Der lange Schatten der 8er Jahre. Kritische Geschichtsbetrachtung und Demokratiebewusstsein - Essay
Nach Étienne François und Hagen Schulze sind Erinnerungsorte, wie sie der Französische Historiker Pierre Nora als "Lieux de Mémoire" entwickelt hat, "langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität".[1] Die sogenannten 8er Jahre in Österreich – 1848 (Revolution), 1918 (Republikgründung), 1938 ("Anschluss"), 1968 (Prager Frühling beziehungsweise 68er-Bewegung) – sind Schlüsseljahre der österreichischen Demokratiegeschichte. Sie veranschaulichen die Definition der "Erinnerungsorte", wobei deutlich wird, dass diese wie auch das kollektive Gedächtnis selbst immer Wandlungen unterworfen sind beziehungsweise im Laufe von Generationen verschwinden können. Zu diesen Topoi gehören beispielsweise zentrale historische Schlüsseljahre und Ereignisse oder in der jeweiligen historischen, nationalen Diskussion zentrale Begriffe, Feste, Rituale, Persönlichkeiten oder Mythen. Im Folgenden werde ich die genannten Erinnerungsorte der 8er Jahre thematisieren, die die Erinnerung an die Geschichte der parlamentarischen Demokratie reflektieren, punktuell mit vergleichbaren kollektiven Erinnerungsdebatten in Ungarn in Beziehung setzen und am Ende begründen, warum die Beschäftigung mit diesen Daten von Wert für die Demokratie ist.1848 – ein polarisierender, vergessener Erinnerungsort
Als der damalige Kulturminister Josef Ostermayer zu Beginn der Debatte um ein Haus der Geschichte Österreich in der Neuen Burg im Februar 2015 "1848" als einen möglichen Beginn für die museale Umsetzung dieses Museumprojekts vorgeschlagen hatte, gab es Aufregung bei einigen der Österreichischen Volkspartei nahestehenden KommentatorInnen, die meinten, hier würde eine Art "sozialistische Revolution" ins Zentrum des Hauses der Geschichte gestellt werden.Tatsächlich hatte die Sozialdemokratie die eigentlich bürgerliche Revolution 1848 Ende des 19. Jahrhundert (bis 1933) zu einer sozialistischen umcodiert und auch große Feiern für die "Märzgefallenen" organisiert, die zu Machtdemonstrationen, vergleichbar mit dem 1. Mai, wurden.[2] Schon 1895 sah sich die Sozialdemokratie in Cisleithanien als Nachfolgerin des liberalen Bürgertums, das diese Revolution nicht mehr feierte, da der Liberalismus als politische Kraft bereits fast wieder verschwunden war. Ab 1888 wurde nicht mehr der Obelisk auf der Schmelz, sondern der neue Zentralfriedhof zum Treffpunkt der Gedenkfeiern, nachdem der Friedhof auf der Schmelz aufgelöst und die 35 Märzgefallenen exhumiert worden waren. An die Niederschlagung der Wiener Oktoberrevolution 1848 mit 3000 bis 4000 Toten, 70 in Österreich vollstreckten Todesurteilen und 120 Exekutionen in Ungarn wurde nur indirekt erinnert. Nach den Märzereignissen 1848 schien sich ja die bürgerliche Revolution durchgesetzt zu haben, die Niederlage war scheinbar weniger zur symbolischen Inszenierung geeignet.
Nach 1945 wurde diese konstruierte Parteitradition der Sozialdemokratie nur von dem kommunistischen Vordenker Ernst Fischer, der ursprünglich Sozialdemokrat war, in einer Broschüre wieder aufgenommen, die nun im Zeichen des Klassenkampfes und des Nationalitätenkonflikts stand. Der Sozialdemokratischen Partei Österreichs hingegen waren die großdeutschen Traditionen, die mit 1848 und der Frankfurter Paulskirche verbunden waren, nicht mehr genehm, da der "Anschluss" an Deutschland als politische Doktrin zugunsten der Akzeptanz eines kleinen Österreichs aufgegeben worden war.
Heute ist 1848 ein vergessener Erinnerungsort. Der Jurist und Politikwissenschaftler Manfried Welan schreibt zu Recht in diesem Zusammenhang vom Fehlen eines Revolutionspatriotismus, der letztlich das Manko erkläre, warum es in Österreich keinen Verfassungspatriotismus gebe.[3] Heute erinnern nur mehr schlagende deutschnationale Burschenschaften an 1848 – und die Israelitische Kultusgemeinde, da unter den Märzgefallenen Studenten jüdischer Herkunft waren. In Ungarn hingegen ist die Erinnerung an 1848 nach den intensiven Feiern zur 1956er Revolution eine nach wie vor wichtige Säule der aktuellen Geschichtspolitik[4] – weniger aber aus demokratiepolitischer Sicht, sondern eher als Teil der Konstruktion einer ungarischen Nation auf der Basis von Niederlagen auf dem Weg zur nationalen Unabhängigkeit.