Weimar (nicht) vom Ende her denken. Ein skeptischer Ausblick auf das Gründungsjubiläum 2019
Weimar ist Weimar
All dies ist nicht neu, sondern in den weiteren Kontext einer Kritik am deutschen Sonderweg zu platzieren, die bereits seit Anfang der 1980er Jahre jene negativen Teleologien herausforderte, die die deutsche Geschichte stets auf den Fluchtpunkt der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 orientiert hatten. Die genaueren Umstände und die weitere Entwicklung dieser wissenschaftlich wie gesellschaftlich virulenten Kritik an der Sonderwegdeutung, die sich zunächst vor allem der Revision der preußischen, aber auch der Geschichte des Kaiserreichs widmete, lassen sich an dieser Stelle nicht nachzeichnen.[20] Seit sie vor rund vierzig Jahren einsetzte, wird die deutsche Geschichte vor 1933 neu durchmustert, produktiv differenziert und oft auf dem Wege des transnationalen Vergleichs in die gewissermaßen normalnationalstaatliche Geschichte des "Westens" eingeordnet. Die Kritik am Diskurs des Scheiterns von Weimar ist so nur die epochenspezifische Variante einer weit umfassenderen Geschichtsrevision, die zudem längst nicht mehr innovativ, sondern in der Mitte der Geschichtswissenschaft wie der Gesellschaft angekommen ist. Neueren Datums ist indes die Tendenz, deren Ergebnisse, wie hier am lokalen Beispiel gezeigt, in eine routinisierte Gedenkkultur zu überführen und zu institutionalisieren.Seine Zweckdienlichkeit also unterscheidet dieses Demokratiegedenken von der produktiven, differenzierenden, Ambivalenzen und Komplexitäten herausstellenden antiteleologischen Forschung seit Anfang der 2000er Jahre. Ihre Autoren und Autorinnen betonten die Offenheit der Weimarer Geschichte und kritisierten die geschlossene Kontinuitätserzählung mit dem Fluchtpunkt 1933. Damit forderten sie auf innovative Weise die zuvor geläufigen konventionellen Deutungen heraus – manchmal schon im Titel, wie der 2000 von dem Verfassungsrechtler Christoph Gusy herausgegebene Sammelband "Demokratisches Denken in der Weimarer Republik" zeigt, der den Titel der klassischen, 1961 erschienenen Studie des Politikwissenschaftlers Kurt Sontheimer ("Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik") umkehrt. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an die Bochumer Habilitationsschrift von Thomas Mergel, der am Beispiel der politischen und sozialen Praxis der Arbeit im Reichstag nachvollzog, wie demokratisches Bewusstsein und Handeln in the making, auf dem Wege alltäglicher parlamentarischer Zusammenarbeit und aufgrund der Notwendigkeit zum stetigen Kompromiss entstehen konnte.[21] In diesen Studien wurde die Weimarer Republik zunächst einmal nach eigenem Recht verstanden. "Weimar was Weimar", überschrieb deswegen der Historiker Benjamin Ziemann 2010 einen Forschungsbericht.[22]