Geschichtsbilder: Zeitdeutung und Zukunftsperspektive
"Geschichtsbilder" sind Sinngebungen der historischen Zeit. Sie verknüpfen die Deutung der vergangenen mit den Forderungen an die kommende Geschichte; sie geben Orientierung in der Gegenwart und die Gewissheit einer Generationen übergreifenden Identität.I. Geschichtsbilder: Begriff und Bedeutung
Der Sondergesandte der USA auf dem Balkan, Richard Holbroke, schrieb, dass nach der Lektüre einer Untersuchung über die Geschichtsvorstellung der Balkanvölker viele Politiker in den USA den Versuch zur Beilegung des Konflikts als aussichtslos betrachteten. [1] Das offizielle Geschichtsdogma einer Einheit der "Süd-Slawen", das nach dem Zweiten Weltkrieg die Herrschaft der Kommunistischen Partei und zugleich die staatliche Einheit zu sichern hatte, war trotz massiver "Vergangenheitspolitik" zerbrochen. Hinter der machtgestützten Geschichtsdoktrin des 20. Jahrhunderts wurden tiefer in die Vergangenheit zurückreichende Geschichtsbilder und damit alte ethnische, kulturelle und religiöse Gegensätze wieder virulent. [2]Den Streit um die Deutung der Geschichte finden wir immer dort, wo Divergenzen im Selbstverständnis einer Gesellschaft aufbrechen. [3] An die Kontroversen um die Hessischen Rahmenrichtlinien brauche ich hier nur zu erinnern, ebenso an den Historikerstreit in der Bundesrepublik in den achtziger Jahren über das Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus. Der Streit um die Rolle der DDR und ihrer führenden Partei hält an. [4] Solche Kontroversen lassen generell nach Art und Bedeutung von "Geschichtsbildern" fragen.
Der Begriff "Geschichtsbilder" ist eine Metapher für gefestigte Vorstellungen und Deutungen der Vergangenheit mit tiefem zeitlichen Horizont, denen eine Gruppe von Menschen Gültigkeit zuschreibt. [5] Politische und kulturelle Gemeinschaften können sich offenbar nur selbst verstehen, ihre Handlungen abwägen und Optionen für die Zukunft begründen, wenn sie in der "Zeit", d.h. zwischen vergangener und kommender Geschichte, zwischen Erfahrung und Erwartung, ihren Ort bestimmen. Solche selbstbezogenen Deutungen stiften im Chaos der unendlichen Vorgänge der Vergangenheit Sinn, bieten Orientierungshilfe und Handlungssicherheit. So werden Gefühl und Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, wird kollektive Identität beglaubigt, der Daseinssinn einer Gemeinschaft gestiftet.
Als gedeutete Vergangenheit beeinflussen sie Gegenwartsverständnis und Zukunftserwartung. Sie sind Elemente der "gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" [6] . Geschichtsbilder sind nicht Abbildungen des Vergangenen, sondern Ein-Bildungen der Vorstellungs- und Urteilskraft. Im Horizont der Weltgeschichte insgesamt sind diese "Bilder", die Stämme, Völker, Nationen oder auch Religions- und Kulturgemeinschaften sich selbst zuschreiben, nur partikularer Natur. [7] Ihren Anhängern aber erscheinen sie als geschichtliche Wahrheit schlechthin. Widersprechende Bilder anderer Gruppen sind für sie falsch oder bösartig und bestenfalls kurios. Solche Geschichtsbilder sind faktenarm, hochselektiv, aber urteilsfreudig und gefühlsstark. Daher ist die Geschichtsforschung mit ihrem kritischen Instrumentarium ein Feind der Geschichtsbilder - mögen Historiker ihrem Bann auch nicht selten erliegen.
Offenbar werden Geschichtsbilder nicht durch argumentativen Diskurs, sondern nur durch den Gang der Geschichte bestätigt oder widerlegt. Zur Bestätigung reichen kleine Siege, zur Widerlegung sind tief greifende Katastrophen notwendig. Geschichtsbilder können zur politischen Agitation benutzt werden, sind aber mehr als die bald verbrauchten historischen Argumentationen, Zwecklegenden, Propagandawaffen - von Fälschungen und Lügen ganz zu schweigen. In archaischen Gesellschaften sind auch die Geschichtsbilder als mentale Selbstverständlichkeiten in Geist und Gefühl eingelagert - einer Wagenburg vergleichbar. In modernen, komplexen Gesellschaften ist es anders: Die Unterschiedlichkeit der Gruppen, Klassen, Parteien, Religionen, Regionen und Generationen, die Vielzahl verschiedener Erfahrungen und die Differenz der Erwartungen bringt verschieden akzentuierte, konkurrierende Geschichtsbilder hervor - eine Begleiterscheinung pluralistischer Verhältnisse. Unsere Geschichtsbilder streiten nicht nur gegen fremde, sondern auch untereinander.
Das betrifft vor allem die sensible Zone des Übergangs selbst erlebter Vergangenheit in überlieferte Geschichte - also in der Regel ein halbes Jahrhundert zurückliegende Ereignisse. Entsteht hier ein Dissens zwischen der Erinnerung der noch Lebenden und dem Urteil der Nachgeborenen, wird der Streit um Geschichtsbilder besonders heftig. Als Beispiel dafür kann die sog. Wehrmachtsausstellung dienen.
Im Folgenden geht es aber um die tiefer liegenden, Selbstverständnis und Zusammengehörigkeit durch Jahrhunderte stiftenden Geschichtsbilder, die - mit den Begriffen Jan Assmanns - jenseits der "kollektiven Erinnerung" im "kulturellen Gedächtnis" eingelagert sind. [8] Sie sind gestiftet und tradiert, wirksam oft über Jahrhunderte. Sie heften sich an Gründungsgeschichten, können bis ins Mythische übergreifen. [9] Am nachhaltigsten wirken die "Geschichtsbilder" der Religionen: Das Kirchenjahr ist das stärkste Beispiel für ein Geschichtsbild in Aktion, das durch Wiederholung von Wort, Lied, Liturgie und symbolischer Handlung in der Gegenwart durch Erinnerung "allem Volke" - der Menschheit - eine Zukunft verheißt.