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Ostdeutsche Kindheiten im sozialgeschichtlichen Wandel | Familie und Politik | bpb.de

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Ostdeutsche Kindheiten im sozialgeschichtlichen Wandel Familiale Generationenlinien der Jahrgänge 1908 - 1929, 1939 - 1953 und 1968 - 1975

Jutta Ecarius

/ 25 Minuten zu lesen

Familie und Erziehung vollzieht und verändert sich im Kontext von drei Generationen. Die Analyse von drei familialen Generationenlinien zeigt die unterschiedlichen Kindheitsmuster.

I. Einleitung

Kindheit und Erwachsenenalter sind aufeinander bezogen. Ohne eine Vergegenwärtigung von Sozialgeschichte und der sozialen Typisierungen der Lebensphasen Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und Alter ist Kindheit nicht nachvollziehbar. Kindheit enthält durch Interaktionen mit Anderen immer auch Begrenzungen und Freiräume. Familienkonstellationen, das Verständnis von Erziehung und der konkrete Umgang mit Kindern in der Familie sind zentrale Erfahrungsräume von Kindern.

Kindheitserinnerungen verschiedener Generationen, in denen sich die Erziehungsanforderungen der jeweiligen Eltern- und Großelterngeneration widerspiegeln, lassen sich am besten herausarbeiten, indem man sich diesem Thema qualitativ-biografisch nähert, Zeitzeugen aus unterschiedlichen Generationen befragt und sie über ihre Kindheitserfahrungen erzählen lässt. Im Projekt "Sozialgeschichte, Erziehung und Lernen in familialen Generationsbeziehungen in Ostdeutschland. Wandlungsprozesse im intergenerativen Vergleich über drei Generationen" sind insgesamt 22 Generationenlinien in Familien biografisch befragt worden. Interviewt wurden jeweils drei Generationen in einer Familie, wobei entweder männliche oder weibliche Linien der Altersgruppen 1908 - 1929, 1939 - 1953 und 1968 - 1975 ausgewählt wurden. Im Zentrum der Analyse stehen die subjektiven Erfahrungen der drei Generationen, ihr Erleben von Kindheit, die Anforderungen und Freiräume in der Familie und die Erziehungspraxis der Eltern und Großeltern. Die Analyse umgreift weniger gemeinschaftliches Fühlen, Denken und Handeln, wie Karl Mannheim betont, sondern Generationeneffekte, das spezifische Erleben von sozialgeschichtlichen Räumen der Kindheit sowie der Bewertung von Kindheitserfahrungen. Theoretisch wird an modernisierungs- und zivilisationstheoretischen Annahmen in Anlehnung an Ulrich Beck und Norbert Elias angesetzt. Dabei gehe ich davon aus, dass in familialen Generationsbeziehungen in besonderer Weise die Verflechtung individueller Erfahrungen von Kindheit und sozialer Zeitgeschichte zum Tragen kommt. In Anlehnung an Elias kann soziales Handeln generell nur im strukturierten Wandel begriffen werden. Beide Bereiche, die Beziehungen der Individualstrukturen und die Gesellschaftsstrukturen, sind als sich wandelnde, werdende und gewordene Strukturen zu verstehen, die ineinander greifen. Familie ist ein soziales, intergenerationales Gefüge über zwei, in der Regel mehrere Generationen, in denen an Kinder grundlegende Wissensbestände und working-models des Handelns vermittelt werden. In der Familie finden die zentralen Sozialisations- und Erziehungsprozesse statt. Die befragten Personen aus drei Generationen in einer Familie stehen als RepräsentantInnen unterschiedlicher historischer Generationen.

II. Empirische Analyse von drei Kindergenerationen in Familien

1. Geordnete Kindheit: die älteste Kindergeneration (1908 - 1929)

Die älteste Generation erfährt die Erziehung der Eltern, die circa um 1885 geboren sind, als Befehlen und Unterordnung. Gehorsam ist ein zentraler Inhalt der Erziehung: "Wir waren damals so erzogen, das, was die Eltern wollten und sagten, das haben wir getan." (geb. 1908, weiblich). Sie lernen, die Wahrheit zu sagen und nicht zu lügen. Die Eltern regeln auch die Interaktionen zwischen den Geschwistern. Zudem bestimmen sie die Kleiderordnung. Die Mädchen dürfen nur "Röcke" tragen und als Haartracht bevorzugen sie "Schnecken hinter den Ohren" (1908, w.). Gesungen werden Volkslieder, gelesen werden Kirchenblätter, aber auch Klassiker. Typisch für die Kindheit der ältesten Generation, die in bäuerlichen Familien aufwächst, ist, dass sie schon früh in der Landwirtschaft mithelfen. "Wie ich ein bisschen größer war, da wurde schon Arbeit verlangt." Oder: "Es war nicht zu viel, aber wir hatten ganz schön unsere Pflichten" (1917, w.).

Mag aus gegenwärtiger Sicht das Konzept des Befehlshaushaltes als stark reglementierend und kontrollierend erscheinen, so verdeutlichen die ErzählerInnen, dass dies Teil ihrer alltäglichen kindlichen Lebenswelt ist. Daraus resultiert auch das Verständnis für die elterliche Erziehungspraxis. Wenn es eine Ohrfeige gibt, die als ungerecht empfunden wird, "war alles aus Liebe und ich akzeptierte das" (1913, m.). Die Erziehung wird trotz Strenge und der Forderung nach Unterordnung als liebevolle Erziehung erinnert. Kritik an der Erziehung äußern sie, wenn sie sich vernachlässigt fühlen. Auch wenn Verständnis dafür gezeigt wird, dass die Eltern in berufliche Notwendigkeiten eingebunden sind, wird der Wunsch geäußert, dass die Eltern "sich mehr um die Kinder kümmern, mehr für die Kinder da sein" könnten (1908, w.). Diese Kritik bezieht sich nicht auf die Regeln des autoritären Befehlshaushaltes. Die Erziehung zur Sauberkeit, Ordnung, Wahrheitsliebe bleiben positive Erziehungsinhalte.

Dazu gehört auch das Erleben von Christlichkeit, das typisch für die Kindheitserfahrungen der ältesten Generation ist. Religion ist Teil des familialen Alltags. Es wird erzählt, dass die Eltern den "Glauben in‘s Herz gepflanzt haben" (1913, m.). Kindheitserfahrungen und das Einüben christlicher Werte sind so sehr in den Alltag eingebettet, dass teilweise im Sinne von "das klappte alles" (1910, w.) bilanziert wird.

Kindheitserinnerungen sind eng verbunden mit den Erfahrungen einer geschlechtsspezifischen Erziehung. Die Jungen verspüren Ängstlichkeit und Ohnmachtsgefühle, fühlen sich klein und oft unterlegen. Es sind nicht nur die Eltern, welche die Kinder ängstigen, sondern auch die Gleichaltrigen. Herr Abel berichtet, dass ihn die Schulkameraden vom Fahrrad gestoßen und einmal sogar "gekreuzigt" haben. Herr Lau hat als Kind Angst vor dem Hauswirt, der die "ganze Familie tyrannisierte". Die Mädchen erzählen von "Handarbeiten", aber auch von Spielen mit Gleichaltrigen. Sie sind als Jugendliche im Wanderverein, besuchen die Kirmes und nehmen am Gemeinde- und Bibelkreis teil.

Jungen und Mädchen beschreiten Ausbildungswege, auch gegen ihren Protest. Manche Mädchen erleben die geschlechtsspezifische Benachteiligung als Freiraum: "Ich weiß bloß, dass ich dachte, ‘ach, brauchst Du nicht mehr so viel zu lernen‘." Von wissbegierigen Mädchen wird die Schule demgegenüber positiv erinnert, wobei die Hoffnung auf eine spätere erfolgreiche berufliche Laufbahn enttäuscht wird. Die Eltern lenken den schulischen Weg der Mädchen in geschlechtsspezifische Bahnen und fordern Unterordnung. Die Jungen aus bürgerlichen Familien oder solchen mit Grundbesitz werden mit konkreten schulischen und beruflichen Erwartungen konfrontiert, die zu erfüllen sind. Daraus resultiert für manche Jungen das Gefühl der Überforderung und Ängstlichkeit, aber auch der Anspruch, ein bürgerliches Leben führen zu wollen. Für wieder andere ist Schule Zwang. "Während ich in der Schulzeit oft elend aussah, blühte ich in den Ferien auf und fühlte mich da erst richtig frei" (1913, m.).

Kinder aus dem Arbeitermilieu erleben Beschränkungen durch das Schul- oder Lehrgeld, das die Eltern nicht aufbringen können. Kindheit im Arbeitermilieu heißt oft Leben in Armut. Primitive Wohnverhältnisse in Souterrainwohnungen, Waschküchen als Badezimmer sowie ärmliche Kleidung werden erinnert. "Zu essen gab es auch nichts. Dann hatten die von ihrem Futterrest Maisschrot und Hafer, und da haben wir dann davon gelebt. Maisschrot, der ließ sich gut kochen und Sirup dazu" (1909, m.). Wenn nicht von Hunger berichtet wird, dann von der Eintönigkeit des Essens und Luxusgütern wie bspw. Butter. Aufwachsen bedeutet, "Holzpantoffeln" zu tragen und "in den Sommermonaten barfuß zu laufen" (1913, m.). Zugleich wird zwischen Erziehung und ärmlichen Verhältnissen unterschieden. "Wir sind gut erzogen worden, aber hinten und vorne fehlte es. Da hatten wir keine Schuhe, da gingen wir barfuß" (1909, m.).

Der Familienverband stellt insgesamt die primäre Lebens- und Erfahrenswelt dar. Das Zusammenleben mit Geschwistern, aber auch mit Großeltern und weiteren Verwandten wie Tanten und Onkeln gehören zu den zentralen Erfahrungen in der Kindheit. Kindheit wird gleichgesetzt mit der Einbindung in die Strukturen der Familie, der Anwesenheit der Eltern und Großeltern, milieu- und geschlechtsspezifischen Sozialmilieus, in denen Gehorsam und Unterordnung, aber auch Religiosität, Pflichterfüllung, Ehrlichkeit, Pünktlichkeit, Gerechtigkeit und Für-das-Gute-dasein selbstverständliche Verhaltensanforderungen sind.

2. Nachkriegszeit als Normalität: die mittlere Kindergeneration 1939 - 1953

Auch in dieser Zeitperiode wird Kindheit als Aufwachsen in einem großen Familienverband erinnert. Jedoch sind es nun auch die Großeltern, die ansatzweise Erziehungsaufgaben übernehmen. Da die Mütter in diesem Sample überwiegend berufstätig sind, übernehmen einige Großmütter, die um 1885 Geborenen, die Erziehung und werden so zu zentralen Bezugspersonen. "Die Oma wusste immer Rat und konnte einem helfen, wenn man hingefallen war" (1943, w.). Die Großmütter werden als streng erinnert: "Meine Großmutter, ja, die hat schon mal schnell, einen kleinen Klaps gab‘'s da schon mal drauf, war dann zwar gleich wieder gut, aber das gab es schon mal, so ein bisschen was" (1943, w.). Aber nicht nur die Großmütter sind zentrale Bezugspersonen. Zu Ersatzeltern werden auch ältere Geschwister, die sich um die Jüngeren kümmern. Die älteste Schwester war "fast wie eine kleine Mutti" (1943, w.). In den Familien, in denen der Vater fehlt, setzen die Kinder andere Personen an dessen Stelle: "Die Tante hat auch ein bisschen die Vaterstelle ersetzt, denn sie war strenger als meine Mutter und hat sich manchmal ein bisschen eingemischt in unsere Erziehung" (1941, w.). Die Abwesenheit des Vaters ist für die Kinder nicht nur schmerzlich. Das soziale Umfeld wird als vollständig und natürlich erlebt, auch wenn der Vater in Gefangenschaft ist (1939, m.). Die Kinder konzentrieren sich auf die anwesenden Personen.

Kindheit der Nachkriegsgeneration heißt, die Überlastung der Eltern sowie deren erfahrene Schicksalsschläge zu spüren: "Meine Mutter war zu gütig... . . ., aber sicher kam das dadurch, dass sie immer abgespannt war und etwas erschöpft und überlastet, und streng konnte sie gar nicht sein" (1943, w.). Die zweite Generation wünscht sich die Mutter manchmal "lebensfroher, unter anderen Umständen wäre sie vielleicht auch anders gewesen" (1942, w.). Gewünscht werden mehr Einfühlungsvermögen und mehr zur Verfügung stehende Zeit, manchmal auch mehr Strenge. Die Zwiespältigkeit von wenig gemeinsamer Zeit und liebevoller Zuwendung ist eine schmerzliche und zugleich schöne Erinnerung: "Ich kann mich erinnern, auf der einen Seite doch viel Liebe von meinen Eltern erhalten zu haben, auf der anderen Seite, dass sie ganz wenig Zeit für uns hatten und wir viel verteilt worden sind an Bekannte, Verwandte, Hausangestellte" (1944, w.).

Diese Kindergeneration erfährt überwiegend einen autoritären Befehlshaushalt sowie eine christliche Erziehung. "Ich komme aus einem christlichen Elternhaus, und da sind natürlich diese Werte auch in der Erziehung von Bedeutung gewesen, das heißt ja Wahrhaftigkeit, Hilfsbereitschaft, Verlässlichkeit" (1939, m). Emotionale Fürsorge, autoritärer Befehlshaushalt und religiöse Erziehung markieren die Kindheitserfahrungen. Die Kinder ordnen sich in den Familienalltag ein, helfen im Haushalt und folgen der Anforderung nach Sauberkeit: "Bevor man zu Tisch geht, wäscht man sich die Hände" (1942, m.). Auch wenn der Regelkanon der Familie insgesamt noch relativ streng ist, erleben sie etwas mehr Freiräume. Sie dürfen abends länger aufbleiben und ihre Freunde weitgehend selbst aussuchen (Abel 1939, m.). Erinnert werden aber auch körperliche Strafen. "Da gab es eben eine Schelle, wenn es nicht so gelaufen ist, und meine Mutter hat sich auch nicht nerven lassen" (1940, m.).

Kindheit heißt auch, Junge oder Mädchen zu werden. Jungen erzählen von Streichen und "Rabaukentum" (1943, m.). Für sie sind es die Gleichaltrigengruppen, in denen sie Mutproben bestehen oder gar Scheunen anzünden. Zugleich erleben sie sich innerhalb der Familie als schüchtern und ängstlich und erzählen von Kinderkrankheiten wie Mandeln oder Mumps. Die Mädchen der mittleren Generation müssen im Haushalt helfen und geschlechtsspezifische Aufgaben übernehmen. Auch das Spielzeug ist je nach Geschlecht unterschiedlich. Manche der Mädchen erinnern, dass sie lieber die Straße oder das Gelände bevorzugt haben und der Puppenwagen uninteressant war. Aber in der Schule stehen ihnen nun andere Bildungswege offen.

Kindheit heißt für manche auch Aufwachsen in Baracken, in Kälte und Armut. Die Kleidung wird aus Matratzenstoffen genäht und für die Jüngeren umgearbeitet. Hervor stechen jedoch die schönen Erlebnisse. Wir "sind viel im Wald gewesen, haben Pilze gesammelt, Beeren, Holz gesammelt zum Heizen und dies und jenes, wie das halt nötig war damals, aber das war eine relativ schöne Kindheit, das muss ich sagen" (1944, w.). Wieder andere erleben Kindheit ohne Hunger (1939, m.; 1942, w.). Für sie ist Kindheit aufgrund der Lebensbedingungen etwas Besonderes, ein Gemeinschaftserleben mit anderen: "Notleiden brauchten wird nicht, aber es war sicher auch ein anderes Verhältnis der Kinder untereinander, als es jetzt ist, weil jeder hatte nicht so viel und alle haben zusammen gehalten" (1942, w.).

Kinder mit bürgerlichem Hintergrund erleben den Widerspruch zum sozialistischen Umfeld in der DDR und lernen, sich zwischen diesen beiden Welten zu bewegen. Sie haben sich mit der Schule und ihren Normierungen auseinander zu setzen. "Die Schulzeit war für mich sehr übel, weil ich in diesem Viertel, da waren wir als Kapitalistenkinder ziemlich gebrandmarkt, kann man schon sagen, und das habe ich auch in der Schule sehr gespürt" (1943, w.). Stigmatisierungen bis hin zu Ausgrenzung werden zu Alltagserfahrungen. Für die Kinder ist die Schule weder ein Freiraum gegenüber den Eltern noch ein besonderer Kommunikationsort mit Gleichaltrigen, sondern eher einer der Ausgrenzung und Gängelung. Sind die Kinder religiös, erfahren sie ebenfalls Reglementierungen: "In der Schule wurden wir doch manchmal angegriffen, wurden nicht so akzeptiert von den Lehrern. Der Schuldirektor hatte mich ein paarmal bestellt, und da war ich doch oft angegriffen worden" (1943, w.). Die religiöse Orientierung kann aber auch zu familialen Konflikten führen, wenn die Kinder eine sozialistische Grundhaltung entwickeln (1942, w.). Teilweise verliert sie auch an Bedeutung.

Eine sozialistische Erziehung gelingt, wenn die Kinder im Elternhaus keine kritische Einstellung zum DDR-Regime erfahren, Religion unbedeutend ist und die Betreuungseinrichtungen genutzt werden. Erziehung wird nun auch aktiv von der Schule übernommen: "Du, wenn die meinten, Oberschule muss sein, dann war das so" (1943, w.). In der Familie wird wenig Leistungsdruck ausgeübt. "Sie konnte auch nicht, sie war eine sehr einfache Frau" (1943, w.). Andererseits werden von den Eltern schulische Erwartungen und Leistungsansprüche an die Kinder herangetragen. Interessant ist hier, dass gerade bei den um 1945 Geborenen die Eltern an Vorstellungen ihres Herkunftsmilieus ansetzen und versuchen, ihre Kinder zu beeinflussen. Der Besuch der Oberschule und der Abschluss des Abiturs wird von Eltern und auch Großeltern mit bürgerlichem Hintergrund als selbstverständlich erachtet, auch wenn die Kinder politische Konflikte in der Schule erfahren. Dort erlebt die mittlere Kindergeneration eine sozialistische Kontrolle oder aber Stütze, je nach sozialer Herkunft.

3. Familie, Schule und Gemeinde: die jüngste Kindergeneration 1968 - 1975

Die jüngste Generation erlebt weitgehend eine moderne Erziehung, eine Erziehung an der kurzen Leine, teilweise versehen mit Elementen des Befehlshaushalts: "einerseits ziemlich locker und andererseits mit einer ziemlichen Strenge" (1970, w.). Es überwiegt jedoch eine Erziehung des Verhandelns. Es gab "nie irgendwelche Verbote, es sei denn, es war wirklich einleuchtend" (1970, w.). Die Eltern erziehen zur Offenheit, Ehrlichkeit und Selbstständigkeit. Familiale Regeln sind das gemeinsame Tischdecken und Abendessen sowie das Aufräumen des eigenen Zimmers. Zu bestimmten Zeiten darf ferngesehen werden, und belohnt werden gute Noten in der Schule. Das Wochenende wird in der Familie mit den Großeltern und weiteren Verwandten verbracht. Die Familie ist der Ort des Rückhaltes und der Fürsorge, aber auch der Freizeitgestaltung. Die Kinder erleben, dass sie mit ihren Eigenheiten akzeptiert werden, der Grad der Informalisierung relativ hoch ist und jedes Kind über einen privaten Bereich verfügt. Zugleich ist die Familie traditionell hierarchisch strukturiert. Auch in der DDR werden die Eltern "als richtig klassische Eltern" (1972, w.) erlebt: "der Vater als der Gott und die Mutter als Hausfrau, die daneben steht" (1972, w.). In der Regel sind jedoch beide Elternteile berufstätig.

Insgesamt erlebt diese Generation die elterliche Erziehung eher indirekt mit viel Fürsorge und versteckter Lenkung. Erzählt wird immer wieder, dass es keine Regeln gebe, wobei Regeln mit Reglementierungen und autoritären Befehlen gleichgesetzt werden. Erst wenn sie sich in eine andere als die vorgesehene Richtung entwickeln, erfahren sie Kontrolle und Auseinandersetzung. Wenn bspw. der Vater feststellt, dass "meine Individualität nicht mehr mit seiner Individualität übereinstimmte, dann fing es an zu kriseln" (1972, w.). Erst dann erkennen sie elterliche Grenzen und Anforderungen. Kritisiert wird die Abwesenheit der Eltern, wenn das Alleinsein zum Zwang eines frühen Selbstständigwerdens wird. Teilweise leiden die Kinder auch unter der Strenge, Härte sowie Lieblosigkeit, sodass sie es vorziehen, dass die Eltern oder der betreffende Elternteil nicht zu Hause sind. Gesucht wird Nähe und Verständnis, aber auch Anleitung, die nicht Kontrolle ist (1972, m.).

Trotz einer Erziehung zur Selbstständigkeit verspüren sie geschlechtsspezifische Reglementierungen. Die Erziehung zur Männlichkeit wird als Härte und Lieblosigkeit erfahren, da die eigene Person mit ihren spezifischen Bedürfnissen nicht berücksichtigt wird. Beklagt wird, dass die Eltern "immer einen richtigen Mann aus mir machen wollten, na ja härter werden und sich durchsetzen können" (1972, m.). Auch die Mädchen erleben Bereiche, in denen sie auf ihre Geschlechtlichkeit verwiesen werden. Sie erzählen davon, dass sie sich gegen geschlechtsspezifisches Spielzeug wehren, und kritisieren die ungleichen Anforderungen zur Mithilfe im Haushalt. Zugleich ist es ihnen jedoch aufgrund der veränderten Erziehungspraxis der Eltern möglich, Regeln neu auszuhandeln und sich gegen geschlechtsspezifische Disziplinierungen zu wehren.

Kindheit Ende der sechziger Jahre heißt zudem, von den Großeltern erzogen zu werden, vor allem dann, wenn die Mutter berufstätig ist. Detailliert berichten sie, wie und wann sie von den Großeltern abgeholt wurden, bei welchen Großeltern sie gelebt haben, zu welchen sie keine Beziehung haben und was die Faszination der Beziehung ausmacht. Sie betonen die Anleitung und Erziehung, die emotionale Unterstützung und Fürsorge sowie die Geduld und Zeit, welche die Großeltern aufbringen. "Nach der Schule, wenn Vater und Mutter noch arbeiten waren, war ich meistens bei denen, auch mit gespielt, Großmutter hat mit mir Hausaufgaben gemacht, haben sich um mich gekümmert, Mittag gegessen und alles was dazu gehört" (1975, m.). Oder: "Wenn ich mit meinen Eltern mal nicht zurechtkomme, dann war ich immer bei meinen Großeltern (Lachen) . . .... und ich hatte auch eine unheimlich enge Beziehung zu meiner Oma" (1969, w.). Die Großväter fungieren teilweise als Vermittler von Familientraditionen.

Diese Generation erfährt in ihrer Kindheit selten Leistungsdruck. Leistungsdruck ist nur dann sichtbar, wenn die Eltern den sozialen Aufstieg und die Erwartungen der ältesten Generation nicht erfüllen konnten. Da der Vater "keine Karriere machen konnte, sondern arbeiten gehen musste", um die junge Familie zu ernähren, werden alle Hoffnungen auf die nächste Generation gesetzt. So wollen die Eltern "immer ein bisschen mehr, wollten mich mit Wissen vollpeitschen, haben mich eigentlich auch gezwungen" (1972, m.). Ansonsten ist die Schule Freizeitort. "Also nachher in der fünften Klasse habe ich angefangen, Gitarre zu spielen, und bin oft zum Sport gewesen, also habe dann intensiv Volleyball gespielt" (1972, w.). Dort trifft man Freunde und spielt Fußball.

Kindheit bedeutet, eine sozialistische Gesellschaft mit institutionellen Strukturen und entsprechenden sozialen Typisierungen zu erleben. Der institutionelle Rahmen wird als Alltagswelt erfahren. Fast alle Kinder besuchen den Kindergarten, die meisten Mütter arbeiten, und fast alle Kinder sind Mitglieder der Kinder- und Jugendorganisationen der DDR: der Jungen Pioniere und der FDJ. Freizeitangebote sind an die Schule angegliedert, und die Schule ist weniger Ort der Leistung als einer der Treffen. Diejenigen Kinder, deren Eltern einem bildungsorientierten Milieu angehören, erleben Reglementierungen. Dennoch orientieren sich viele Kinder entlang des vorgegebenen institutionellen Ablaufs, der ihnen Sicherheit gibt, verbunden mit der Gewissheit, dass die schulische und berufliche Planung übernommen wird und die Freizeitaktivitäten ebenfalls über diese Institutionen organisiert werden. Stolz wird von verschiedenen Posten berichtet: "Ich war irgendwo eine Autorität schon, also wenn irgendwas war, dann haben sie mich losgeschickt, und das hat mir auch eine Menge Spaß gemacht da so. Also ich war die meiste Zeit FDJ-Sekretär und davor war ich so ein Agitationsmensch in der Klasse, und es hat mir eine Menge Spaß gemacht" (1972, w.).

Falls Kindheit auch Glauben heißt, kommt eine weitere Sozialisationsinstanz, die Gemeinde, hinzu, was gleichbedeutend mit Auseinandersetzungen ist. "Wir sind Sonntag für Sonntag in die Kirche gegangen, ich habe meinen gesamten Freundeskreis eigentlich in Katholikenkreisen aufgebaut - und dann gab es die Schule zum einen Punkt und zum anderen Punkt halt die Kirche und den Pfarrer und meine Eltern, die halt ziemlich kontrovers geredet haben" (1970, w.). Problematisch werden Familienverbände erlebt, wenn in den einzelnen Generationen unterschiedliche Überzeugungen vorhanden sind, die Großmutter bspw. Zeugin Jehovas ist und die Eltern Parteimitglied sind. Es kam "auch Kontrolle jetzt vom Betrieb meines Vaters..., dass da welche kamen vom MDI (Ministerium des Innern) und dass die halt meine Oma kontrolliert haben und auch Hausdurchsuchungen gemacht haben, ob da irgendwelche Zeitschriften oder so was vorhanden sind .... . . meine Oma hat auch ziemlich darunter gelitten" (1972, w.). Jedoch wird die Familienstruktur nach außen wie nach innen gewahrt.

III. Sozialgeschichtliche Kindheitsräume und soziale Typisierungen

Biografische Erfahrungen und der sozialgeschichtlich strukturierte Raum ergeben zusammen das, was man als Kindheitserfahrungen bezeichnen kann und was das Spezifische einer Generation ausmacht. Vorstellungen von Kindheit fließen in Erziehungskonzepte ein und beeinflussen die Art und Weise der Generationsbeziehungen sowie die Gestaltungs- und Lebensräume der Kinder. An Kinder werden von der älteren Generation sowie den spezifischen institutionellen Einrichtungen und deren professionellen Vertretern ganz konkrete Anforderungen des Handelns und der Bildung gestellt. Wie Mead herausstellt, entsteht das Selbst in Auseinandersetzung mit anderen. Verhaltensmuster, die jedes Kind erst langsam erlernt, bilden sich durch die antizipative Übernahme der Sicht sowie der Erwartungen anderer heraus: der Angehörigen der älteren Generationen. Zu Beginn des Lebens sind es konkrete Personen wie die Eltern, Großeltern, Geschwister, Freunde sowie professionelle ErzieherInnen, die dem Kind eine bestimmte soziale Welt präsentieren. Interaktionspartner, soziale Beziehungsschemata der Familie sowie anderer sind zentrale Hintergrundbedingungen, die das Kinderleben und damit den Prozess des Aufwachsens und der Erfahrungen beeinflussen.

Familie und damit Familienerziehung ist vielfach strukturiert . Familie als eine Lebensform unter anderen, die nicht auf einen Haushalt beschränkt ist, besteht aus mehreren Generationen. Während Familie auf der mikrostrukturellen Ebene individuell gestaltbar und an der Befriedigung subjektiver Bedürfnisse orientiert ist, ist sie auf der makrostrukturellen Ebene mit soziokulturellen, politischen und ökonomischen Strukturen einer Gesellschaft verknüpft. Hierzu gehören die Bedingungen des Arbeitsmarktes und des Berufslebens, das Geschlechter- und Generationenverhältnis sowie die normativen und gesellschaftspolitischen Bestimmungen der Institution Familie. Hinzu kommen sozialpolitische Entscheidungen des Wohlfahrtsstaates, die allgemeine Schulpflicht, das Kindergeld etc. und rechtliche Regelungen der Familie. In der Familie verschränken sich individuelle Lebensmuster mit makrogesellschaftlichen Strukturen, wobei in der Regel mehrere Generationen über Verwandtschaftsgrade aufeinander bezogen sind. In der Familie sind die Generationenbeziehungen nicht freiwillig zusammengesetzt. Sie sind weder frei wählbar, noch sind sie prinzipiell aufkündbar. Elternschaft lässt sich nicht beenden, und jede/r ist ihr/sein Leben lang das Kind ihrer/seiner Eltern. Das Gleiche gilt für die Großeltern-Enkel-Beziehung. Familiale Generationsbeziehungen sind in ihrer Struktur von Ambivalenz gekennzeichnet: Neben Übereinstimmungen gibt es immer auch unterschiedliche Auffassungen. Abhängigkeit und Unabhängigkeit sowie Nähe und Distanz prägen gleichermaßen die interaktiven Beziehungen.

Die Familie besteht vor allem aus drei Generationen. Während in der ältesten Generation die Kinder die Großeltern als Teil des Familienverbandes erleben, werden sie in der mittleren und noch stärker in der jüngsten Generation zu Erziehungspersonen. Die Bildungsmöglichkeiten für Frauen, die Berufstätigkeit und vielfältigen Angebote zur Weiterbildung führen dazu, dass die Großeltern stärker in der Familienerziehung eingebunden sind. Mit der Übernahme von Erziehungsaufgaben werden sie neben den Eltern zu primären Personen der Familienerziehung. Die Kinder der mittleren und vor allem jüngsten Generation skizzieren Großeltern, von denen sie betreut werden, die mit ihnen spielen und Hausaufgaben erledigen. Die Großväter werden als Vertreter von Familientraditionen erlebt, an denen sie sich, wenn eine positive Bindung besteht, orientieren. Auffällig ist, dass die Großeltern den Prozess der Modernisierung mitgehen. Auf diese Weise bleiben sie attraktive Gesprächspartner für die Enkel.

Kindheit war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eng in den Familienalltag eingewoben. Man kann hier von einer Verdichtung von sozialen Strukturen sprechen: Die Haus- und Lebensgemeinschaft war in vielen Familien auf die agrarische Reproduktion bezogen, und Kinder lernten früh, sich in die zeitlichen Rhythmen des Tages einzufinden und mitzuhelfen. Unterordnung und Religiosität sind Selbstverständlichkeiten kindlichen Lebens. Den Kindern wurde kein eigener Raum und damit keine eigene Zeitlichkeit zugestanden. Sie hatten sich in den Familienalltag, die Notwendigkeiten familialer Reproduktion wie die Mithilfe auf dem Bauern- oder Gutshof einzuflechten. Die kindlichen Räume der Arbeiterschicht waren von Not und spezifischen Freizeitformen gekennzeichnet, während Kinder auf Gutshöfen früh die agrarische Reproduktion miterlebten. Weniger verständlich war ihnen die geschlechtsspezifische Erziehung mit ihren Beschränkungen und Disziplinierungen.

Die Kindergeneration, die um 1945 geboren ist, erfährt wie ihre Elterngeneration eine traditionelle Erziehung. Feste Regeln, Unterordnung, Befehle befolgen, die Wahrheit sagen, Mithilfe im Haushalt sowie Ordnung und Christlichkeit sind kindliche Alltagserfahrungen. Historische Großereignisse wie die Kriegs- und Nachkriegszeit wirken sich auf die Kindheitserfahrungen in der Regel nicht negativ aus, auch wenn von Hunger und Not berichtet wird. Erziehung und Aufwachsen vollziehen sich im Kontext von drei Generationen oder gar der gesamten Verwandtschaft. Die Heranwachsenden der 1945er Generation zeichnen in ihren Kindheitserinnerungen ein Bild von Großfamilie, in denen z. B. Cousinen zu Schwestern werden oder die Tante zur Mutter wird. Hier ist interessant, dass die Nachkriegszeit dazu dient, die alltäglichen Erfahrungen als Normalität zu beschreiben. Auch hat die Kindergeneration um 1945 das kennen gelernt, was Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim für moderne Familien beschreiben. Sie war früh mit Trennungen in der Familie konfrontiert und musste lernen, was Verlassenwerden und Abschiednehmen bedeuten. Auch wenn die Ursachen andere waren und keine modernen Erklärungsmuster zur Verfügung standen, hatte sich diese Kindergeneration mit Trennungen auseinanderzusetzen. Die Nachkriegsgeneration, so geht aus dem Material hervor, deutet diese Erfahrungen im Rahmen eines Ausnahmezustands als Normalfall, während gegenwärtig ganz andere Interpretationsmuster, die der Pluralisierung von Familie und der Auflösung der traditionellen Familienstruktur, zur Verfügung stehen. Die Normalitätskonstruktionen sind somit andere, auch wenn die Strukturen des Verlassenwerdens in beiden Generationen zum Prozess des Aufwachsens gehören. Der Nachkriegszustand erlaubt, unterschiedliche Familienkonstellationen, die nicht dem Standardmodell entsprechen, in positiver Weise als Normalität im Sinne eines ‘"Das war halt so‘" zu erinnern. Auf diese Weise verspüren sie keinen Plausibilitätsdruck.

Kindheit nach 1945 heißt aber in der SBZ bzw. späteren DDR auch, mit einem kindlichen Raum konfrontiert zu sein, der sozialistische Inhalte und eine sozialistische Erziehung zum Ziel hat. Dabei erleben sie, dass die Eltern, die um 1908 - 1929 geborenen sind, an Vorstellungen ihres Sozialmilieus ansetzen und versuchen, sie entsprechend zu beeinflussen. Der Besuch der Oberschule wird von Eltern mit bürgerlichem Hintergrund als selbstverständlich erachtet, auch wenn sie in der Schule Ausgrenzungen erfahren. Während innerhalb der Familie Muster sozialer Segregation weiterhin transportiert werden und die Anforderungen an ihre Kinder in Bezug auf die schulische Laufbahn sowie die Freizeitgestaltung ihrem Herkunftsmilieu entsprechen, versuchen die öffentlichen Institutionen, diese Muster kindlicher Raumgestaltung zu durchbrechen. Dadurch erleben Kinder mit bürgerlichem und christlichem familialen Hintergrund Widersprüche und Ausgrenzungen. Diese werden zu typischen Erfahrungen von Kindheit der um 1945 Geborenen.

Die jüngste Generation, die ihre Kindheit in den siebziger Jahren erlebt, wächst in eigens für sie entwickelten Institutionen auf. Dazu gehören der Kindergarten, die Schule, Freizeitgruppen wie Schwimmen, Volleyball etc., sowie die Pionier- und FDJ-Organisation. Das Ziel der staatlichen Einrichtungen, der Pionierorganisation, die alle Kinder im Alter von sechs bis vierzehn Jahren erfasste, und des schulischen Bildungswesens war die moralisch sittliche Erziehung zur "sozialistischen Persönlichkeit". Der institutionalisierten Kindheit stand im Bereich der Familie eine intime und moderne Erziehung gegenüber. Die Eltern sind Vertrauenspersonen und die eigene Gestaltung der Freizeit ist selbstverständlich. Die jüngste Generation erlebt eine kindbezogene Familienfreizeit und einen großen Grad der Informalisierung. Aber sie werden aus ihrer Sicht auch zu Ordnung, Pünktlichkeit und teilweise Christlichkeit erzogen, auch wenn sie ihren Freizeitinteressen folgen dürfen, wobei die Großeltern nicht nur Bezugs-, sondern auch Erziehungspersonen sind. Zugleich garantierte die institutionelle Einbindung der Heranwachsenden in das sozialistische Bildungs- und Erziehungssystem eine sozialistische Erziehung. Alle Kinder durchliefen in der DDR gemeinsam die Polytechnische Oberschule. Kindheit war nicht beginnendes Bildungsmoratorium. Das Spielen und der kindliche Gemeinschaftsverband konnten ohne schulisches Konkurrenzgebaren und eine frühzeitige Leistungsorientierung in den Vordergrund gestellt werden.

Aber auch bürgerliche Erziehung wird weiterhin in Familien praktiziert, auch wenn sie ganz auf den privaten Raum der Familie verwiesen ist. Bürgerliche Kindheit ist manchmal eng mit christlicher Kindheit verbunden. Dort bilden sich Enklaven, in denen unter dem Mantel der Christlichkeit bürgerliche Werte in einem geschützten Raum transportiert werden. Die Kinder erlernen eine gewisse Widerstandsfähigkeit und Kritikfähigkeit gegenüber dem politischen System. Die Konstruktion eines feindlichen Außen und intimen, geschützten Innen erleichtert die Identifikation mit der Kirche oder der Gemeinde. Freunde werden ebenfalls innerhalb der Gemeinde gewonnen. Die Eltern unterstützen solche Freundschaften. Die Erziehung ist in der Regel fortschrittlich und diskursiv. Praktiziert wird ein Verhandlungshaushalt an der langen Leine, solange sich die Kinder im Rahmen der Gemeinde bewegen.

Insgesamt kann man von einer Konstruktion von Kindheit und kindlichen Räumen sprechen, die normative Muster des Verhaltens und ganz spezifische Angebote des Lernens sowie der Vorstellung von Kindlichkeit enthalten. Kinder setzen sich sowohl mit den normativen Anforderungen als auch den sozialen Räumen auseinander, bilden ein Selbstkonzept aus und erlangen Handlungskompetenz. Sie übernehmen Muster von Kindheit und integrieren sie in ihr Kinderleben. Kindheit bedeutet zugleich immer auch, Erfahrungen mit elterlicher und großelterlicher Erziehung zu sammeln, emotionale Zuwendung oder Kälte und Distanz bzw. soziale Unterstützung oder Vernachlässigung zu erfahren. Es sind Erfahrungen mit familialen Interaktionsmustern und sozialen Machtstrukturen. Fehlt es an emotionaler Nähe und Geborgenheit, übt selbst die dritte Generation Kritik. Die Familie wird als eine komplexe Lebenswelt und als Lernfeld erlebt, in der diese Kinder auf Unterstützung und Fürsorge angewiesen sind. Den Kindern erscheint die Familie als ein Ensemble interagierender Personen, die durch ihre spezifische Struktur das primäre Lernumfeld abgeben. Erziehung hat darin oft die Struktur von Alltagshandlungen. Die Regeln, die ausgehandelt werden, oder die Befehle, denen sie zu folgen haben, sind in die familiale Interaktion als Teil des Ganzen eingebettet. Innerhalb dessen gestaltet sich Erziehung nicht nur als ausbalancierte Interaktion, sondern sie ist durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Bedürfnisse, Interessen und Intentionen immer auch konfliktreich.

Die Familie ist für Kinder ein zentraler Ort erster Erfahrungen und Erlebnisse. Neben der Grundversorgung der Kinder, der Befriedigung elementarer Bedürfnisse wie Ernährung, der emotionalen Zuwendung und der Organisation des kindlichen Alltags "muss die Entwicklung und Entfaltung der Identität und Persönlichkeit des Kindes (Individuation) sowie seine allmähliche Integration in die Gesellschaft durch reflexives Erlernen von Werten, Rollen, Handlungsmustern, Fertigkeiten usw. geleistet werden. Dazu müssen umfangreiche Prozesse der Individuation, Sozialisierung und Enkulturation gewährleistet, Zuständigkeiten festgeschrieben und ihre Einhaltung kontrolliert werden" . Diese Leistungen, die von den Kindern erbracht und von den Erwachsenen unterstützt werden, gehören zu den zentralen Aufgaben und Erfahrungen von Kindheit, Aufwachsen, Erziehung und Familie. Je nach Zeitgeschichte und sozialgeschichtlicher Ausgestaltung von Kindheit finden wir unterschiedliche Akzentuierungen. Die Auflösung der Sozialmilieus, das Ansteigen des Lebensstandards sowie der Wandel von einer frühindustriellen Gesellschaftsstruktur mit Elementen bäuerlicher Reproduktionsstruktur hin zu einer teilmodernisierten Gesellschaftsstruktur der DDR wirken auf die Gestaltung der kindlichen Räume. Die familialen Erziehungskonzepte, der Wandel vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt an der kurzen Leine sind Teil dieses sozialgeschichtlichen Wandels. Die Konstitution von Kindheitsräumen kann nicht losgelöst davon betrachtet werden.

Geht man davon aus, dass Kindheitsräume sozial konstruiert sind und entsprechende soziale Normierungen und Typisierungen enthalten, und betrachtet man vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Verständnisses von Kindheit die Erfahrungen und Erinnerungen der älteren Generationen an ihre Kindheit, wird klar, dass sie sich mit unterschiedlichen Bildern von Kindheit auseinander zu setzen haben. Die älteste Generation sieht sich gezwungen, ihre Erfahrungen von Kindheit mit einem modernen Bild von Kindheit zu konfrontieren und sich mit der Andersartigkeit ihrer Kindheitserlebnisse auseinander zu setzen. Die Muster des traditionalen Befehlshaushalts, die Unterordnung und das Befehlen gehören einer zeitgeschichtlichen Vergangenheit an. Eine solche Erziehung wird heute kaum noch praktiziert. Aber auch die Räume von Kindheit sind andere geworden. Traditionelle Muster von Kindheit, wie sie die Kindergeneration der 1908 - 1929 Geborenen erfahren hat, haben für die Gegenwart ihre Legitimation verloren. Ihre Erinnerungen lassen sich nur schwer oder gar nicht in gegenwärtige soziale Typisierungen und das heutige Verständnis von Kindheit einfügen. Selbst in der Kindheitsforschung werden Kinder nicht mehr wie noch in der amtlichen Sozialberichterstattung von 1989 als zukünftige Erwachsene, als kollektives, zukünftiges Humankapital der Gesellschaft, als Anhängsel von Familien, als Element der Lebensqualität der Eltern betrachtet. Vielmehr ist auch hier Kindheit eine eigenständige Lebensphase. Befehlen und Gehorchen werden gegenwärtig mit Vernachlässigung und menschlicher Härte, wenn nicht sogar Grausamkeit assoziiert. Die älteste Generation betont häufig, dass sie trotz Härte und Strenge Liebe und Fürsorge sowie genügend soziale Unterstützung erfahren und sich nicht vernachlässigt gefühlt hat. In den Erzählungen werden an manchen Stellen Naturerlebnisse eingeflochten. Das Spielen im Freien, das Herumstrolchen in Wäldern und die Weite der Natur stehen als Synonym für eine schöne, glückliche und unschuldige Kindheit. Diese Bilder werden vor dem Hintergrund einer modernen Kindheit gezeichnet, wobei ein Gegensatz zwischen "echter", bzw. "natürlicher" Kindheit versus "künstlicher" Kindheit genannt wird. Naturerleben als Sinnbild von wahrer Kindheit wird mit den Elementen des heutigen modernen, zivilisatorischen Lebens - d. h. dem Umgang mit Technik, mit dem Computer, mit dem enorm gewachsenen Verkehr - konfrontiert, die eine traditionale naturverbundene Kindheit verunmöglichten. Solche Argumentationsfiguren legen nahe, Elemente von Kindheit, die das Befehlen und Unterordnen in der familialen Reproduktion betreffen, in den Hintergrund rücken zu lassen. Es wird aber auch explizit auf moderne Kindheit Bezug genommen und die Erziehung zur Sauberkeit, Ordnung, Wahrheitsliebe und zu christlichem Glauben positiv hervorgehoben. Aber auch hier stehen die Kindheitserlebnisse im Kontext gegenwärtiger Konstruktionen von Kindheit.

Die Möglichkeiten und Räume des Aufwachsens für Kinder sowie die Bilder von Kindheit sind insgesamt eng verwoben mit der jeweiligen sozialen Struktur. Bilder des Selbst entstehen im Kontext der intergenerationalen familialen Interaktionen über mehrere Generationen in Auseinandersetzung mit sozialgesellschaftlichen Ereignissen und dementsprechenden Erfahrungen. Soziale Strukturen, familiale Erziehungspraxis, Kindheitsräume und die Konstitution des Selbst, die Handlungskompetenzen und Lebensvorstellungen sind aufeinander bezogen. Die Subjekte produzieren nicht nur ihre Wirklichkeit, sondern die Bildung des Selbst ist auch beeinflusst von sozialen Interaktionsmustern und Strukturen. Über Erziehungskonzepte werden im intergenerationalen Austausch, in den Eltern und Großeltern involviert sind, Bilder von Kindheit vermittelt, die für Kinder konkret erfahrbar sind; in der Auseinandersetzung mit ihnen entwickeln sie Handlungskompetenz, Kreativität und Eigenständigkeit.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Georg H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1991.

  2. Die Auswahl der Generationen richtet sich nach historischen Großereignissen, wobei die mittlere Generation den Schnittpunkt bildet. Bei dieser Generation ist ausschlaggebend, dass sie nicht im Faschismus groß geworden ist und keine HJ- bzw. BDM-Sozialisation erfahren hat. Sie wächst direkt in das Gesellschaftssystem der DDR hinein. Ausgehend von dieser Generation ergeben sich die beiden anderen Generationen. Um ein vergleichbares Datenmaterial zu erhalten, wurden Familien innerhalb des Landes Sachsen-Anhalt im Saalkreis untersucht. Als Erhebungs"methode gelangt das narrative Verfahren sowie ein Leitfadeninterview zur Anwendung. Vgl. Jutta Ecarius, Familienerziehung im historischen Wandel. Eine qualitative Studie über Erziehung und Erziehungserfahrungen von drei Generationen, Opladen 2002.

  3. Vgl. Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie, 7 (1928) 2, S. 157 - 185; 3, S. 309 - 330.

  4. Vgl. Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Frankfurt/M. 1976.

  5. Vgl. Jutta Ecarius, Familie zwischen Tradierung und Wandel. Generationsbeziehung und familiale Aufträge in drei Generationen, in: Jutta Allmendinger (Hrsg.), Gute Gesellschaft? Verhandlungen des 30. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Köln 2000, Opladen 2001, S. 558 - 572.

  6. Vgl. G. H. Mead (Anm. 1).

  7. Vgl. Klaus Mollenhauer/Micha Brumlik/Harald Wudtke, Die Familienerziehung, München 1975.

  8. Vgl. Andreas Lange/Wolfgang Lauterbach, Aufwachsen mit oder ohne Großeltern? Die gesellschaftliche Relevanz multilokaler Mehrgenerationsfamilien, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie und Erziehungssoziologie, 18 (1998) 3, S. 227 - 249.

  9. Vgl. Norbert F. Schneider, Familie und private Lebensführung in West- und Ostdeutschland. Eine vergleichende Analyse des Familienlebens 1970 - 1992, Stuttgart 1994.

  10. Vgl. Kurt Lüscher/B. Pajung-Bilger, Forcierte Ambivalenzen. Ehescheidung als Herausforderung an die Generationenbeziehungen unter Erwachsenen, Konstanz 1998.

  11. Vgl. Ingeborg Weber-Kellermann, Kindheit in der Stadt - Kindheit auf dem Lande, in: Christa Berg (Hrsg.), Kinderwelten, Frankfurt/M. 1991, S. 103 - 131.

  12. Vgl. Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten, Frankfurt/M. 1994.

  13. Vgl. Jutta Ecarius, Erziehung in einer Institution. Drei Generationen in Familien, in: Erhart Liebau/Doris Schuhmacher-Chilla/Christoph Wulf (Hrsg.), Anthropologie pädagogischer Institutionen, Weinheim 2001, S. 309 - 332.

  14. Vgl. Imbke Behnken/Jürgen Zinnecker, Kindheit und Biographie, in: Ralf Bohnsack/Winfried Marotzki (Hrsg.), Biographieforschung und Kulturanalyse, Opladen 1998, S. 152 - 167.

  15. Vgl. K. Mollenhauer/M. Brumlik/H. Wudtke (Anm. 7).

  16. Vgl. Petra Buhr/Angelika Engelbert, Childhood in the Federal Republic of Germany. Trends and Facts. Bielefeld, Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik der Universität Bielefeld, 1989.

  17. Vgl. R. Berger-Schmitt, Arbeitsteilung und subjektives Wohlbefinden von Ehepartnern, in: W. Glatzer/R. Berger-Schmitt (Hrsg.), Haushaltsproduktion und Netzwerkhilfe. Frankfurt/M.-New York 1986, S. 141 - 174.

  18. Vgl. I. Behnken/J. Zinnecker (Anm. 14).

  19. Vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1996.

PD Dr. phil., geb. 1959; Vertretungsprofessur für Pädagogik der frühen Kindheit an der Universität Landau, Institut für Grundschulpädagogik.

Anschrift: Universität Landau, Institut für Grundschulpädagogik, August-Croissant-Straße 5, 76829 Landau.
E-Mail: ecarius@uni-landau.de

Veröffentlichungen u. a.: Pädagogik und Generation. Ein pädagogischer Generationenbegriff für Familie und Schule, in: Rolf T. Kramer/Werner Helsper/Susan Busse (Hrsg.), Generationsbeziehungen in Familie und Schule, Opladen 2001; Familienerziehung im historischen Wandel, Opladen 2002.