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Polen und Europa: Neue EU-Skepsis

Piotr Buras

/ 16 Minuten zu lesen

Polen ist europapolitisch zu einem integrationsskeptischen Land geworden. Die Interessengegensätze mit der Europäischen Union – unter anderem in der Verteidigungs- und in der Asylpolitik – stellen das Land vor Dilemmata. Ein "Polexit" steht jedoch nicht bevor.

Kurz vor Weihnachten 2017 leitete die EU-Kommission das im Artikel 7 des EU-Vertrags vorgesehene Verfahren gegen Polen ein. Der Antrag der Unionsbehörde an den Europäischen Rat, das schwerwiegende Risiko der Verletzung von fundamentalen Werten der Union in Polen festzustellen, markierte den vorläufigen Höhepunkt in der fast zwei Jahre dauernden Auseinandersetzung um die Rechtsstaatlichkeit in Polen, die durch verfassungswidrige Handlungen der im Oktober 2015 gewählten nationalpopulistischen Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) provoziert wurden. Diese richteten sich gegen die Unabhängigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit, der öffentlichen Medien und der Justiz und verletzten damit die Prinzipien der Gewaltenteilung, die sowohl in der polnischen Verfassung verankert sind als auch das Fundament des EU-Rechtssystems bilden. Bereits im Januar 2016 eröffnete die Kommission den sogenannten Rechtsstaatlichkeitsdialog mit Warschau und versuchte in den darauffolgenden Monaten, die PiS-Regierung zum Einlenken zu bewegen. Nachdem diese Bemühungen keinen Erfolg zeitigten, entschied sich die Kommission für den ersten – und in der Geschichte der EU präzedenzlosen – Schritt hin zum als "Nuklearoption" apostrophierten Artikel 7, der im Endeffekt den Stimmrechtsentzug für das betreffende Land nach sich ziehen kann.

Das Aufrufen des Artikels 7 ist zweifellos symbolträchtig und einschneidend. In der verfassungspolitischen Dimension des Konflikts, so entscheidend die Abkehr von liberal-demokratischen Prinzipien für Polen auch sein mag, erschöpft sich die neue Weichenstellung der polnischen Europapolitik und des Europadiskurses in Polen allerdings nicht. Der antiliberale Schwenk unter der PiS, der auf relativ wenig Widerstand in der Gesellschaft stieß, ist im weitesten Sinne als Reaktion auf die postkommunistische Systemtransformation zu deuten und damit von einem Wandel der Einstellung zu Europa nicht zu trennen. Die "Europäisierung" war nämlich das Motto und das Versprechen des polnischen Weges nach 1989 – die Nachahmung des westlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells sowie die Angleichung der Lebensverhältnisse waren die Kernelemente dieser Strategie. Nach über 25 Jahren scheint sie nicht mehr die gleiche Mobilisierungskraft zu entfalten. Und ein Backlash gegen das Modell der polnischen Republik nach 1989 zieht notwendigerweise auch das "Vorbild Europa" in Mitleidenschaft. Die nach wie vor hohe Unterstützung für die EU-Mitgliedschaft in der Gesellschaft kann über diese Tatsache nicht hinwegtäuschen. Europa und Europäisierung fungieren nicht mehr als selbstverständliche und eindeutig positive Bezugspunkte im politischen Diskurs, sondern sie rücken vielmehr ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung. Ein "Polexit" steht nicht wirklich zur Debatte, aber das Modell und die Funktionsweise der Europäischen Union sowie die Vorteile der europäischen Integration für Polen werden offen hinterfragt und immer kontroverser diskutiert.

Die Gründe für diesen Wandel, seine politischen Folgen und die daraus entstehenden Perspektiven sind Gegenstand dieses Artikels. Ich argumentiere, dass der Einschnitt in der polnischen Europapolitik, der zu einer größeren Integrationsskepsis und womöglich auch schärferen Interessenkonflikten mit EU-Partnern führt, von Dauer sein wird. Zum einen hat dies mit dem Charakter des neuen Kapitels der polnischen Transformation zu tun, in dem die Europäisierung nicht mehr unumstritten als anzustrebendes Ziel gilt. Zum anderen ist das wachsende Konfrontationspotenzial zwischen Polen und EU-Partnern auf die derzeitige Richtung der EU-Integration zurückzuführen. Anders als in der Vergangenheit, als Polen mit der Integrationsdynamik generell zufrieden war und eindeutig von ihr profitierte, werden die heutigen Entwicklungen in Polen zunehmend kritisch beäugt.

Die meisten der derzeit diskutierten Integrationsprojekte und Änderungen in der Funktionsweise der EU gelten als problematisch für die polnischen Interessen. Das gilt übrigens nicht nur für die Regierungspartei PiS. Ob die weitere Vertiefung der Währungsunion, die Veränderungen auf dem Gemeinsamen EU-Markt, die Fortschritte in der Verteidigungskooperation oder die Weiterentwicklung der EU-Asylpolitik – in all diesen Bereichen, die eine zentrale Bedeutung für die künftige Gestalt der EU haben, scheint Polen grundsätzliche Vorbehalte zu haben. Die Wahrnehmung der EU als Quelle von Risiken – statt, wie bisher, als Quelle von Möglichkeiten –, die im Diskurs der PiS verbreitet ist, wird zusätzliche Munition bekommen und zur Vertiefung der EU-kritischen Positionen in Politik und Gesellschaft beitragen.

Auf dem Weg zur Enteuropäisierung?

Für die Beziehungskrise zwischen der PiS-Regierung und der EU gibt es zahlreiche Gründe: das Primat der Innenpolitik, dem die europa- beziehungsweise außenpolitischen Ziele untergeordnet werden, die bewusste Instrumentalisierung der EU-Kritik und der Migrationskrise für die Zwecke der Mobilisierung der rechtskonservativen Wählerinnen und Wähler sowie die ideologische Distanz zur supranationalen Kooperation. Letztere gewinnt erst dadurch an Bedeutung, dass sich der Kontext der polnischen EU-Mitgliedschaft seit dem Beitritt 2004 grundlegend verändert hat.

Polen trat der EU als ein Transformationsland bei, das sich von der Teilnahme am Integrationsprozess Sicherheit, Stabilität, Wohlstand und finanzielle Unterstützung erhoffte. Die Rückständigkeit des postkommunistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells ließ den Westen und die EU als die einzige Chance auf eine Modernisierung erscheinen. Europa definierte den Horizont der polnischen Ambitionen nicht nur im Bereich der Außenpolitik, sondern auch hinsichtlich der "zivilisatorischen" Entwicklung. Das schwache Polen wurde ein Teil des starken Westens: Dieses Bild prägte sich in den Köpfen der Eliten und der Bürger ein.

In den vergangenen Jahren kam es in Teilen der Gesellschaft zu einem Perspektivwandel: Der Eindruck der Stärke der EU hat unter ihren multiplen Krisen massiv gelitten. Auch sind Zweifel entstanden, was die Überlegenheit Westeuropas als Wertegemeinschaft angeht. Die angeblichen oder tatsächlichen Makel des Westens – Multikulturalismus, Säkularismus, Wertevergessenheit, Raubtierkapitalismus und vieles mehr – die seine Zukunft vermeintlich gefährden, stachen desto mehr in die Augen, je selbstbewusster, krisenresistenter und erfolgreicher das ehemals rückständige Polen wurde. Das schwache Europa mit seinen Migranten, dem kollabierenden Sozialstaat und leeren Kirchen, dem ein stolzes Polen gegenüber steht: Dieses Bild mag überzeichnet und selbstgefällig sein. Es reflektiert aber das gewachsene Selbstbewusstsein der polnischen Elite und eine Kritik am Westen, die vor ein paar Jahren noch unvorstellbar war. Dieses Bild wird mit den Mitteln der staatlichen Propaganda gezielt verbreitet und instrumentalisiert. Aber auch sonst funktioniert die Gleichung "Europa = Wohlstand und Sicherheit" nicht mehr. Das Europäisierungsmantra gehört damit auf den Prüfstand.

Diese Entwicklung wird auch dadurch begünstigt, dass das Paradigma der Europäisierung und Verwestlichung lange Jahre als unbestritten galt und jenseits aller Kritik war. In der Öffentlichkeit wurden die Vorzüge der Integration als dermaßen offenkundig gesehen, dass eine Diskussion über eventuelle Schattenseiten, schwierige Trade-offs oder Ambivalenzen der Stellung Polens in Europa entbehrlich schien. Dies hatte zur Folge, dass die hohe Unterstützung für die EU-Mitgliedschaft auf einer generellen Zustimmung zum Integrationsprozess basierte, nicht aber auf einer offenen Auseinandersetzung um die Richtung der Integration und nüchternen Abwägung der polnischen Interessen. Seitdem der Mythos Europa zu verblassen begann, fungierte diese positive Einstellung zur EU immer weniger als Wegweiser für die polnische Politik.

Die Entzauberung Europas hängt auch mit der Krise des Liberalismus zusammen. Die liberale oder neoliberale Ära neigt sich ihrem Ende zu, auch in Polen. Sie war nicht nur durch eine stramm marktwirtschaftliche Ideologie geprägt, sondern sie trug auch starke kulturelle Züge: Die Fragen nach Identität und Verankerung wurden der Apotheose der "flachen Welt" hintangestellt, und der Glaube an einen alternativlos gewordenen Fortschritt zu mehr Wohlstand, Offenheit und Vernetzung beförderte die Vorstellung von der EU als Trägerin und Versprechen einer besseren Zukunft. "Die heutige massenhafte Rückwendung der Polen zu Geschichte, Patriotismus, zum Denken in nationalen Kategorien, ist eine Art verspätete Reaktion auf die Modernisierungstrends der 1990er Jahre", schrieb kürzlich ein konservativer Publizist der Tageszeitung "Rzeczpospolita". Wenn die Gewissheiten der liberalen Ära nicht mehr unbestritten sind, bröckelt auch das Fundament der bisherigen Europapolitik. Ob damit der Weg der relativen Enteuropäisierung eingeschlagen wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie die polnischen Eliten und die Gesellschaft die Perspektiven der Integration in ihren wichtigsten Bereichen einschätzen.

Euro: Angst vor Marginalisierung

Die Liste der polnischen EU-Sorgen wirft auch die Frage nach der Zukunft der Eurozone auf. Polen ist nicht bereit, in absehbarer Zukunft die Gemeinschaftswährung einzuführen, obwohl es heute schon die meisten Beitrittskriterien erfüllt. Ein solcher Schritt würde allerdings eine Verfassungsänderung erfordern, für die eine Zweidrittelmehrheit im Parlament notwendig ist. Darüber hinaus lehnen die Polen den Euro mehrheitlich ab. Diese skeptische Haltung, deren wirtschaftswissenschaftliche Fundierung auch in Polen umstritten ist, hat aber einen Preis:

Erstens wird der "Brexit" weitreichende Folgen für die Nicht-Euro-Länder haben und zu einer gravierenden Machtverschiebung zugunsten der Eurozone führen. Ohne das Vereinigte Königreich stehen die Nicht-Euro-Länder für nur 15 Prozent des Wirtschaftspotenzials der EU, und ihre Einflussmöglichkeiten drohen nach dem Austritt der Briten entsprechend zu schrumpfen. Werden sich die Regeln des Binnenmarktes oder die Bestimmungen zur Sozialpolitik nicht zunehmend nach Interessen der Eurozone richten? Wird diese ihre Überlegenheit nicht dazu nutzen, die EU-Finanzmittel stärker nach ihrem eigenen Bedarf zu kanalisieren? Das Fehlen der starken Stimme der Briten, die sich in der Vergangenheit solchen Bestrebungen erfolgreich widersetzen konnten, kann für Polen und die wenigen anderen Nationalwährungshüter bittere Folgen haben.

Zweitens ist die Debatte über eine Reform der Eurozone voll im Gange, und sie birgt auch aus der Perspektive der Nicht-Euro-Länder Risiken. Es ist noch nicht abzusehen, wie der angekündigte deutsch-französische Reformvorschlag, der bis Juni 2018 vorliegen soll, aussehen wird, aber die meisten aktuell diskutierten Ideen laufen auf eine institutionelle Stärkung der Eurozone hinaus. Ob ein separater Haushalt für die Eurozone, ein Euro-Finanzminister oder eine Stärkung der Eurogruppe – die EU der zwei Geschwindigkeiten droht auf diese Weise Realität zu werden. Zwar ist auch Warschau daran interessiert, dass die Eurozone auf Dauer stabilisiert wird – paradoxerweise werden dabei die französischen Reformideen, die auf eine solidarische Transferunion und engere politische Zusammenarbeit zielen, selbst von PiS-nahen Experten für effizienter gehalten als der von Fiskaldisziplin geprägte deutsche Ansatz –, politisch aber steht Polen vor einem Dilemma: In einer EU, in der eine stärker integrierte Eurozone immer bestimmender würde, liefe es für Polen auf geringere Einflussmöglichkeiten hinaus.

EU-Markt: Gespenst des Protektionismus

Die politische Schwächung beziehungsweise Marginalisierung Polens, die bei einer Konsolidierung der Eurozone zu erwarten ist, kann die Interessen des Landes dort am stärksten treffen, wo der Nutzen der Integration am größten ist: auf dem gemeinsamen EU-Markt. Selbst wenn sich die PiS-Regierung nicht integrationsfreudig gibt, verteidigt sie mit Nachdruck die vier EU-Freiheiten (freier Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr), die für sie – im Gegensatz zur politischen Integration – den Kern des EU-Projektes ausmachen. Gleichzeitig sehen die Regierung sowie ein großer Teil der politischen Eliten ausgerechnet diese Freiheiten durch den Aufstieg des westeuropäischen Protektionismus immer mehr bedroht.

Einen Anlass für diese Befürchtung bot nicht zuletzt die jüngste Diskussion über die Reform der EU-Entsenderichtlinie. Sie führte zur Veränderung der EU-Regelungen, die unter anderem den Zugang polnischer Arbeitnehmer zu den Arbeitsmärkten in den westlichen EU-Mitgliedsstaaten einschränken. Während in Westeuropa die neuen Vorschriften als Maßnahmen gegen Sozialdumping dargestellt werden, gelten sie für die Mehrheit der Polen als Versuche, die westeuropäischen Märkte gegen Wettbewerb aus Mittel- und Osteuropa abzuschirmen. Es wird dabei oft argumentiert, die Öffnung der EU-Arbeitsmärkte für Niedriglohnarbeiter aus dem Osten sei eine Konzession für den uneingeschränkten Zugang für die westlichen Firmen zu den neuen Absatzmärkten nach der EU-Osterweiterung gewesen, die heute von Westeuropa gekündigt werde.

Die Reform der Entsenderichtlinie ist nur ein Beispiel für eine Tendenz, die in Polen als "protektionistische Wende" kritisiert wird. Diese richte sich vor allem gegen die Interessen der mittel- und osteuropäischen Länder, die ihr ökonomisches Modell von unterschiedlichen Initiativen bedroht sehen. Auch bereits eingeführte oder diskutierte Maßnahmen zur sozialen Dimension der EU (soziale Mindeststandards, europaweiter Mindestlohn), zum Schutz der strategischen Investitionen (der zum Beispiel die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China erschweren kann) oder zur Steuerharmonisierung werden in diesem Kontext bewertet.

Die kritische Wahrnehmung der wirtschaftspolitischen Integration wird dadurch verschärft, dass für die These einer Benachteiligung der mittel- und osteuropäischen Länder beziehungsweise Firmen auf dem EU-Markt immer neue Argumente herangeführt werden. Laut einem Bericht des Thinktanks Polityka Insight gehen die Wettbewerbshüter der Europäischen Kommission mit Firmen aus den "neuen" EU-Ländern härter ins Gericht als mit westeuropäischen Unternehmen.

Auch die Rolle des ausländischen Kapitals, das die große Öffnung der mittel- und osteuropäischen Märkte noch vor der EU-Osterweiterung für eine Expansion nutzte, wird immer kritischer beurteilt. Dem Ökonomen Thomas Piketty zufolge betrug der jährliche Nettotransfer aus dem EU-Haushalt nach Polen in den Jahren 2010 bis 2016 2,7 Prozent des polnischen Bruttosozialprodukts, während die jährlichen Gewinne ausländischer Firmen in Polen im gleichen Zeitraum 4,7 Prozent des polnischen Bruttosozialprodukts entsprachen. Es lässt sich trefflich argumentieren, dass das investierte Kapital zur Entwicklung der polnischen Wirtschaft beitrug und Arbeitsplätze schuf. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass solche Zahlen oder auch Analysen der "Steueroptimierung" durch ausländische Firmen einen Schatten auf die bisher kaum infrage gestellte positive Kosten-Nutzen-Bilanz der EU-Mitgliedschaft werfen.

Dass sich die Europäische Union weg von der (Markt-)Liberalisierung und hin zu mehr Protektionismus bewegt, stärkt in Polen die Wahrnehmung, dass der ökonomische Nutzen der Integration nachlassen und die Vertretung der polnischen Interessen in der Zukunft schwieriger sein wird. Dies geht mit der beginnenden Diskussion um den neuen EU-Finanzrahmen einher, die ebenfalls keinen Anlass für Optimismus bietet: Die bisher üppigen Finanztransfers für Polen werden, so die Erwartung, gekürzt – der Brexit, neue Ausgabenprioritäten und möglicherweise eine Konditionalität nach Maßstäben der Rechtsstaatlichkeit lassen dieses Szenario als sehr wahrscheinlich erscheinen. Es gibt aus polnischer Sicht also einen weiteren Grund, die wirtschaftliche Integrationsdynamik in der EU ohne große Euphorie zu betrachten.

Asylpolitik: Geisel der Innenpolitik

Asyl- und Migrationspolitik werden, so darf man annehmen, die Zukunft der EU in den kommenden Jahren wie möglicherweise kein anderes Thema bestimmen. Die Frage, wie die europäische Solidarität bei der Aufnahme von Geflüchteten, beim Schutz der Außengrenzen sowie bei der Gestaltung der Beziehungen mit den Herkunftsländern gewährleistet werden kann, wird die Beziehungen unter den EU-Mitgliedern stark beeinflussen, zu neuen Koalitionen führen und für Spannungen sorgen. Für Polen, das bisher weder starken Zuwanderungswellen ausgesetzt war noch von einer ethnischen beziehungsweise religiösen Vielfalt gekennzeichnet ist, ist die neue Zentralität der Migrationsproblematik in der EU eine große Herausforderung. Dies zeigte sich bereits im Herbst 2015, als sich die liberale Regierung der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO) erst widerwillig und unter Druck Berlins – und gegen die Stimmen der anderen Visegrád-Staaten Slowakei, Tschechien und Ungarn – für Flüchtlingsquoten nach einem verbindlichen Verteilungssystem aussprach. Die kurz darauf angetretene PiS-Regierung lehnte die Annahme von Flüchtlingen rundheraus ab, woraufhin die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen einleitete (wie auch gegen Tschechien und Ungarn).

Die Verpflichtung, sich an der Lösung der "Flüchtlingskrise" zu beteiligen, traf Polen hart – weder die Eliten noch die Gesellschaft waren darauf vorbereitet. Als Polen der EU beitrat, spielten Asylfragen kaum eine Rolle, und es war nicht zu erwarten, dass die EU-Mitgliedschaft die Aufnahme von Zuwanderern aus nichteuropäischen Ländern nach sich ziehen würde. Dieses häufig genutzte Argument mag angesichts der geringen Zahlen – Polen sollte zunächst 7000 Flüchtlinge aufnehmen – vorgeschoben klingen. Es spiegelt aber das zentrale Problem wider: Wegen äußerer Umstände, die das Land nicht zu verantworten hat, verändert sich die Funktionsweise der Union in eine Richtung, die Polen nicht bereit ist, mitzutragen. Mit anderen Worten: Eine EU, in der die EU-Tauglichkeit nicht zuletzt an der Aufnahmebereitschaft der Mitgliedsstaaten bemessen wird, erfordert schwierige Anpassungen – oder droht ein weniger freundlicher Ort zu werden.

Diese objektiven Rahmenbedingungen ändern allerdings nichts an der Tatsache, dass die polnische Regierung in der Frage der Asylpolitik zur Geisel ihrer eigenen Strategie geworden ist. Die herablassenden und gelegentlich fremdenfeindlichen Äußerungen der PiS-Vertreter über Geflüchtete und die entsprechende Berichterstattung im staatlichen Fernsehen verfestigten die ablehnende Haltung der polnischen Gesellschaft gegenüber Migrantinnen und Migranten. Eine Wende hin zu einer Politik, die dem Gebot der Solidarität und Rechtstreue gerecht wäre, ist damit so gut wie undenkbar geworden.

Diese gezielt herbeigeführten Umstände – die Ressentiments und die Angst in der Gesellschaft – liegen als schwere Hypothek auf der polnischen Flüchtlingspolitik, was den Spielraum für eine EU-konforme Haltung einschränkt. Auch wenn die von der Regierung vertretene These, Polen mache für die Bekämpfung der Fluchtursachen mehr als viele andere EU-Länder und hätte darüber hinaus eine Million geflüchtete Ukrainer aufgenommen, Lügen gestraft wurde, steht Warschau mit Blick auf seine finanziellen Leistungen und seinen Beitrag zum Schutz der EU-Außengrenzen den übrigen EU-Ländern in nichts nach. Entscheidend ist allerdings die Tatsache, dass die wichtigsten der aktuell in der EU diskutierten Maßnahmen – ein auf Freiwilligkeit und Anreizen basierender Verteilungsmechanismus, die direkte Umsiedlung der Flüchtlinge nach Europa (resettlement) und legale Migrationswege für Arbeitskräfte aus Afrika im Gegenzug für Rücknahmeverträge – die polnische rote Linie überschreiten: das Nein zur Aufnahme von Migranten aus nichteuropäischen Staaten. Es ist daher abzusehen, dass die Fortschritte in der EU-Asyl- und Migrationspolitik Polen immer stärker unter Druck setzen werden.

Verteidigung: Dilemmata des Nachzüglers

Auch im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gibt es in Polen wenig Begeisterung für den eingeschlagenen Weg. Während für Frankreich die im November 2017 beschlossene PESCO (Permanent Structured Cooperation) ein Schritt in Richtung strategischer Autonomie Europas sein soll und Deutschland vor allem an der politischen Dimension dieser ständigen strukturierten Zusammenarbeit interessiert ist, trat Polen der Initiative erst nach langwierigen internen Kontroversen und trotz tiefer Bedenken bei. Die PESCO soll im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU (GSVP) zu einer besseren Koordinierung der Rüstungspolitik, stärkeren Verknüpfung der Rüstungsindustrien sowie gemeinsamen Finanzierung von Rüstungsprojekten führen. Sie gilt als Antwort auf die neue geostrategische Lage, in der sich Europa stärker selbst um die eigene Sicherheit kümmern soll. Das Brexit-Votum hat diesen Prozess beschleunigt, da sich das Vereinigte Königreich lange einer Vertiefung der verteidigungspolitischen Zusammenarbeit widersetzte.

Die polnische Zurückhaltung gegenüber diesem neuen Integrationsprojekt hat sowohl sicherheits- als auch industriepolitische Gründe. Warschau, das sich mehr als Westeuropa dem Risiko eines militärischen Konfliktes mit Russland ausgesetzt fühlt, setzt stark auf die NATO und die USA als Garanten seiner Sicherheit. Die Skepsis über die Dauerhaftigkeit des amerikanischen Engagements ist in Polen hingegen weniger ausgeprägt als in Westeuropa. So erfüllt Polen zum Beispiel das von den USA bei den Militärausgaben immer wieder eingeforderte "Zwei-Prozent-Ziel" (bezogen auf den Anteil, den das Verteidigungsbudget am Haushalt ausmachen sollte). Der polnischen Regierung liegt viel daran, dass die Streitkräfte der EU-Mitgliedsstaaten, die gleichzeitig NATO-Partner sind, möglichst ausreichend auf den sogenannten Bündnisfall nach Artikel 5 des Nordatlantikpaktes vorbereitet sind. Nach der polnischen Interpretation kann die PESCO diesem Ziel in die Quere kommen.

Sollten sich die EU-Mitgliedsstaaten bei der Entwicklung ihrer militärischen Fähigkeiten demnächst zunehmend an den Vorgaben der EU-Planung statt der NATO-Planung orientieren, könnte dies, so die Befürchtung, ihre Einsatzfähigkeit zum Zwecke der kollektiven Verteidigung einschränken und sie stärker auf Krisenmanagement und Auslandseinsätze ausrichten. Dies würde vor allem den Interessen Frankreichs dienen, das den Schwerpunkt der europäischen Verteidigung auf den Mittelmeerraum und vor allem Afrika verlegen möchte.

Den gleichen Interessengegensatz gibt es in der Rüstungspolitik. Eine engere industrielle Zusammenarbeit, die zum Beispiel durch mit EU-Geldern subventionierte transnationale Projekte gefördert würde, entspräche vor allem den Interessen der großen westeuropäischen Firmen, die sich auf dem Markt viel leichter durchsetzen können. Polen mit seiner mittelgroßen Rüstungsindustrie fürchtet, dass die eigenen Ambitionen in diesem Bereich durch die EU-Politik konterkariert werden könnten. Joint Ventures mit europäischen Großkonzernen könnten zur faktischen Übernahme der polnischen Konkurrenten führen und nebenbei auch die strategisch wichtige Zusammenarbeit mit US-Firmen erschweren.

Hinter der Entscheidung, der PESCO letzten Endes doch beizutreten, stand also keine Begeisterung für das Projekt, sondern vielmehr das Kalkül, diese aus polnischer Sicht zweifelhafte Initiative von innen zu beeinflussen, um den Schaden zu begrenzen.

Perspektiven

Die Kritik des westlichen Gesellschaftsmodells, die Rückkehr zur starken nationalen Identität, die Skepsis über die aktuelle Integrationsdynamik sowie das Hinterfragen der bisherigen Gewissheiten über den Nutzen der Integration: All das ist noch kein Vorbote eines "Polexit". War aber die polnische Transformation nach 1989 von einer politisch gewollten und von Eliten forcierten Europäisierung geprägt, ist heute eine gegenteilige Tendenz spürbar. Die Enteuropäisierung stellt nicht die EU-Mitgliedschaft infrage, sondern sie bestimmt zunehmend die polnische Politik innerhalb der EU. Polen ist zu einem integrationsskeptischen Land geworden.

Dies hängt nicht nur mit der ideologischen Verbohrtheit der PiS, sondern auch mit Interessengegensätzen zusammen. Diese stellen Polen vor ein Dilemma: Wird das Land den aktuellen Kurs fortsetzen und sich einer stärkeren Zusammenarbeit in den wichtigen Bereichen verweigern, droht Polen in die Rolle des Außenseiters zu fallen, die den Ambitionen des Landes nicht gerecht wird. Ohne die Gewinne der Integration aufs Spiel zu setzen, kann Warschau diesen Weg nicht einschlagen. Eine aktive und konstruktive Teilnahme an der Weiterentwicklung der EU würde allerdings ein Umdenken der nationalen Interessendefinition und ihre Hierarchisierung sowie die Aufgabe des politischen Maximalismus erfordern, demzufolge jeder Kompromiss praktisch eine Niederlage sei. Vor allem aber müsste die polnische Regierung die Relevanz der Europapolitik wiedererkennen, die in den vergangenen zwei Jahren zu einem bloßen Instrument der Innenpolitik degradiert worden ist. Nur dann wird eine neue Politik möglich sein, die den Herausforderungen der sich verändernden EU gerecht wird.

ist Politikwissenschaftler und Journalist sowie Leiter des Warschauer Büros des European Council on Foreign Relations (ECFR). E-Mail Link: piotr.buras@ecfr.eu