Weimar (nicht) vom Ende her denken. Ein skeptischer Ausblick auf das Gründungsjubiläum 2019
Positives Gründungsgedenken als Demokratiebildung
Versuche, Nationalversammlung und Verfassungsgebung als positives Gründungs- und Demokratiegedenken zu etablieren, lassen sich in Vorbereitung des hundertsten Jahrestages und im Kontext des skizzierten Chancendiskurses dennoch ausmachen. Auch wenn die Zumutungen und Herausforderungen der jungen Demokratie keineswegs gänzlich ausgeblendet werden, gerät der weitere Kontext von Nationalversammlung und Verfassungsgebung zum peripheren Hintergrund. Das gilt in besonderer Weise für das alles in allem erfreulich vitale Demokratiegedenken am Ort des Geschehens, in Weimar selbst. Hier lassen sich zahlreiche institutionell oder in Publikationen verstetigte Initiativen für eine Demokratiegeschichte ausmachen, die sich nicht mehr am (aus dieser Sicht viel zu lange dominanten, nationalpädagogischen) Diskurs des Scheiterns orientiert, sondern durch ein positives Demokratiegedenken demokratischen Bürgersinn und zivilgesellschaftliches Engagement stimulieren will.Die Weimarer Initiativen gruppieren sich um den 2013 von verschiedenen Akteuren städtischer Geschichtskultur im Verbund mit Wissenschaftlern gegründeten Verein Weimarer Republik e.V., dem der Jenaer Politikwissenschaftler Michael Dreyer und der Direktor des Weimarer Stadtmuseums Alf Rößner als dessen Stellvertreter vorstehen. Dreyer leitet daneben die 2016 ins Leben gerufene und am Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität angesiedelte Forschungsstelle Weimarer Republik.[12] Häufig in enger Kooperation organisieren Verein und Forschungsstelle Veranstaltungen zur (Weimarer) Demokratiegeschichte, und zahlreiche Publikationen wie Broschüren, Ausstellungskataloge sowie die (politik-)wissenschaftliche Publikationsreihe "Weimarer Schriften zur Demokratie" flankieren diese Arbeit.[13] Neben der Sonderausstellung "Demokratie aus Weimar. Die Nationalversammlung 1919", die seit dem 95. Jahrestag 2014 im Stadtmuseum zu sehen ist, touren derzeit vier betretbare Kuben durch deutsche Einkaufszentren und Bahnhöfe, die die Weimarer Geschichte für ein breites Publikum im Wortsinn zugänglich machen sollen.[14]
Das sicherlich ambitionierteste, zum großen Teil aus öffentlichen Mitteln finanzierte Projekt ist jedoch die Gründung eines "Hauses der Weimarer Demokratie. Forum für Demokratie", das im gegenwärtigen Bauhaus-Museum gleich gegenüber dem Nationaltheater untergebracht ist und 2019 eröffnet wird. Entstehen soll ein Zwitter aus Museum und Bildungseinrichtung: Die Beschäftigung mit der Geschichte Weimars und die Auseinandersetzung mit der Gegenwart der Demokratie sollen miteinander verschränkt werden. Dabei soll es nicht um Wissenstransfer gehen, sondern darum, "dass die Auseinandersetzung mit dem Kosmos der Weimarer Republik in einen übergeordneten gesellschaftspolitischen Diskurs um demokratische Werte gestellt wird".[15] Aus Weimar lernen, kann eben, so lässt sich das verstehen, auch Demokratie-Lernen heißen.
Programmatische Aussagen wie die hier zitierten, die sich im Kontext nicht nur des regionalen Demokratiegedenkens zahlreich finden, deuten darauf hin, dass die Weimarer Republik nun auch – vielleicht vor allem – als positive Vorgeschichte der bundesdeutschen Demokratie und deren Scheitern als nur vorläufige Niederlage betrachtet werden sollen. Weimar brauche, so Michael Dreyer bereits anlässlich des neunzigsten Gründungsgedenkens 2009, "einen besseren Leumund": Das Augenmerk solle nicht nur darauf gerichtet werden, "was 1933–1945 zerstört wurde", sondern auf das, "was von Weimars Erbe nach 1945 wie Phönix aus der Asche" auferstanden sei – politische Traditionen ebenso wie beispielsweise die wortwörtlich aus der Weimarer Reichsverfassung übernommenen Grundgesetzartikel, die das Verhältnis von Staat und Kirche regeln.[16] Das "übermächtige" Narrativ "Bonn ist nicht Weimar" habe verdeckt, "in welchem Ausmaß die Kontinuität zwischen beiden demokratischen Verfassungsordnungen tatsächlich bestand und besteht".[17] Mit der Kritik an der negativen Kontinuitätserzählung geht die Stiftung einer positiven Traditionslinie einher.
Dass die Geschichte der Nationalversammlung in Weimar selbst – anders als die deutsche Klassik, das Bauhaus und Buchenwald – kaum erinnert worden sei, so Alf Rößner, sei "zunehmend als Manko empfunden" worden: "Mit der politischen Wende in Ostdeutschland 1989 und der anschließenden Wiedervereinigung wuchs die Erkenntnis der positiven Bedeutung der Nationalversammlung für unsere Demokratiegeschichte stetig."[18] Der hier gestiftete Zusammenhang zwischen der friedlichen Revolution 1989 und einem positiven Demokratiegedenken ist mit einer revidierten Demokratieerziehung verbunden. Sie setzt nicht mehr auf das als schwarze Nationalpädagogik verstandene repetitive Einbläuen der Gründe und Folgen der gescheiterten Demokratie. Auch jenseits dessen lässt sich der Trend feststellen, einen gleichsam positiv motivierenden Demokratiebogen von der ersten zur zweiten Demokratie und über den Nationalsozialismus hinweg zu schlagen. Der Effekt dieses Demokratiebogens ist die Normalisierung der deutschen Verhältnisse vor 1933 – im Gegensatz zur Behauptung eines "deutschen Sonderwegs". Teleologisch argumentiert dieser Chancendiskurs aber auch: Sein Fluchtpunkt ist die bundesdeutsche Nachkriegsdemokratie.[19]