Nachkriegsgesellschaft. Erbschaften des Ersten Weltkriegs in der Weimarer Republik
Die Geschichte der Weimarer Republik ist Nachgeschichte. Nachgeschichte eines Kriegs, dessen Zerstörungskraft ohne Beispiel war und der in fast jeder Familie seine Spuren hinterließ. Nachgeschichte aber auch jener Umwälzungen der Moderne, die an der Wende zum 20. Jahrhundert die heutige großstädtisch-massenkulturelle Lebenswelt in ihren Grundzügen schufen. Technik und Industrie, die Vielfalt neuer Sinneseindrücke und sozialer Erfahrungen prägten in Deutschland jetzt das Lebensgefühl mehr als die überschaubare ländliche Welt. Der Erste Weltkrieg verstärkte diese Entwicklung mit seiner umfassenden Mobilisierung der personellen und wirtschaftlichen Ressourcen.[1]Für die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, je nachdem, wie alt sie waren, bildete der Krieg somit nicht den einzigen Umbruch ihres Lebens. Wer in den 1870er Jahren, dem Jahrzehnt der Reichsgründung, geboren war – und dazu gehörten viele Angehörige der Funktionseliten der Weimarer Republik –, hatte den epochalen Wandel vom Agrar- zum Industriestaat in seiner Jugend selbst miterlebt. Für die zwanzig Jahre später geborenen Männer bildete dagegen der Dienst als Soldat im Krieg die zentrale Erfahrung beim Eintritt ins Erwachsenenalter. Frauen dieser Jahrgänge erlebten den Krieg ebenfalls als Einschnitt. Wurden sie erwerbstätig, geschah dies jetzt gerade in der Rüstungsindustrie, auf zuvor von Männern besetzten Arbeitsplätzen. Wie die älteren Frauen auch, mussten sie bei der Organisation des Haushalts Versorgungsengpässe aller Art meistern. Wer nach der Jahrhundertwende geboren war, für den schließlich zeigte sich der Krieg neben der umfassenden Mangelwirtschaft und patriotischen Mobilisierung in der Schule auch in manchen Freiräumen, die sich angesichts zum Militär eingezogener Lehrer und Polizisten eröffneten.[2]
Die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen der Weimarer Republik trugen also sehr unterschiedliche Geschichten mit sich. Diese hingen von ihrem Alter und Geschlecht ab und wurden ausgeformt in den politischen Milieus und Lagern, die sich trotz aller massenkulturellen Entwicklungen vor allem bei der Sozialdemokratie und dem politischen Katholizismus erhielten.[3] Von einer homogenen Nachgeschichte lässt sich angesichts solcher Unterschiede nicht sprechen. Wenn die folgenden Ausführungen die deutsche Gesellschaft in der Weimarer Republik als Nachkriegsgesellschaft untersuchen, können sie deshalb nur große Linien in der Vielfalt zeitgenössischer Erfahrungsverarbeitung beleuchten.