist jedoch, dass jeweils die Verstrickten und Davongekommenen diese Zusammenbrüche in ihrer Erinnerung der beiden Regimes häufig als persönliches Versagen empfanden, während die 68er ihre Biographie als Geschichte einer erfolgreichen Integration interpretieren und sanktionieren. Aus der höheren Warte einer ausländischen Beobachterin schreibt die Neue Zürcher Zeitung zu den Unrechtstaten der 68er: "Mit der Begründung, es sei eben 30 Jahre her, wird ein Generalpardon ausgesprochen, den man den Spitzeln der Stasi selten gewährt. Ostdeutsche mussten sich einer rigorosen Überprüfung stellen, selbst wenn ihr Fehlverhalten lang zurücklag und sie sich seither gewandelt hatten."

Die monumentalistische Interpretation von '68 besitzt eine entscheidende Achillesferse: Dass ein fernöstlicher Gewaltherrscher wie Mao zu einer Lichtgestalt erkoren wurde, ist gewiss eine schwere Verwirrung. Was indessen all die erwähnten Interpretationen - wie auch die schwache von einer kulturellen, vor allem den Alltag prägenden, durch '68 ausgelösten Evolution - mit voller Wucht stört, ist der Terrorismus, der mörderische "Deutsche Herbst" von 1977. Nicht als Konsequenz, sondern als Inversion von 1968 erscheint deshalb der Terrorismus in der monumentalistischen Deutung.

IV. Der kritische Zugriff und die Zukunft der Erinnerung

Die euphorische Aufladung von '68, die dem monumentalistischen Zugriff eigen ist, führte zu mannigfachen Täuschungen. So war '68 weder die erste noch die größte Protestbewegung in der Bundesrepublik. An der Großdemonstration im Anschluss an den "Internationalen Vietnam-Kongress" vom 18. Februar 1968 beteiligten sich etwa 12 000 Demonstranten. Weit entfernt lag dies von der Protestbeteiligung der fünfziger Jahre; die Paulskirchen-Bewegung oder die Kampf-dem-Atomtod-Bewegung mobilisierten bis zu zwei Millionen Menschen . Auch gegenüber der Friedensbewegung der achtziger Jahre muss '68, quantitativ betrachtet, verblassen.

In der gesamten politischen Kontroverse kommen Differenzierungen zu kurz. Kann man, um nur ein simples Beispiel zu nennen, mit '68-Argumenten die Terror-Aktionen verteidigen, die Mitte der siebziger Jahre stattfanden ? Außerdem muss daran erinnert werden, dass die Gesellschaftskritik der Protestbewegung sich aus drei ganz unterschiedlichen Quellen speiste: aus dem Neomarxismus, der Sympathie und Loyalität im linken Milieu, in Teilen der Gewerkschaften und Teilen der Sozialdemokratie verbürgte; aus dem Antiautoritarismus und der antiinstitutionellen Autonomie, die Sympathie von Teilen des protestantischen Bildungsbürgertums einbrachte, und aus Formen des Existenzialismus, den kulturkritische Feuilletonisten so schätzten .

Gibt es strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen der Geschichtspolitik in der Ära Kohl und derjenigen der Regierung Schröder? Der neue Bundeskanzler interpretierte bereits in seiner ersten Regierungserklärung vom 10. November 1998 den Wechsel als einen Übergang von einer vergangenheitsfixierten Flakhelfergeneration zur zukunftsorientierten Generation der "Kinder der Bundesrepublik". Helmut Kohl hatte als Bundeskanzler in den achtziger Jahren versucht, die Bundesrepublik nach vierzig Jahren erfolgreicher Demokratie aus dem Schatten der NS-Vergangenheit herauszuführen - nicht, indem die negative Vergangenheit geleugnet, aber indem sie durch die bundesdeutsche Erfolgsgeschichte ausbalanciert wurde . Geschichte sollte vorrangig Bestätigung und Schatz der Nation sein, nicht nur Mahnung und Bürde. Auch die Debatte in den neunziger Jahren über das Holocaust-Mahnmal in Berlin und dessen politische Akzeptanz drückte nicht allein das altbundesrepublikanische "Nie wieder" aus, sondern war auch "das unübersehbare Leumundszeugnis für diejenigen, die durchaus etwas wiederhaben wollten: die deutsche Geschichte, soweit sie über die Jahre zwischen 1933 und 1945 hinausgeht" . Die rot-grüne Regierung ihrerseits zielt offensichtlich darauf ab, die Protestbewegungen der sechziger und siebziger Jahre stärker in die Geschichte der Bundesrepublik einzubauen, und zwar in doppelter Weise: einerseits als ein notwendiges Aufbegehren gegen autoritäre Strukturen des "Adenauer-Staates" und andererseits, mit Blick auf die Karrieren der 68er, als Ausweis einer neuen Integrationskraft der Bundesrepublik seit Willy Brandts Kanzlerschaft .

Im Hinblick auf das Dritte Reich kann man heute von einem Gezeitenwechsel der Erinnerung sprechen, weil nicht mehr das kommunikative und kollektive Gedächtnis, das auf den lebendigen Erinnerungen der Zeitzeugen fußte, bestimmend ist. Die Zeitgeschichte als die Epoche der Mitlebenden verschiebt sich mit der ihr eigenen Logik, und bezüglich des Nationalsozialismus stehen die Deutschen am Übertritt in das kulturelle Gedächtnis, in dem Erinnerungen tradiert werden müssen ohne einen unmittelbaren Erfahrungsbezug der jetzt lebenden Menschen zu dieser Vergangenheit. Beim Erinnerungsort '68 ist dies völlig anders, hier dominiert das kommunikative Gedächtnis der Zeitgenossen. Deshalb ist die heutige Kontroverse nur eine Etappe, und viele weitere Etappen werden folgen - spätestens immer dann, wenn die Forschung neue, umstrittene Ergebnisse liefert, was sie infolge des nun möglichen Zugangs zu den Quellen vermehrt tun wird. Aber erst wenn wir aus dem Schatten der 68er und ihrer damaligen Kritiker heraustreten, uns von deren je eigenen Fragestellungen lösen, von den Obsessionen und von der Nostalgie befreien, wird besser zu beurteilen sein, was 1968 im Kontext der deutschen Geschichte eigentlich gewesen ist. Denn - um mit Nietzsches Ausdruck für eine kritische Geschichtsschreibung zu enden - jede Vergangenheit ist es wert, "peinlich inquiriert" zu werden .

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Wolfgang Kraushaar, Der Zeitzeuge als Feind des Historikers. Ein Literaturbericht zur 68er-Bewegung, in: ders., 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000, S. 253-347.

  2. Vgl. Michael "Bommi" Baumann, Wie alles anfing, München 1975; Daniel Cohn-Bendit, Der große Basar, München 1975; Angela Davis, Mein Herz wollte Freiheit. Eine Autobiographie, München-Wien 1975; Gretchen Dutschke, Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben - Rudi Dutschke, Köln 1996; Dieter Kunzelmann, Leisten Sie keinen Widerstand! Bilder aus meinem Leben, Berlin 1998; Astrid Proll (Hrsg.), Hans und Grete - Die RAF 67-77, Göttingen 1998.

  3. Gunter Hofmann, Kulturkampf gegen die Kulturrevolutionäre, in: Die Zeit vom 1. 1. 1993.

  4. Vgl. Der deutsche Außenminister Fischer als Zeuge vor Gericht, in: Neue Zürcher Zeitung vom 17. 1. 2001.

  5. Vgl. Jürgen Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt/M. 1969.

  6. Vgl. Karl Heinz Bohrer, Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror, München 1970.

  7. Vgl. Richard Löwenthal, Der romantische Rückfall, Stuttgart 1970.

  8. Hans Günter Hockerts, ,1968' als weltweite Bewegung, in: Venanz Schubert (Hrsg.), 1968: 30 Jahre danach, St. Otilien 1999, S. 13-34, hier S. 14 f.

  9. Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998.

  10. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 2: Vom "Dritten Reich" bis zur Wiedervereinigung, München 2000, S. 252. Vgl. auch Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 475 ff., sowie die einzelnen Beiträge in: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000.

  11. Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; Dan Diner, Verkehrte Welten - Antiamerikanismus in Deutschland, Frankfurt/M. 1993.

  12. Claus Leggewie, Der Mythos des Neuanfangs - Gründungsetappen der Bundesrepublik Deutschland: 1949 - 1968 - 1989, in: Helmut Berding (Hrsg.), Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt/M. 1996, S. 275-302, hier S. 296.

  13. Vgl. Kurt Sontheimer, So war Deutschland nie. Anmerkungen zur politischen Kultur der Bundesrepublik, München 1999, S. 94 ff.

  14. Vgl. Ernst Schulin, Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken, Göttingen 1979; Otto Gerhard Oexle, "Wissenschaft" und "Leben". Historische Reflexionen über Tragweite und Grenzen der modernen Wissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 41 (1990), S. 145-161.

  15. Vgl. mit weiterführender Literatur: Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999; Aleida Assmann/Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit - Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999.

  16. Vgl. Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997.

  17. Vgl. Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Stuttgart 1957, S. 15 ff.

  18. Heinz Bude, 1968, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2, München 2001 (i. E.).

  19. Zit. in: Jürgen Leinemann, Am Ende des langen Marsches, in: Der Spiegel, Nr. 25/1997.

  20. E. Wolfrum (Anm. 15), S. 331 f.

  21. Worte der Woche, zit. in: Die Zeit vom 25. 1. 2001.

  22. Vgl. Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992.

  23. Ulrich K. Preuß, Geschichte auf krummen Wegen, in: Süddeutsche Zeitung vom 3./4. 2001.

  24. Vgl. Fischer im Fegefeuer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. 1. 2001.

  25. So der SPD-Parlamentarier Gert Weisskirchen, '68 war kein Mythos. Kontinuität und Aufbruch in der deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft, März 2001, S. 10.

  26. Vgl. Karl-Rudolf Korte, Der Standort der Deutschen. Akzentverlagerungen der deutschen Frage in der Bundesrepublik Deutschland seit den siebziger Jahren, Köln 1990.

  27. Vgl. Clemens Graf Podewils (Hrsg.), Tendenzwende. Zur geistigen Situation der Bundesrepublik (Vorträge bei der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, November 1974), Stuttgart 1975.

  28. Vgl. Otto Kallscheuer/Michael Sontheimer (Hrsg.), Einschüsse. Besichtigungen eines Frontverlaufs. Zehn Jahre nach dem Deutschen Herbst, Berlin 1987, S. 24 ff. Zu den Denktraditionen der Springer-Presse: Gudrun Kruip, Das "Welt"-"Bild" des Axel Springer Verlags. Journalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen, München 1999.

  29. Springer will Rot-Grün stürzen, in: Die Zeit vom 1. 2. 2001.

  30. Lafontaine: Erst flogen Steine, dann Bomben, zit. in: Die Welt vom 22. 1. 2001.

  31. Ernst Cramer, 1968 war kein Ringen unter Gleichen, in: Die Welt vom 22. 1. 2001.

  32. Vgl. ebd.

  33. Kurt Plück, Lebenslügen der SPD, in: Die Politische Meinung, 272 (1992), S. 28-36.

  34. Hier bedeutet das Konzept eines "Wandels durch Annäherung" eine subversive Tat gegen die kommunistische Diktatur in der DDR. Die neue sozialliberale Regierung habe seit 1969 zuerst Adenauers, Erhards und auch Kiesingers Untätigkeit in der deutschen Frage beendet und die Bundesrepublik beherzt aus der Sackgasse christdemokratischer Deutschlandpolitik herausgeführt, um anschließend der DDR mit der "Neuen Ostpolitik" einen "goldenen Angelhaken" auszulegen, der sie in den ruinösen Wandel trieb und an dem sie schließlich zu Grunde gehen musste. Vgl. Peter Bender, Der goldene Angelhaken. Entspannungspolitik und Systemwandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 14/94, S. 11-15.

  35. F. Nietzsche (Anm. 17), S. 15.

  36. Vgl. Cord Schnibben, Vollstrecker des Weltgeistes, in: Der Spiegel, Nr. 23/1997.

  37. Vgl. Klaus Hartung, Runter mit dem Zeigefinger, in: Die Zeit vom 25. 1. 2001.

  38. Vgl. E. Wolfrum (Anm. 15), S. 272 ff.

  39. Willy Brandt, Erinnerungen, Berlin-Frankfurt/M. 1994, S. 186.

  40. Vgl. dazu Wolfgang Jäger, Die Innenpolitik der sozial-liberalen Koalition, in: Karl Dietrich Bracher/Wolfgang Jäger/Werner Link, Republik im Wandel 1969-1974, Stuttgart 1986, S. 204.

  41. Vgl. mit Nachweisen: E. Wolfrum (Anm. 15), S. 282.

  42. Rede bei der Schaffermahlzeit im Bremer Rathaus, 13.2.1970, abgedruckt in: Christoph Stölzl (Hrsg.), Deutsches Historisches Museum. Ideen-Kontroversen-Perspektiven, Frankfurt/M.-Berlin 1988, S. 28 ff.

  43. Vgl. Gustav W. Heinemann, Freimütige Kritik und demokratischer Rechtsstaat, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 20-21/76, S. 3-7; zur "Heinemann-Bewegung": Edgar Wolfrum, Die Revolution von 1848/49 im geschichtspolitischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungslinien von 1948/49 bis zur deutschen Einheit, in: Wolther von Keiseritzky/Klaus-Peter Sick (Hrsg.), Demokratie in Deutschland. Chancen und Gefährdungen im 19. und 20. Jahrhundert. Historische Essays, München 2000, S. 299-316. Zu Heinemanns Geschichtsverständnis vgl. auch: Matthias Rensing, Geschichte und Politik in den Reden der deutschen Bundespräsidenten 1949-1984, Münster-New York 1996, S. 106 ff. Zu den von mir genannten Folgen der "Heinemann-Bewegung" mit Blick auf eine Interpretation von 1968: Oskar Negt, Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Macht, Göttingen 1995, S. 29 ff.

  44. Vgl. dazu die Kontroverse in "Die Zeit" zwischen Norbert Frei und Kurt Sontheimer: Norbert Frei, Ertrotzte Aufklärung, in: Die Zeit vom 1. 2. 2001; Kurt Sontheimer, Gegen den Mythos der 68er, in: Die Zeit vom 8. 2. 2001.

  45. Vgl. dazu Volker Hentschel, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München-Landsberg am Lech 1996, S. 561 ff.

  46. Vgl. die Äußerungen von Bundeskanzler Gerhard Schröder und Rezzo Schlauch, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, in: Süddeutsche Zeitung vom 18. 1. 2001, (CDU wirft Fischer Verharmlosung vor); vgl. auch Die Rache der Enterbten, in: die tageszeitung vom 18. 1. 2001.

  47. Günter Gaus, Wer den Mund zu voll nimmt, in: Süddeutsche Zeitung vom 9. 3. 2001.

  48. Vgl. K. Hartung (Anm. 37).

  49. Anm. 4.

  50. Vgl. Wolfang Kraushaar, Die Protestchronik 1949-1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegungen, Widerstand und Utopie, 4 Bde., Hamburg 1996.

  51. Vgl. das Gespräch mit Ralf Dahrendorf, Argumente von '68 können Militanz nicht verteidigen, in: Die Welt vom 18. 1. 2001.

  52. Vgl. M. Rainer Lepsius, Die Prägung der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland durch institutionelle Ordnungen, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 63-84, hier S. 82 f.

  53. Vgl. Charles S. Maier, Die Gegenwart der Vergangenheit. Geschichte und nationale Identität der Deutschen, Frankfurt/M.-New York 1992.

  54. Wolfgang Schuller, Reise zum Mittelpunkt der Diskurse, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. 1. 2000.

  55. Vgl. Heribert Prantl, Zum Beispiel Joschka Fischer, in: Süddeutsche Zeitung vom 15. 1. 2001; Hans-Jochen Vogel, Kann Fischer Minister bleiben? Ich sage Ja, in: Süddeutsche Zeitung vom 13./14. 1. 2001.

  56. F. Nietzsche (Anm. 17), S. 17.

Dr. phil, geb. 1960; 1990 Promotion an der Universität Freiburg i. Br.; 1991-1994 Stipendiat der Volkswagen-Stiftung, Hannover; 1994-2000 Hochschulassistent an der FU Berlin; Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte und derzeit DFG-Stipendiat an der TU Darmstadt.

Anschrift: Loristr. 9, 80335 München.
E-Mail: Edgar.Wolfrum@t-online.de

Veröffentlichungen u. a.: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999; Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung, Göttingen 2001.