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Die neue Republik auf dem Weg ins 21. Jahrhundert | Zukunftsentwürfe junger Autoren | bpb.de

Zukunftsentwürfe junger Autoren Editorial Die neue Republik auf dem Weg ins 21. Jahrhundert Bürgergesellschaft als politische Zielperspektive Bildung in der Informationsgesellschaft Zur Zukunft des "Rheinischen Kapitalismus" Die "Berliner Republik" als Kampfbegriff?

Die neue Republik auf dem Weg ins 21. Jahrhundert

Daniel Dettling

/ 6 Minuten zu lesen

Die Reformen der letzten Jahre haben es gezeigt: Deutschland bewegt sich doch! Welche Aufgaben und Herausforderungen kommen nun auf die Neue Republik zu?.

Einleitung

Deutschland ruckt. Die Reformen des letzten Jahres (Steuer, Haushalt, Rente) haben das angedeutet, was die Spenden- und Kontenaffäre der CDU im selben Jahr endgültig besiegelte: das Ende der Bonner Republik. "Bonn" stand für Westbindung, einen allzuständigen Sozialstaat und einen nivellierenden Föderalismus. Ein politisches System, das wenig Unterschiede zuließ und Parteien hervorbrachte, die immer weniger einen Unterschied ausmachen und deshalb für immer mehr Bürger an Legitimität verlieren.

Es war der ehemalige Bundespräsident Herzog, der Land und Leute mit seinen "Ruck"-Reden in den neunziger Jahren aus dem Schlaf der Gemütlichkeit herausreißen wollte. Doch mit Aufbruch- und Gürtel-enger-schnallen-Parolen haben die Deutschen in Ost und West im 20. Jahrhundert ihre Erfahrungen gemacht. Der eigentliche Unterschied zu den Umbruchzeiten vergangener Epochen: Die Bonner Republik ist erfolgreich gescheitert. Man verändert sich nicht gern an der Spitze. Ruckt Deutschland seit den epochalen Umbrüchen und außenpolitischen Veränderungen 1989? Und welche Auswirkungen hat die neue Welt der Wirtschaft, in der alle Grenzen verschwimmen, auf Politik und Parteien?

In den vergangenen zehn Jahren hat sich vieles geändert. Begriffe wie Globalisierung, Digitalisierung und Individualisierung kennt inzwischen jedes Schulkind. Nachhaltige Trends wie die demographische Entwicklung, der Wandel der Arbeitsgesellschaft mit ihren alten sozialen Institutionen haben das öffentliche Bewusstsein erreicht. Die Republik beginnt, sich an ihren Wurzeln zu verändern. Wie viel Tempo erträgt die Politik? Beschleunigung ist die prägende Erfahrung des vernetzten Menschen in der Wissensgesellschaft. Was gestern noch galt, ist heute bereits überholt. Während sich die schnellere, weil ungebundene Wirtschaft mit dieser Beschleunigung oft nur schwer tut, gerät die demokratische Politik im Zeitalter des Digitalen Kapitalismus (Peter Glotz) außer Atem. Bleiben Politik und Demokratie im 21. Jahrhundert auf der Strecke?

Die Demokratie und ihre politischen Institutionen werden heute vor allem durch zwei Trends bedroht. Zum einen stellt die Globalisierung als Supranationalisierung den Nationalstaat und da-mit die Zurechenbarkeit politischer Entscheidungen in Frage. Zum anderen bedeutet die zunehmende Diffusion der Macht eine Gefahr für das traditionelle Gleichgewicht der Gewalten.

Wächst, wo die Gefahr droht, auch das Rettende? Vor allem die Parteien werden ihre Versammlungsrituale und Methoden der Personalrekrutierung überprüfen und verändern müssen, wollen sie an die Wirtschaft verlorene Eliten wieder zum Teil zurückgewinnen. Das traditionelle Karriere-modell der politischen Ochsentour, das lebenslange "Durchdienen" in einer Partei, hat für die meisten der nachrückenden Generation viel an Reiz verloren. Die Parteien nutzen das Internet noch viel zu wenig als direktdemokratisches "Fangnetz" für den Chat-gewohnten Nachwuchs, der sich auch in der Politik zeitlich und thematisch limitiert engagieren und einbringen will.

Klassische (Partei-)Politik lässt die Jugendlichen kalt. Zeigten 1991 noch 57 Prozent der Jugendlichen Interesse an der Politik, so sind es nach der jüngsten Shell-Jugendstudie 2000 gerade 43 Prozent. Zwei Drittel trauen den Parteien (und den Unternehmen) in Deutschland in den großen Fragen - Arbeitslosigkeit, Umwelt, Solidarität - keine oder wenig Lösungskompetenz zu. Das politische Kapital des Parteienstaates scheint für die Jugend verbraucht. Wenn den Parteien die Jugend nicht passt, suchen sie sich eine neue. Oft ist dies die in den Medien (herbeigeschriebene?) "Fun-Generation". Jugendliche verabscheuen folgenlos bleibende Kritik und verlangen Arbeit an konkreten Alternativen: Authentizität statt Autismus, Politik als Projekt statt Profit, Machen statt Machtkampf!

"Demokratie braucht Partei", heißt es bei der SPD fast trotzig. Aber braucht Partei Demokratie, und wenn ja: welche? Ist eine liberale, wettbewerbsfähige und sozial faire Demokratie in Zukunft auch jenseits von Wahlen und Abstimmungen denkbar, eine Demokratie, die den Einzelnen aktiv mit einbezieht und fordert?

Ein mögliches Leitbild, wenn man den langsamen Niedergang der Parteien als integrierende - weniger als institutionelle - Kräfte verhindern will, zeigt die aktive Bürger- und Beteiligungsdemokratie auf. Die Öffnung der Parteien im Verbund mit einer aktiven Bürgergesellschaft wird als Repolitisierung von Staat und Bürgern nicht kosten- und voraussetzungslos zu haben sein. Demokratisierung, Dezentralisierung und ein starker Föderalismus rechnen sich. Studien der OECD und der Weltbank belegen: Wirtschaftsleistung und staatliche Leistungen sind dort am höchsten, wo Bürgerrechte umfassend sind und durch Institutionen des Rechts und der Politik garantiert werden.

Eine Repolitisierung von Staat und Gesellschaft muss nicht zwangsläufig zu einer Entwertung der repräsentativen Demokratie führen oder gar zu einer "Politik der Straße". Untersuchungen des amerikanischen "Initiative and Referendum Institute" zeigen, dass Ausgabenbegrenzungen, die per Bürgerinitiative durchgesetzt wurden, strikter befolgt werden als von Parlamenten beschlossene. Die Bürger werden mit komplexen Themen weniger überfordert sein, als oft behauptet wird.

1989 markiert den Sieg der offenen Gesellschaft. Protektionismus und Populismus sind die größten Feinde offener Gesellschaften. Ein rechter Konservativismus ("Kinder statt Inder") und linke Globalisierungsgegner ("Terror der Ökonomie") könnten im 21. Jahrhundert unheilvolle Allianzen eingehen. Umgekehrt kann das wachsende Desinteresse vieler Unternehmer an Politik und Gesellschaft zu Legitimationskrisen der Marktwirtschaft führen. Der Vorstandsvorsitzende von DaimlerChrysler, Jürgen E. Schrempp, hat die Wirtschaft vor dem Agieren in einem politikfreien Raum gewarnt. Globale Unternehmen sind auf politische Akzeptanz angewiesen. "Political Engineering" wird ebenso wichtig wie die klassische Unternehmenskommunikation oder das Marketing des 20. Jahrhunderts. Die große Frage lautet auch im 21. Jahrhundert: Wie lassen sich nachhaltiger Wohlstand, sozialer Zusammenhalt und freiheitliche Institutionen in einer für alle Beteiligten produktiven Weise verbinden? Und welche Rolle kommt dabei den Parteien als Mitwirkungsorganen der politischen Willensbildung zu?

Sich der Zeit und den neuen Gegebenheiten anzupassen heißt, der Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen und der Familie mehr Raum zu geben. Big Citizenship statt Big Government? Soziale Sicherheit und Gerechtigkeit sind künftig nicht mehr nur Staatsaufgaben. Corporate Citizenship meint mehr: Menschen wollen mit anderen etwas bewegen, und Unternehmer wissen, dass Kunden zunehmend nicht nur Produkte, sondern auch Werte kaufen. Beide begreifen sich deshalb als Corporate Citizens, als aktive Bürgergesellschaft.

Radikale und schnelle Veränderungen in den Technologien, der Gesellschaft und Kultur verlangen eine neue Kreativität öffentlicher Politik. Die traditionelle Philanthropie, einschließlich des Wohlfahrtsstaates, neigte dazu, Gelder für die Lösung von Problemen bereitzustellen, ohne den kurzfristigen, messbaren Ergebnissen Beachtung zu schenken. Die neuen sozialen Unternehmer wollen jedoch Probleme lösen und nicht institutionalisieren. Zur Hauptaufgabe wird es daher, Modelle für innovative soziale Unternehmer zu finden. Es gibt genügend Menschen, die wissen, wie man innovativ und kreativ handelt.

Auf die neuen Milieus und Netzwerke hat die Politik organisatorisch wie kommunikativ bislang kaum reagiert. Flexible und offene Formen der Organisation und Kommunikation wie Beteiligungsangebote für differenzierte Rollen (Mitglieder, Unterstützer und Interessenten) oder Innovationsnetzwerke zwischen Unternehmen und Bürgern fehlen gänzlich. Eine Netzwerkpartei als neue politische Plattform wäre die virtuelle wie reale Chance, Mitglieder, Hauptamtliche und Freiwillige mit zum Teil völlig unterschiedlichen Lebenseinstellungen in einem politischen Projekt zusammenzubringen. Das kostet Geld, Mut zur Transparenz und den Willen zu weniger Kommunikation von oben nach unten.

Bislang hat keine der beiden Volksparteien die Chance des Internets als Instrument zur Politisierung der Net Society in seiner ganzen Tragweite erkannt. Die künftige Rolle der Parteien in der vernetzten Zivilgesellschaft ist noch ungewiss. Von einer wirklichen Öffnung sind die Parteien noch weit entfernt. Virtuell wie real.

Die individualistisch geprägten Marktwirtschaften benötigen eine Gesellschaft, die die langfristigen Investitionen tätigt, welche sie selbst nicht erbringen können. Eine veränderte Gesellschaft, eine wieder zum Leben erweckte Gemeinschaft und zivilisierte Systeme und Städte. Unsere Gesellschaft wird daher ein interessantes Experiment durchführen. Wird es möglich sein, eine Wirtschaftsordnung ohne Gemeinschaftskonzept zu erhalten? Ist es möglich, eine Gesellschaft zu haben, in der wirtschaftliche Belange nicht angesprochen werden? Ist eine vitale Wirtschaft denkbar ohne eine vitale Gesellschaft? Die entscheidende Frage ist einfach: Wer repräsentiert in der Gegenwart die Interessen der Zukunft?

geb. 1971; Studium der Rechtswissenschaft, Politik- und Verwaltungswissenschaft; zur Zeit Rechtsreferendar in Berlin und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europäisches Verfassungs- und Sozialrecht an der Universität Potsdam; Vorsitzender des virtuellen think tanks BerlinPolis (www.berlinpolis.de).

Anschrift: Lennéstr. 12 a, 14471 Potsdam.
E-Mail: dettling@berlinpolis.de

Veröffentlichung u. a.: (Hrsg.) "Deutschland ruckt!" Die junge Republik zwischen Brüssel, Berlin und Budapest, Frankfurt/M. 2000.