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Wie tickt Österreich? | Österreich | bpb.de

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Wie tickt Österreich? Eine Spurensuche in fünf Begegnungen - Essay

Saskia Blatakes

/ 14 Minuten zu lesen

Österreich driftet nach Rechtsaußen, und der Rest Europas wundert sich. Aber es gibt auch Gegenstimmen und eine Hauptstadt, die anders sein will. Wie tickt dieses Land, in dem man die politischen Probleme unserer Zeit wie in einem Vergrößerungsspiegel beobachten kann?

Österreich ist schön. Österreich ist klein. Österreich ist rechts. Seit Dezember 2017 hat das Land eine konservativ-rechtspopulistische Regierung. Die Grünen sind aus dem Parlament verschwunden. Innenminister Herbert Kickl spricht davon, "Asylbewerber konzentriert an einem Ort halten" zu wollen, und Bundeskanzler Sebastian Kurz träumt von einer neuen "Achse der Willigen" aus Wien, Rom und Berlin in Sachen Flüchtlingspolitik. Seine Grenze nach rechts sei allein das Strafrecht, hat er einmal gesagt. Bei der diesjährigen österreichischen EU-Ratspräsidentschaft versucht er, das Thema Migration als Priorität zu setzen. Was ist da los im Alpenidyll? Österreich driftet nach Rechtsaußen, und der Rest Europas wundert sich. Für viele gilt das Land längst als europäisches Sorgenkind wie sonst nur Polen oder Ungarn.

Aber auch in Österreich gibt es Gegenstimmen, eine Hauptstadt, die der neuen Bundesregierung Paroli bietet, und trotz der derzeitigen Kürzungen immer noch einen Sozialstaat, der das Land zu einer Insel der Seligen in Sachen Absicherung macht. Wie tickt dieses Land, in dem man die politischen Probleme unserer Zeit – den Aufstieg der Rechtspopulisten, die Krise der Demokratie und die Schwäche der großen, alten Parteien – wie in einem Vergrößerungsspiegel beobachten kann? Einem Land nähert man sich am besten über seine Bewohnerinnen und Bewohner: eine Spurensuche in fünf Begegnungen.

Gerti und der Wiener Grant

Es beginnt mit Gerti. Mit ihr wohnte ich bis vor Kurzem Tür an Tür in einem dieser schönen, leicht heruntergekommenen Wiener Altbauten. Sie ist der Ausgangspunkt bei dem Versuch, einem Phänomen auf den Grund zu gehen, das man gerne pathetisch als "Wiener Seele" bezeichnet. Ich lernte Gerti am Tag unseres Einzugs kennen. Es ist in der Regel nicht gerade leise, wenn man versucht, Möbel und Kisten in den ersten Stock zu wuchten. In Wien trägt der erste Stock übrigens den schönen Namen Mezzanin. Der zweite Stock heißt dann meistens dementsprechend erster Stock, was bei Ausländern oft zu Verwirrungen führt. Es geht aber noch besser, denn in manchen Gründerzeithäusern gibt es mit Souterrain, Parterre, Hochparterre und Mezzanin ganze vier Stockwerke unter dem ersten – aber das ist eine andere Geschichte.

Es dauerte nicht lange, bis es an meiner neuen Wohnungstür zum ersten Mal klingelt. Klingeln heißt in Wien anläuten.

Gerti läutete also an. Vor mir stand eine untersetzte, ältere Dame mit hochrotem Kopf. "Heast! Des is a Frechheit!" Es folgte eine Tirade über Lärm und Staub und überhaupt, zu wie vielen wollen wir hier überhaupt hausen?

Ich entschuldigte mich und versprach ihr, dass sich der Lärm spätestens am Abend erledigt haben sollte. Außerdem versicherte ich ihr, dass wir nur zu dritt einziehen und es sich bei dem Rest der Menschen um befreundete Umzugshelfer handelt, die ganz bestimmt nicht vorhatten, bei uns zu hausen. Doch besänftigen konnte ich sie nicht. "Na, servas!" schimpfte sie nur, drehte sich um und schloss geräuschvoll ihre Wohnungstür hinter sich.

Noch zwei Mal sollte sie an diesem Tag bei uns anläuten. Beim dritten Mal stand meine kleine Tochter neben mir, sie war damals gerade ein Jahr alt geworden. Gertis grantige Gesichtszüge entspannten sich plötzlich, ihr rötlicher Teint schien schlagartig um ein paar Nuancen heller geworden zu sein. "Jö! Pupperl!", sagte sie schwärmerisch und lächelte meine Tochter warmherzig an. Der Beginn unserer Bekanntschaft.

Was ich damals noch nicht wusste: Sich zu beklagen und zu schimpfen – hier in Österreich würde man "sudern und granteln" sagen –, gehört in Wien nicht nur zum ganz normalen Umgangston, nein, diese Disziplinen sind für Wienerinnen und Wiener der Königsweg der ersten Kontaktaufnahme.

Wien rangiert in einer Liste der unfreundlichsten Weltstädte auf Platz zwei, gleich hinter Paris. Und trotzdem war Wien vielleicht noch nie so beliebt wie heute. Das deutsche Feuilleton feiert die Stadt seit einiger Zeit regelmäßig in Portraits und Sonderbeilagen, Musik- und Kunstszene machen selbst Berliner neidisch. Doch so attraktiv die Donaumetropole auf Besucher wirkt, so wenig steht die Wiener Mentalität für Gastfreundschaft und ein Lächeln.

Für Touristen findet der erste Kontakt mit dem ganz speziellen Wiener Charme meistens im Kaffeehaus statt. Ohne zu grüßen fragt der Kellner, der in Wien respektvoll Herr Ober genannt werden möchte, mit griesgrämiger Miene, was man möchte. Die Antwort kann nur falsch ausfallen, vor allem wenn man mit den Wiener Kaffeehausspezialitäten – wie Melange, kleiner Brauner oder Einspänner – nicht vertraut ist.

Egal wie sehr sich die Wienbesucher auch bemühen, der Herr Ober wird ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit zu verstehen geben, dass sie auf ganzer Linie versagt haben. Menschen aus Nationen, in denen zurückhaltende Freundlichkeit und Höflichkeit als Bürgerpflicht gelten, sind nicht selten schockiert. "Wir wollten doch nur einen Kaffee bestellen", meinten Freunde aus Portugal – es handelt sich um außerordentlich liebe und zurückhaltende Menschen – jüngst verschreckt. Der werte Herr Ober des Wiener Traditions-Kaffeehauses hätte sie erst ungeduldig angeschnauzt und sei dann unverrichteter Dinge abgerauscht. Gut möglich, dass er ihnen noch ein beherztes "Schleicht’s Euch!" hinterhergerufen hat.

Auch meine Anfänge in Wien waren von harten Konfrontationen mit dem speziellen Wiener Grant geprägt: Es war mein erster Frühling in Wien, und ich verbrachte einen sonnigen Samstagnachmittag im Stadtpark – einer der vielen wunderschönen Wiener Grünoasen. Ruhige Stimmung, Menschen auf Picknickdecken, irgendjemand spielte leise Gitarre. "Sie deppertes Oaschloch, Sie!", kreischt plötzlich eine elegant gekleidete Dame mit Hund einen ebenfalls distinguiert wirkenden Herren, ebenfalls mit Hund, an.

So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt – in keiner anderen Stadt der Welt: Der plötzliche Ausbruch der Wut, das laute Anschnauzen und – vielleicht am verblüffendsten – das Nebeneinander des derben Fluchs und des formvollendeten Siezens. Die anderen Parkbesucher zeigten sich unbeeindruckt. Mein erstes Resümee: Die öffentliche Beleidigung schien hier irgendwie normal zu sein.

Szenen wie diese sollten sich in meinem neuen Wiener Alltag noch oft wiederholen: unterwegs auf Wiens Straßen, in Wiens Ämtern und – deutlich gehäuft – in der Straßenbahn, die in Wien Bim heißt. Nirgendwo sonst eskaliert der latent brodelnde Grant so schnell in unverhohlenen Hass.

Persönlich scheinen das die Wiener nicht zu nehmen, und zu viel Bedeutung sollte man dieser Angewohnheit nicht beimessen. Gerti zum Beispiel wurde nach unserem cholerischen Start eine sehr liebe und zuvorkommende Nachbarin, die mich auch heute noch anruft und meine Tochter mit Geschenken überhäuft. Es ist eben scheu und versteckt sich hinter einer rauen Schale – das vielbesungene "goldene Wiener Herz."

Eine Piefkinesin und die Phantomschmerzen

Die zweite Lektion, die nach meiner Ankunft in Österreich auf mich wartete, war eine historische. Sie ereignete sich an einem Abend zu Anfang meines Studiums, ich saß mit ein paar Kommilitonen in einem Beisl, wie die kleinen Kneipen in Wien heißen. Ein Kollege erzählte gerade über einen jener Zufälle, bei denen sich Freunde wiederum über drei Ecken kennen und sich der Kreis der Zufallsbekanntschaften auf wundersame Weise schließt. "Tja, Österreich ist eben klein", kommentierte ich ohne Hintergedanken. Ich hätte ebenso sagen können: "München ist klein" oder "Europa ist klein".

Oh, wie wurde ich eines Besseren belehrt. Ein leicht alkoholisierter Mann am Nebentisch herrschte mich an: "So klein auch wieder nicht. Ihr depperten Piefkinesen immer." Ohne es zu wissen, hatte mich der beschwipste Beislbesucher gleich in zweifacher Hinsicht aufgeklärt: erstens, dass die Größe Österreichs nicht thematisiert werden durfte – schon gar nicht von einer Person aus einem anderen, größeren europäischen Land und erst recht nicht von einer Deutschen. Das habe halt mit den "Phantomschmerzen" einer einst großen Nation zu tun, erklärten mir meine österreichischen Kommilitonen lässig.

Zweitens, dass die Deutschen hier gern Piefke oder Piefkinesen genannt werden – eine Anspielung auf die österreichisch-preußische Geschichte. Schließlich siegten die als besonders korrekt und dienstbeflissen geltenden Preußen 1866 im preußisch-österreichischen Krieg über Österreich. Auf jeden Fall lernt man als Ausländerin in Wien ziemlich schnell, dass es hier an der Tagesordnung ist, dass sich wildfremde Menschen ankeifen und mit üblen Schimpfwörtern titulieren.

Aber woher kommt er eigentlich, dieser legendäre Wiener Grant? Hat er etwas mit der österreichischen Geschichte zu tun? Damit, dass Österreich einst ein riesiger Vielvölkerstaat war und jetzt, nun ja, kleiner ist? Diese Frage hat mich in den eineinhalb Jahrzehnten seit meiner Einwanderung sehr beschäftigt. Meine Haltung zur Wiener Mentalität hat dabei gewisse Phasen durchlaufen: Auf anfängliches Staunen folgte das störrische Abstreiten und Verteidigen, vor allem ausländischen Besuchern gegenüber. So viel unfreundlicher seien die Wiener doch gar nicht und außerdem sei der Wiener Schmäh – dieser schwarze Humor par excellence – die beste Entschädigung für holprige Erstkontakte.

Doch zu guter Letzt musste selbst ich als Wahl-Wienerin zugeben, dass schon etwas dran ist am besonderen Grant, den ich seitdem rational zu analysieren versuche. Doch alle Erklärungen, die ich bisher gefunden habe, sind krude und unbefriedigend.

Die erste und unaufgeregteste: Wien ist nun einmal eine große Stadt, und da herrscht eben ein rauerer Ton. Die Anonymität führt dazu, dass sich die Menschen nicht mit Samthandschuhen anfassen, da sie nicht fürchten müssen, sich schon bald wiederzusehen, oder voneinander abhängig zu sein, wie das in eng gestrickten Dorfgesellschaften der Fall ist. Aber wieso sind die Menschen in Hamburg oder Graz dann so viel besser gelaunt?

Die zweite These argumentiert historisch: Die Wiener Unfreundlichkeit stamme aus der Zeit des ehemaligen Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn und damit aus einer Phase der Wiener Geschichte, in der sich die aus allen Himmelsrichtungen stammenden Neo- und Alt-Wiener schon rein sprachlich nicht verstanden und auch deshalb eher misstrauisch gegenübertraten. Aber wieso sind dann andere multikulturelle Schmelztiegel, wie zum Beispiel das sonnige Kalifornien, nicht gerade für ihre Misanthropie berühmt?

Eine dritte, politisch unkorrekte These besagt, es sei der Einfluss des Osteuropäisch-Balkanesischen. Dort, "im Osten", sei der Umgangston nun einmal rauer und das habe im Lauf der Jahrhunderte eben auf die Wiener abgefärbt. Den Grund des autochthonen Grants auf die Nachbarn abzuschieben, erscheint mir allerdings die dürftigste Erklärung von allen zu sein.

Und wie sehen es die Wiener und Wienerinnen selbst? Als ich mit einer hier geborenen Freundin darüber spreche, beginnt sie zu strahlen: "Ich liebe den Wiener Grant. Hier muss man nicht gespielt freundlich sein wie anderswo. Wenn ich schlechte Laune habe, kann ich das einfach zeigen und muss noch nicht einmal grüßen, wenn ich keine Lust dazu habe." In einer Zeit des Zwangs zur Positivität und des organisierten Optimismus kann ich dieser Haltung schon einiges abgewinnen.

Vielleicht ist es einfach so: Die Wiener nehmen andere und vor allem sich selbst so, wie sie nun einmal sind. Mit all ihren Launen und Befindlichkeiten. Die Wiener Seele darf granteln, wenn ihr danach ist. Und das passt doch zu jener Stadt, in der Sigmund Freud die Psychoanalyse erfand.

Peter und das Stadt-Land-Gefälle

In den Sozialwissenschaften gibt es eine Theorie, ohne die kein Erstsemester auskommt: die Cleavage-Theorie. Der norwegische Politikwissenschaftler und Soziologe Stein Rokkan und sein amerikanischer Kollege Seymour Martin Lipset beschrieben sie 1967 erstmals in einem Aufsatz, und sie hat nichts mit großzügig ausgeschnittenen Cocktail-Kleidern zu tun, sondern beschreibt, entlang welcher Konflikte sich Parteien formieren. Ihr zufolge gibt es vier große Gegensätze in der Politik: den Graben zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Kirche und Staat, zwischen Stadt und Land und jenen zwischen Zentrum und Peripherie.

Ich behaupte: Nirgendwo sonst kann man die letzten beiden Dichotomien besser beobachten als in Österreich. "Wien ist anders" lautet der Werbeslogan der österreichischen Hauptstadt, und er ist Programm. In Wien werden oft politische Entscheidungen getroffen, die im Rest der Republik für Unverständnis sorgen. Als während der Flüchtlingskrise in Österreich Grenzzäune und Obergrenzen diskutiert wurden, beschwor die rot-grüne Wiener Stadtregierung den "Weg der Menschlichkeit" und nahm mehr Flüchtlinge auf, als es die Quote vorschrieb.

In Wien wird traditionell anders gewählt. Bereits in der Zwischenkriegszeit etabliert sich die Donaumetropole als "Rotes Wien": Im Rest des Landes herrscht die Christlichsoziale Partei, in Wien regiert die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs (sic), die groß angelegte soziale Wohnbauprojekte startet und Reformen in der Bildungs- und Sozialpolitik lanciert. Weil Wien seit 1945 bis heute durchgehend von Bürgermeistern regiert wird, die der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) angehören, verwenden politische Gegner den Titel "Rotes Wien" heute auch oft als polemische Abwertung der sozialdemokratischen Dominanz.

Auch bei den letzten Wahlen zeigte sich das traditionelle Stadt-Land-Gefälle deutlicher denn je: Während das Land nach Rechts(außen) driftete, blieb in Wien Rot-Grün an der Macht. In anderen Ländern steht die Bevölkerung der jeweiligen Hauptstadt für gewöhnlich indifferent bis bewundernd gegenüber. In Österreich blickt man dagegen skeptisch auf den "Wasserkopf Wien". Die Bezeichnung stammt aus der Zeit nach dem Ende der Donaumonarchie, als das Zentrum des riesigen Reiches zur Hauptstadt eines Kleinstaates mutierte. Mit einer überproportionalen Konzentration der Bevölkerung und – so argumentieren die Landeschefs der Bundesländer bis heute – einem zu großen Verbrauch an Ressourcen.

Doch das Misstrauen beruht auf Gegenseitigkeit: Mein guter Freund Peter, ein eingefleischter, in Hietzing geborener Wiener, der seine Stadt nie verlassen würde und sie ebenso in den Himmel lobt wie scharf kritisiert, sagte mir einmal: "Ich empfinde mich nicht als Österreicher. Wenn ich die Wiener Stadtgrenze verlasse, fühle ich mich wie in einem fremden Land."

Die Natur ist ihm, dem überzeugten Städter und verkappten Hipster, suspekt, die Menschen auf dem Land wirken auf ihn exotisch. Leider nicht im positiven Sinn: Er hält sie für rückständig und hinterwäldlerisch. Dass es immer mehr Wienerinnen und Wiener – auch wegen der steigenden Wohnkosten – ins Umland zieht, kann er nicht verstehen. Die Reihenhaussiedlungen, die rund im Wien entstehen, nennt er verächtlich "Legebatterien" und sitzt lieber auf seinem kleinen Balkon, von dem aus er auf einen dieser typischen, taubenverdreckten Innenhöfe blickt. "Die Provinz", wie er den Rest des Landes verächtlich nennt, steht für ihn für Männerbünde, Sexismus und Rechtsradikalismus.

Rosi und die Angst

In einer Gaststätte im nordwestlich von Wien gelegenen Waldviertel unterhielt ich mich nach der jüngsten Wahl mit Wirtin Rosi. Woher ich komme, wollte sie wissen. "Aus Wien? Hast Du keine Angst?" Sie stellte das Tablett ab und sah mich verschreckt an. Nach Wien traue sie sich schon seit Jahren nicht mehr: zu viel Kriminalität, zu viele Ausländer. Mein Argument, dass Österreich eines der sichersten Länder und Wien eine der sichersten Städte der Welt sei, wischte sie vom Tisch. "Alles wird immer schlimmer", meinte sie. Ihre größte Hoffnung sei nun, dass "einmal richtig aufgeräumt wird".

Auf dem Tresen lag die "Kronen Zeitung", wichtigste Meinungsmacherin des Landes. In Österreich spielen die Boulevardmedien eine noch größere Rolle als in Deutschland. Neben der "Kronen Zeitung" – der österreichischen Version der "Bild"-Zeitung – mischt seit 2006 die noch radikalere Boulevardzeitung "Österreich" in der Medienlandschaft und damit in der Politik kräftig mit. Bei ihr handelt es sich gar um ein Gratisblatt, was die besonders hohe Auflage erklärt. Macher Wolfgang Fellner gilt in Journalistenkreisen als eine Art "Pate" im Coppolaschen Sinne. Beide Blätter positionierten sich im Wahlkampf deutlich für die Spitzenkandidaten der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) und machten die Flüchtlingspolitik zum Thema Nummer Eins.

Die Hetze wirkt, das haben die letzten beiden großen Wahlen – die Bundespräsidentenwahl 2016 und die Nationalratswahl 2017 – gezeigt. Die Angst dominiert bei Rosi und vielen anderen im Land. Sie deshalb alle pauschal als "Nazis" zu bezeichnen, wäre falsch. Doch sie ist wieder da, die Sehnsucht nach dem "starken Mann". Der berühmte österreichische Psychiater Erwin Ringel schrieb in seinem Standardwerk "Die österreichische Seele" schon 1984: "Der Österreicher ist durch nichts so leicht zu fangen, als wenn man ihm sagt: ‚Du bist ein ungerecht Behandelter, ein Getretener und Unterdrückter, ich aber werde kommen und dich aus dieser Not und aus diesem Elend befreien.‘" Den Grund sah Ringel in der autoritären Erziehung, die auf Gehorsam, Drill und Unterdrückung setzt.

Zwar hat auch Österreich begonnen, die Zeit des Nationalsozialismus aufzuarbeiten – Entschädigungen wurden gezahlt, Forschung betrieben und Gedenkstätten und Mahnmale errichtet. Doch bis heute wirkt die "Opferthese" nach, jene Vorstellung von Österreich als erstem Opfer Nazi-Deutschlands. In manchen Schulen, erzählen mir österreichische Freunde, wurde die Nazizeit nicht einmal im Geschichtsunterricht durchgenommen. 80 Jahre sind vergangen seit dem "Anschluss", doch das schwere, braune Erbe hat Österreich noch längst nicht abgeschüttelt.

Ildikó und die geopolitische Lage

Ildikó hat andere Sorgen. Jeden Morgen steigt sie im ungarischen Sopron in den Zug und pendelt nach Wien. Seitdem ihr Mann sie von einem Tag auf den anderen verlassen hat, kann sie sich ihre Wiener Wohnung nicht mehr leisten. Sie musste zu ihrer Schwester ziehen, zurück in ihre Heimat. Nach Wien kommt sie trotzdem jeden Tag. Sie putzt in den weitläufigen Häusern der noblen nördlichen Bezirke Währing und Grinzing.

Die Fahrt ist kurz, trotzdem liegen immer noch Welten zwischen dem "westlichen" Österreich und dem "östlichen" Ungarn. So wie Ildikó pendeln täglich Tausende aus den östlichen Nachbarländern, um in Österreich zu arbeiten – als Pflege- und Putzkräfte, auf dem Bau, als unterbezahlte Erntehelfer. Und die Österreicher pendeln in den Osten – wegen der billigeren Arztleistungen, des Biers zum Spottpreis, manche auch als Sextouristen.

Lange Zeit lag Österreich als letzte Station vor dem Eisernen Vorhang. Viele Österreicherinnen und Österreicher können sich noch gut daran erinnern, wie nur wenige Kilometer entfernt eine unüberwindbare Grenze Europa in zwei Welten spaltete. So auch an der österreichisch-ungarischen Grenze in Ildikós Heimat Sopron. Bevor hier im August Hunderte von DDR-Bürgerinnen und Bürgern das Tor zum Westen durchschritten, hatten am 27. Juni 1989 die damaligen Außenminister Ungarns und Österreichs, Gyula Horn und Alois Mock, in einer symbolischen Zeremonie den Grenzzaun durchtrennt. Zelebriert wurde der Abbau der ungarischen Überwachungsanlagen, der – mit Wissen des sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow – bereits im Mai begonnen hatten.

Auch heute hat Österreich wieder eine Randlage in zweifacher Hinsicht inne: als Brückenbauer zwischen den Visegrád- und den Balkan-Staaten der EU und als politische Kraft zwischen Ungarn und Deutschland und damit zwei grundverschiedenen Lagern in der europäischen Flüchtlingspolitik. Während sich SPÖ-Kanzler Christian Kern eher an der deutschen Linie orientierte, positioniert sich Kurz auf Seiten jener Staaten, die für eine restriktivere Politik stehen.

Vielen Österreichern scheint diese Haltung zu gefallen, die stärker auf nationale oder bilaterale denn gesamteuropäische Lösungen setzt. Österreich ist eines der EU-skeptischsten Länder überhaupt. Und mit der FPÖ regiert eine eurokritische Partei mit, die in Gestalt von Vizekanzler Strache zwar jüngst verkündete: "Wir bekennen uns als österreichische Patrioten zum europäischen Friedensprojekt" – aber gleich nachschob: "Zugleich werden wir weiter Kritik an Fehlentwicklungen in der EU üben".

Olle deppert

Vor einem Schwarz-Weiß-Denken, wie es die Filterblasen der sozialen Medien nahelegen, muss man sich heute vielleicht mehr denn je hüten. Wien ist nicht der einzige Hort eines modernen, aufgeschlossenen Österreichs, wie es sich Peter, der überzeugte Städter gerne vorstellt. Bei weitem nicht alle Österreicherinnen und Österreicher lassen sich von ihren Ängsten dominieren wie Rosi. Meine ehemalige Nachbarin Gerti, die herzliche Wiener Misanthropin, schimpft oft leidenschaftlich auf "die Ausländer" – oft habe ich mit ihr darüber diskutiert. Aber richtig verächtlich äußert sie sich über einen ganz bestimmten Menschenschlag. "Wir Wiener san doch olle deppert", meinte sie vor Kurzem, als wir bei einem Glaserl Himbeersoda in ihrem Nippes-geschmückten Wohnzimmer saßen und über den rauen Umgangston in der Hauptstadt sprachen. Es ist dieser Humor, der sich selbst am wenigsten ernst nimmt, der die österreichische Mentalität trotz aller Altlasten und neuen Sorgen immer noch sympathisch macht.

lebt als freie Journalistin in Wien.