Weimar (nicht) vom Ende her denken. Ein skeptischer Ausblick auf das Gründungsjubiläum 2019
Sperrgürtel um die Hoffnung
Die Autoren des hier vorgestellten Chancendiskurses beziehen sich gerne auf Aussagen aus den programmatischen Reden der Nationalversammlung. Oft taucht in diesem Zusammenhang der tautologische und gerade deswegen so eingängige Superlativ des Präsidenten der Nationalversammlung Eduard David (SPD) auf, der in der 71. Sitzung am 31. Juli 1919, an deren Ende die Weimarer Verfassung angenommen wurde, von Weimar als der "demokratischsten Demokratie" sprach.[23] Eine Woche vorher hatte der Übergangskanzler Gustav Bauer (SPD) die neue Verfassung als "rein[e] Demokratie" bezeichnet.[24] Hinter diesen superlativischen Charakterisierungen, die in der Abgeschiedenheit der Weimarer Nationalversammlung, die Mergel so treffend als "Parlament in Klausur" bezeichnet hat, auf der Theaterbühne dargeboten wurden, stand indes noch keinerlei demokratische Erfahrung: Was sich hier Ausdruck verschaffte, waren die nach Krieg und Revolution unendlich hochgeschraubten Erwartungen an die parlamentarische Demokratie, denen gerade deswegen die Enttäuschung schon eingeschrieben war.[25]Daneben handelte es sich aber auch um strategische Rhetorik, darauf ausgelegt, die ehemaligen alliierten Kriegsgegner, die den deutsch-preußischen Militarismus während des Kriegs propagandistisch gegeißelt hatten, von den besseren Potenzialen eines trotzdem überlegenen "deutschen Geistes" zu überzeugen – den "Geist von Weimar" also gegen den "Geist von Potsdam" ins Feld zu führen. Die Einrichtung einer demokratischen Ordnung war von Anfang an nicht nur heftig umstritten, sondern fundamental umkämpft: Als Friedrich Ebert in seiner Eröffnungsrede am 6. Februar 1919 formulierte, dass sich "das deutsche Volk gegen eine veraltete, zusammenbrechende Gewaltherrschaft" erhoben habe, erntete er "lebhafte[n] Widerspruch von rechts", und als er eben jenen "Geist von Weimar" programmatisch gegen den "Geist von Potsdam" beschwor, war nur "lebhafter Beifall links" zu hören: Ein "Warnzeichen", meint der Politikwissenschaftler Detlef Lehnert, "die Bereitschaft zum Neubeginn nicht zu überschätzen".[26]
Spätestens aber als die Parlamentarier und Parlamentarierinnen das Weimarer Nationaltheater verließen, wurden sie auf die uneindeutigen Konstellationen verwiesen, in denen die Weimarer Demokratie entstand. Nicht nur flaggte die konservativ-bürgerliche Bevölkerung Weimars, das (noch) wie eine Insel im roten Thüringen lag, häufig die Farben der Monarchie: schwarz-weiß-rot statt schwarz-rot-gold.[27] Die Sitzungen wurden zudem durch nach Weimar beorderte Berliner Polizeieinheiten gesichert, und nach Weimar hinein kam man nur mit speziellen Pässen. Die Nationalversammlung war von einem zehn Kilometer tiefen Sperrgürtel umgeben: Das Freikorps Maerker schirmte die Nationalversammlung zwar ab und hielt gegen Weimar ziehende Spartakisten "auf halber Strecke in Großkorbetha" auf, nutzte aber zugleich die Gelegenheit, um Flugblätter gegen die Ratifizierung des Versailler Vertrags inklusive Putschdrohung zu verteilen.[28]
Zwar argumentiert der Verfassungshistoriker Heiko Holste in einer gerade erschienenen Arbeit, dass die Wahl des Ortes nicht, wie oft kolportiert, in erster Linie eine Flucht gewesen sei vor den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Berlin; wichtiger sei die nicht nur symbolisch, sondern auch räumlich vollzogene Abkehr von Preußen gewesen.[29] Dennoch verdeutlicht die Weimarer Konstellation den Kontext der "revolutionären Nachkriegskrise": Die demokratischen Hoffnungen gediehen im Ungewissen der Nachkriegszeit und einer gewaltgeladenen Situation – der Geschichtswissenschaftler Mark Jones spricht mit Blick auf das Handeln der Regierung gar von "Gründungsgewalt" –, die im Chancendiskurs nur selten thematisiert wird.[30]