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Zur diskursiven Konstruktion österreichischer Identitäten 1995–2015 | Österreich | bpb.de

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Zur diskursiven Konstruktion österreichischer Identitäten 1995–2015

Rudolf de Cillia Ruth Wodak

/ 14 Minuten zu lesen

In diesem Beitrag werden Forschungsarbeiten zur Konstruktion österreichischer Identitäten zusammengefasst. Durch eine longitudinale Perspektive auf Entwicklungen zwischen 1995 und 2015 wird ein Blick auf Konstanten und Veränderungen ermöglicht.

In diesem Beitrag fassen wir Forschungsarbeiten zur österreichischen Identität der vergangenen zwei Jahrzehnte am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien zusammen. Durch eine longitudinale Perspektive auf Entwicklungen zwischen 1995 und 2015 wird erstmalig ein Blick auf Konstanten und Veränderungen in der Konstruktion österreichischer Identitäten in diesem Zeitraum ermöglicht. Anlass für die Forschungsprojekte waren die drei Jubiläumsjahre 1995 (50 Jahre Zweite Republik, 40 Jahre österreichischer Staatsvertrag), 2005 (60 Jahre Zweite Republik, 50 Jahre Staatsvertrag, 10 Jahre EU-Mitgliedschaft) und 2015 (70 Jahre Zweite Republik, 60 Jahre Staatsvertrag und 20 Jahre EU-Mitgliedschaft). Die Forschungen verorten sich methodisch in der Wiener Schule der kritischen Diskursanalyse, dem "diskurshistorischen Ansatz" (DHA), und haben entscheidend dazu beigetragen, diesen weiterzuentwickeln. Im Folgenden stellen wir zunächst den DHA kurz dar; anschließend skizzieren wir zentrale theoretische Konzepte, analysierte Korpora und wichtige Analysedimensionen. Schlussendlich erläutern wir einige Ergebnisse beispielhaft an inhaltlichen Dimensionen der Konstruktion von österreichischen Identität/en.

Diskurs als soziale Praxis

Für den DHA ist einerseits der systematische Einbezug des historischen Kontexts wichtig, andererseits das Prinzip der Methodentriangulierung. Multimodale, schriftliche und mündliche Daten werden unter Berücksichtigung möglichst aller zugänglichen Informationen über die historische Einbettung diskursiver Ereignisse analysiert. Diskurs wird, wie in anderen diskursanalytischen Zugängen, als Form sozialer Praxis interpretiert, wobei wir von einer dialektischen Wechselwirkung zwischen diskursiven Ereignissen und den sozialen/gesellschaftlichen Strukturen, in die sie eingebettet sind, ausgehen. Einerseits formen und beeinflussen soziale Kontexte die Diskurse, andererseits beeinflussen Diskurse die soziale und politische Realität.

Um die Vernetzung von diskursiven Praktiken und außersprachlichen gesellschaftlichen Strukturen zu erfassen, kombinieren wir verschiedene linguistische und sozialwissenschaftliche Methoden. Damit soll ein möglichst detailliertes Bild österreichischer Identitätskonstruktionen in öffentlichen, halböffentlichen und quasiprivaten Settings verschiedener Formalitätsgrade gezeichnet werden.

Zentrale Annahmen

Wir gehen davon aus, dass Nationen mentale Konstrukte sind, "vorgestellte Gemeinschaften" im Sinne Benedict Andersons, repräsentiert als souveräne und begrenzte politische Einheiten. Weiter, dass nationale Identitäten diskursiv produziert, reproduziert, aber auch transformiert und demontiert werden. Dabei ist unter "nationaler Identität" ein im Zuge der "nationalen" (schulischen, politischen, medialen, sportlichen, alltagspraktischen) Sozialisation internalisierter Komplex von gemeinsamen und ähnlichen Vorstellungen beziehungsweise Wahrnehmungsschemata, von gemeinsamen und ähnlichen emotionalen Einstellungen und Haltungen und von gemeinsamen und ähnlichen Verhaltensdispositionen zu verstehen.

Die gemeinsamen und ähnlichen Vorstellungen betreffen in unserem Fall bestimmte Inhalte nationaler Identität, aber auch andere nationale "Sie-Gruppen". Die gemeinsamen und ähnlichen emotionalen Einstellungen und Haltungen beziehen sich auf die jeweilige, willkürlich definierte "In-group" einerseits und auf die jeweiligen – immer wieder wechselnden – "Out-groups" andererseits. Zu den Verhaltensdispositionen zählen sowohl Dispositionen zur Solidarisierung mit der "Wir-Gruppe" als auch die Bereitschaft zur Ausgrenzung der "Anderen".

Außerdem ist davon auszugehen, dass in den diskursiven Konstruktionen nationaler Identität/en vor allem die nationale Einzigartigkeit (Singularität) und innernationale Gleichheit (Homogenität) betont, innernationale Differenzen dagegen großteils ausgeblendet werden. Damit wird eine größtmögliche Differenz zu anderen Nationen entworfen. Mitglieder einer Nation setzen sich über diese Betonung der Differenz besonders von jenen Nationen ab, die der eigenen besonders ähnlich sind (eine These, die sich mit Sigmund Freud als "Narzissmus der kleinen Differenzen" auf den Punkt bringen lässt) – also beispielsweise ÖsterreicherInnen von ihren deutschen Nachbarn.

Besonders betonen wollen wir, dass es die eine nationale Identität nicht gibt, sondern vielmehr werden je nach Öffentlichkeit, Setting und Thema unterschiedliche Identitäten angesprochen und damit relevant. Nationale Identitäten werden also als variabel, dynamisch, brüchig und ambivalent begriffen. Zwischen den von den politischen, ökonomischen Eliten sowie den Medien angebotenen Identitätsentwürfen und den "Alltagsdiskursen" besteht eine wechselseitige Beeinflussung. Aus diesem Grund untersuchen unsere Studien verschiedene Korpora von Texten aus dem öffentlichen, halböffentlichen und quasiprivaten Bereich.

Korpora, Instrumentarium und Dimensionen der Analyse

Unsere Analysemethoden wurden zunächst 1995 im Wechselspiel zwischen einer eingehenden theoretischen Auseinandersetzung mit der Literatur und einer pilotmäßigen Analyse des Datenmaterials in einem abduktiven Verfahren entwickelt, in qualitativen Fallstudien angewandt und dann 2005 und 2015 entsprechend den neuen technischen Möglichkeiten weiterentwickelt (1995 waren beispielsweise korpuslinguistische Verfahren noch nicht möglich). Die Tabelle fasst alle Daten zusammen, die analysiert wurden, wobei die Gruppendiskussionen (GD) und Interviews den halböffentlichen Diskurs, die anderen schriftlichen, mündlichen und multimodalen Texte den öffentlichen, also den medialen und politischen, Diskurs repräsentieren.

Daten 1995, 2005, 2015. (© Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien)

In der systematischen Textanalyse unterscheiden wir drei Ebenen: Inhalte der nationalen Identität, diskursive Strategien der Argumentation und sprachliche Realisierungsformen, wobei nur die Inhalte spezifisch für den Diskurs zu nationalen Identitäten sind. Die Inhalte der nationalen Identität setzen sich aus fünf Dimensionen zusammen: die Imagination eines/einer "homo/femina nationalis" (eines/einer "typischen" Vertreters/in einer Nation); die Narration einer gemeinsamen politischen Geschichte ("Ursprungsmythos"); die sprachliche Konstruktion einer gemeinsamen Gegenwart und Zukunft; die sprachliche Konstruktion eines "nationalen Körpers"; die sprachliche Konstruktion einer gemeinsamen Kultur.

Die zweite Analyseebene betrifft die Strategien der Argumentation. Darunter verstehen wir mehr oder weniger automatisierte oder aber bewusste, auf den verschiedenen Ebenen der mentalen Organisation angesiedelte, mehr oder weniger elaborierte Handlungspläne. Diese können angesichts der unterschiedlichen Entstehungs- und Äußerungsbedingungen der erfassten Dokumente unterschiedliche Grade an Intention und Finalität aufweisen. Das folgende Beispiel illustriert, wie eine "innernationale Gleichheit oder Ähnlichkeit" imaginiert wird: 2006 verglich eine Seniorin in einer Gruppendiskussion stereotyp die ÖsterreicherInnen mit anderen typischen VertreterInnen von Nationen, indem sie Erfahrungen aus ihrem Berufsleben resümierte: "…und da hab ich trotzdem gefunden, dass wir Österreicher, ah:, wir san schnell wie die Italiener, gscheit wie die Sch(weizer)/ ah, akkurat, wie die Deutschen: damals waren, u:nd/ also eher überall das Positive würd ich hervor(kehren)." (GD 2006)

Die dritte Dimension betrifft die sprachlichen Realisierungsmittel und Realisierungsformen, wobei wir in den Analysen jene rhetorischen Muster, lexikalischen Elemente und syntaktischen Mittel fokussieren, die Einheit, Gleichheit, Differenz, Einzigartigkeit, Kontinuität, Autonomie und Heteronomie realisieren. Hier seien nur zwei Beispiele angeführt: Im Diskurs über nationale Identitäten kommt dem Pronomen "wir" und den entsprechenden Possessiva eine zentrale Bedeutung zu. Ein derartiges "nationales Wir" kann entweder nur die heutigen österreichischen StaatsbürgerInnen umfassen, wie in folgendem Beispiel: "Immer klarer erkennen wir Österreicher heute wieder unseren Platz im Zentrum Europas. Aus einer Randlage sind wir in die Mitte gerückt. … Das bedeutet auch Hineinwachsen in die gemeinsame Heimat Europa, ohne dass uns dabei die Heimat Österreich verloren gehen darf." (Bundeskanzler Schüssel, Rede anlässlich des Staatsvertragsjubiläums am 15. Mai 2005). Oder das "Wir" kann "historisch expandiert" sein, wie in folgendem Beispiel, in dem es neben den lebenden ÖsterreicherInnen auch noch verstorbene inkludiert: "(…) unsere beiden Kriege, wos ma verloren hobm" (GD 1995, der Sprecher ist nach 1945 geboren).

Eine wichtige Funktion erfüllen darüber hinaus rhetorische Figuren, wie die Personifikation, die der abstrakten Entität "Nation" eine menschliche Gestalt gibt und dadurch zu einer emotionalen Identifikation einlädt: "Das Drama dieses sechsjährigen Krieges und das Trauma des nationalsozialistischen Terrorregimes werfen aber düstere Schatten auf die Wiege dieser rotweißroten Wiedergeburt, aber das Kind lebt. Inmitten von Ruinen, Not, Hunger und Verzweiflung lebt dieses kleine, neue Österreich, weil an diesem Tag alle nach vorne schauen." (Bundeskanzler Schüssel, Rede am 27. April 2005)

Darüber hinaus kann eine solche Personifikation eine nativistische "Bodypolitik" anzeigen, also ein Verständnis von Nation als "Volkskörper" und einem durchaus anachronistischen Volksbegriff; solche Umdefinitionen finden sich 2015 vermehrt in renationalisierenden Diskursen rechtspopulistischer und national-konservativer Parteien.

Diskursiver und inhaltlicher Wandel 1995–2005–2015

Die Konstruktion eines/einer "homo/femina nationalis" ist für Identitätspolitik zentral und umfasst oft polarisierende Diskussionen über die Zugehörigkeit/Nichtzugehörigkeit zu einer Nation, in unserem Fall zu Österreich: Wer ist "der echte Österreicher" beziehungsweise "die echte Österreicherin"? Wer ist ein- und wer ausgeschlossen – Debatten, die die Öffentlichkeit besonders während und nach der Flüchtlingsbewegung 2015/16 bis heute bewegen. Welche Eigenschaften müssen diese besitzen? Themenstränge wie die emotionale Beziehung zu Österreich, eine angenommene typische nationale Mentalität und vermeintliche nationale Verhaltensdispositionen und Werte spielen eine gewichtige Rolle; weiter verschiedene Momente der biografischen Genese (Zufall, Fügung, Abstammung, Ort der Geburt, des Aufwachsens und des Wohnens, der Sozialisation) sowie die "Aktivierung" der nationalen Identität in bestimmten Situationen (zum Beispiel im Ausland).

Ein typischer Ausdruck der emotionalen Bindung an die Nation ist das "Bekenntnis zu Österreich" oder der "Nationalstolz". Letzteren illustriert das folgende Zitat: "Wos mich ols Österreicher mochn tuat is daß i/is des interessant weil ich den Wiederaufbau – Österreichs – – erst ols klaner Bua – und nochher – als Berufstätiger erlebt hob ne? – und ich glaub – man soll nicht man kann nicht man muß sogor – stolz sein Österreicher zu sein. anders kann i mir s net vorstelln." (GD 1995)

Die Konstruktion einer gemeinsamen politischen Geschichte dient der Erstellung von Gründungs- und Ursprungsmythen, die Helden, Siege und Niederlagen zum Ausgangspunkt historischer Narrative machen. Eine besondere Rolle spielt in diesem Fall die österreichische NS-Vergangenheit, vor allem hinsichtlich der Rollen als Täter, Opfer, Mitwisser und Mittäter an den NS-Verbrechen.

Ein zentraler Gründungsmythos der Zweiten Republik ist die Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags am 15. Mai 1955 im Schloss Belvedere in Wien. "Der Staatsvertrag ist die Geburtsurkunde unserer Freiheit", formulierte es der damalige Bundeskanzler Wolfgang Schüssel in einer Fernsehansprache am 14. Mai 2005 anlässlich des 50. Staatsvertragsjubiläums. Die Szene der Unterzeichnung und die Erklärung "Österreich ist frei!" von Außenminister Leopold Figl am 15. Mai 1955 ist derart tief im kollektiven nationalen Gedächtnis verankert, dass man diese Balkonszene jederzeit abrufen und für andere Zwecke, zum Beispiel in der Werbung oder in der Kunst, rekontextualisieren kann. Entscheidend dafür ist, dass der Ausruf Figls in der öffentlichen Wahrnehmung auf dem Balkon des Schlosses erfolgte – eine Tonmontage, die ebensowenig den historischen Tatsachen entspricht, wie die viele Jahrzehnte verwendete Fotomontage, die alle Repräsentanten gleichzeitig zum Betrachter blicken ließ. Für das "Gedankenjahr" 2005 wurde eigens ein Kranwagen mit einer Nachbildung des Balkons im Belvedere hergestellt, der durch Österreich fuhr und den Passanten besteigen konnten, um darauf selbst "Österreich ist frei" zu verkünden.

2015 wurde im Gegensatz zu 2005 am 15. Mai in dem Zimmer des Schlosses Belvedere, in dem der Staatsvertrag unterzeichnet wurde, eine wesentlich exklusivere Gedenkfeier der Bundesregierung abgehalten; auf einem Pult vor den versammelten Politikerinnen wurde das Original des Staatsvertrags einer Reliquie gleich ausgestellt. Die Feiern 2015 gerieten angesichts unvorhergesehener globaler Ereignisse, wie der Flüchtlingsbewegung, den Terrorakten in Paris oder der Euro-Krise, in den Hintergrund. Transnationale und globale Entwicklungen nahmen auf nationale Gedenkfeiern und nationale Politik wesentlichen Einfluss und bedingen damit den (missglückten) Versuch immer stärkerer Grenzziehung und Abschottung.

Bei der Konstruktion einer gemeinsamen politischen Gegenwart und Zukunft unterscheiden wir unter anderem folgende Inhalte: Staatsbürgerschaft, politische und soziale Errungenschaften, gegenwärtige und zukünftige politische Probleme, Krisen und Gefahren, zukünftige politische Ziele und politische Tugenden. Hervorheben wollen wir in diesem Zusammenhang die wechselnden Haltungen zur Neutralität: 1995 war die Frage der österreichischen Neutralität insofern wichtig, als sie Anhänger der politischen linken (pro) und rechten Parteien (contra) trennte, 2005 und 2015 stand die Beibehaltung der Neutralität wieder außer Frage.

Hingegen bleiben sowohl 1995, 2005 und auch 2015 die sozialen und politischen Errungenschaften Österreichs relevant, die vor allem von der älteren Generation besonders betont werden. So äußerte sich 2006 eine Seniorin in der Gruppendiskussion: "was ich vor allem an Österreich schätze, die wirtschaftliche Sicherheit, es ist eine Grundsicherheit, die wir alle haben, und i möchte sagen, das ist nicht selbstverständlich." (GD 2006) Ähnlich formulierte es ein Senior 2015: "… und jetzt erleb ich s/ erleb ich so eine VOLLE österreichische Identität, ((ea)) indem ich dankbar bin für das soziale System" (GD 2015).

Außerdem untersuchen wir die vielfachen Bedeutungen des "nationalen Körpers", das heißt die diskursive Konstruktion des nationalen Territoriums mit seinen Grenzen, seiner natürlichen Beschaffenheit und seinen Landschaften, aber auch mit seiner Umgestaltung und seinen physischen Artefakten von nationaler Geltung. Bestimmte politisch-symbolisch besetzte Baudenkmäler gelten ebenso als Teil des "nationalen Körpers" wie die Körper herausragender österreichischer SpitzensportlerInnen (etwa 1995 Franz Klammer, 2005 Hermann Maier, 2015 Marcel Hirscher), die bei sportlichen Wettkämpfen als partes pro toto für Österreich antreten.

2015 rückten Österreichs Außengrenzen aufgrund der Fluchtbewegungen ins Zentrum polarisierter politischer und medialer Diskurse. Die Abbildung zeigt, welche Komposita des Wortes "Grenze" in der Medienberichterstattung über die österreichische Flüchtlingspolitik vorkommen und wie diese den Grenzraum sprachlich neu besetzen und strukturieren. Dies ist im Zusammenhang mit dem schon genannten Streben nach starker Renationalisierung zu sehen, die von einer rechtspopulistischen Politik, im Verein mit dem Boulevard, mittels Panikmache forciert wurde, um davon politisch zu profitieren.

Komposita des Wortes "Grenze" in der Medienberichterstattung 2015 (© Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien)

Die Konstruktion einer gemeinsamen Kultur schließlich wird in Bezug auf Sprache, Religion/"Werte", Kunst, Wissenschaft und Technik sowie Alltagskultur (etwa Sport, Ess- und Trinkkultur, Kleidung) analysiert. Das folgende Beispiel zeugt in diesem Zusammenhang von der Bedeutung einer gemeinsamen Sprache: "Ahm wos mi zum Österreicher mocht, mir is als erstens eigentlich die SPRAche eingfalln, da doch sozusagen gewisse Ausdrücke ((ea)) im Deutschen, wos äh typisch österreichisches Deutsch is, vielleicht auch in Abgrenzung zum (1s) deutschen Deutsch" (GD 2015).

Häufig wird in den Gruppendiskussionen von 1995, 2005 und 2015 dieses "österreichische Deutsch" als wichtiger Identitätsmarker, in Abgrenzung vor allem zum deutschen Deutsch, genannt. 1995 spielte es auch im medialen Diskurs eine große Rolle, weil Österreich beim EU-Beitritt 1995 in einem eigenen Zusatzprotokoll 23 Austriazismen EU-rechtlich schützen ließ. 2015 jedoch liegt, im Unterschied zu den anderen Zeitpunkten, vor allem die "Staatssprache" der Republik (Art. 8 Abs. 1 Bundesverfassung) im Fokus des medialen Diskurses, der wiederum sprachenrechtliche und -gesetzliche Änderungen im vergangenen Jahrzehnt (Staatsbürgerschaftsrecht, Fremdengesetzgebung) widerspiegelt. Gab es 1995 noch keinerlei Bestimmungen die Staatssprache betreffend im Staatsbürgerschaftsrecht und Aufenthaltsrecht, so wurde der Erwerb der Staatsbürgerschaft 1998 das erste Mal gesetzlich an Kenntnisse der deutschen Sprache geknüpft, die mündlich nachgewiesen werden konnten. Diese Anforderungen wurden sukzessive verschärft und müssen seit 2006 mit standardisierten Tests belegt werden (Niveau A2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens GER im Jahr 2006, B1 im Jahr 2011). Im Aufenthaltsrecht gab es seit 2003 für Drittstaatsangehörige die relativ "weiche" Anforderung der A1-Kenntnisse, die 2006 auf A2 und 2011 auf B1 für dauerhaften Aufenthalt erhöht wurde, wobei bereits vor dem Zuzug nach Österreich Kenntnisse auf dem Niveau A1 nachgewiesen werden müssen. Im Wechselspiel zwischen rechtspopulistischem Diskurs und sprachgesetzlichen Maßnahmen fand also eine vehemente Nationalisierung der Sprachenpolitik statt.

Abschließende Bemerkungen

Die vielfältigen und differenzierten Ergebnisse unserer Longitudinalstudie zu österreichischen Identitäten können in diesem Rahmen nur kurz angerissen werden. Fokussieren wollen wir im Folgenden vor allem auf wesentliche Veränderungen und diskursiven Wandel in den gut zwei Jahrzehnten.

Inszenierte Symbolpolitik wird wichtiger: So werden Symbole eines "banalen Nationalismus" zunehmend aktiviert, vor allem 2015 – nationale Stereotypen, Fahnen, die Nationalhymne und die sogenannte Österreich-Hymne der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs, das "Heimatkonzept" und österreichische Landschaften als Teil eines nationalen Körpers, manchmal in der harmonisierenden Tradition des Nachkriegsheimatfilmes beziehungsweise einer völkischen Nostalgie, wie sie die Regisseurin Leni Riefenstahl repräsentiert. In diesem Kontext rücken 2015 die Außengrenzen, im Unterschied zu 1995 und 2005, ins Zentrum des politischen Diskurses. Es findet eine starke Polarisierung im Zusammenhang mit der Flüchtlingsbewegung statt, einerseits eine praktische Solidarisierung einiger Parteien und der Zivilgesellschaft mit Geflüchteten und andererseits der Ruf von Rechtsaußen, die Grenzen zu schließen. Die Angst vor rechtspopulistischer Programmatik rückt auch den Mainstream immer mehr in eine nationalistische/nativistische Ecke, beobachtbar bei den Landtagswahlen, die 2015 stattfanden. Allein der Wiener Landtagswahlkampf gestaltete sich anders – Weltoffenheit und Solidarität standen im Gegensatz zur forcierten Politik mit der Angst, die vor allem den Mediendiskurs mit wenigen Ausnahmen beherrschte und letztlich 2016 zu einem Kippen der "Willkommenskultur" (außer in Wien) führte.

Was die Vorstellung von den "Anderen" betrifft, hatten wir 1995 ein allgemeines West-Ost- und Nord-Süd-Gefälle festgestellt, wonach die Unterschiede zu ost- und südosteuropäischen Nachbarn als relativ groß wahrgenommen wurden. 2005 rückte die Differenz zu Nicht-ÖsterreicherInnen im Land (vor allem zu türkischen und muslimischen ZuwanderInnen) in den Mittelpunkt, ebenso 2015, wobei hier die zugewanderten Flüchtlinge einbezogen wurden; das heißt, dass immer mehr ethnische und religiös-kulturelle Unterschiede in Bezug auf Zugehörigkeit/Nichtzugehörigkeit andere Kriterien überlagerten. Die sogenannte Wertediskussion in Bezug auf das "christliche Abendland" einerseits und den Okzident/Islam andererseits beherrschte vielfach sowohl das politische wie mediale Geschehen, im Zusammenhang mit den vehementen Debatten zu Grenzmanagement, Sicherheit, Flucht und Migration.

Die österreichische Erfolgsgeschichte, der Mythos von der "Stunde Null 1945" wurde vor allem 2005 besonders betont, ausgedrückt etwa in den Metaphern von der "Wiedergeburt" beziehungsweise von Österreich als "neugeborenem Kind"; jedoch nicht 1995 und 2015. Die Unterzeichnung des Staatsvertrags spielt zu allen drei Zeitpunkten, aber besonders 2005 eine zentrale Rolle. Die österreichische Neutralität – die von vielen PolitikerInnen 1995 schon als obsolet erklärt worden war – ist 2005 und 2015 wieder unumstritten Teil österreichischer Identitätskonstruktionen.

Was den Umgang mit der NS-Vergangenheit betrifft, wurden die TäterInnen 2005 kaum sichtbar. Im offiziellen Diskurs wurde eine Art "Opfergemeinschaft" imaginiert: Alle Opfer wurden so gleichgestellt – die in den Konzentrationslagern Ermordeten, die politischen Gefangenen, die zivilen Bombenopfer, die gefallenen Wehrmachtssoldaten, die Kriegsgefangenen. 2015 hingegen wurden, vor allem im medialen Diskurs, die Verbrechen der Endphase (also im Frühjahr und Sommer 1945) in den Vordergrund gerückt, und der damalige österreichische Bundespräsident Heinz Fischer erklärte in einem TV-Interview am Holocaustgedenktag (27. Januar 2015) "Auschwitz" zu einem "Teil der österreichischen Identität". Der Vergleich von Gedenkreden zur Shoah erweist, dass Konkretisierung und Personalisierung 2015 stärker im Vordergrund stehen als 1995 und 2005. Diese Darstellungsform bleibt in den Reden zumeist auf positive, heroische, zur Identifikation geeignete Themen beschränkt, wird in den Medien hingegen häufig auch auf Kriegsverbrechen, insbesondere in der Endphase des Krieges, ausgedehnt.

Betonen wollen wir nochmals die Nationalisierung der deutschen Staatssprache: Gab es 1995 noch keine einzige Bestimmung im Staatsbürgerschaftsrecht und Aufenthaltsrecht, so waren es 2005 noch relativ geringe Anforderungen an Kenntnissen des Deutschen, die für dauerhaften Aufenthalt und Staatsbürgerschaft verlangt wurden. 2015 sind die Anforderungen so hoch, dass Illiterate und wenig literalisierte Menschen de facto ausgeschlossen werden. Gerade hier kann die Wechselwirkung zwischen zunehmend national-konservativen Positionen im politischen Diskurs und gesetzlich-institutionellen Regelungen deutlich aufgezeigt werden.

2015 erweist sich auch überaus deutlich, dass nationale Identität/en angesichts internationaler Entwicklungen nicht mehr isoliert, innerhalb fester territorialer Grenzen, entworfen werden können. Trotz zunehmender Renationalisierungstendenzen und steigender EU-Skepsis wird Österreich immer abhängiger von gesamteuropäischen Politiken und globalen Debatten. Diese Polarisierung findet sich in allen untersuchten Bereichen und Datensätzen.

Insgesamt überwiegen jedoch die Kontinuitäten zu den drei Erhebungszeitpunkten, vor allem was die Identifikation mit der Nation Österreich betrifft, wobei das Nationsverständnis zwischen staatsnationalem und (zunehmend) kultur-/sprachnationalem Verständnis oszilliert. Der Begriff einer österreichischen Nation wird im untersuchten Datenmaterial kaum explizit verwendet. An der Existenz dieser Nation besteht – im Unterschied zur unmittelbaren Nachkriegszeit – allerdings kein Zweifel. Das folgende Beispiel etwa verdeutlicht die emotionale Bindung an die "Nation": Eine nach ihrer Flucht aus Österreich im Jahr 1938 nach vielen Jahrzehnten zurückgekehrte Teilnehmerin einer Gruppendiskussion drückt es so aus: "I kann nur sagen, mein schönes Österreich", und schließlich, das Land personifizierend: "Ich bin verliebt in mein Österreich. Ich bin verliebt" (GD 2006)

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Beitrag berichtet Ergebnisse des vom FWF finanzierten Projekts "Zur diskursiven Konstruktion österreichischer Identität/en 2015" (P 27153). Wir danken Markus Rheindorf für wichtige Hinweise und Kommentare.

  2. Vgl. Ruth Wodak et al., Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, Frankfurt/M. 1998.

  3. Vgl. Rudolf de Cillia/Ruth Wodak, Ist Österreich ein "deutsches" Land? Sprachenpolitik und Identität in der Zweiten Republik, Innsbruck u.a. 2006; dies., Gedenken im "Gedankenjahr". Zur diskursiven Konstruktion österreichischer Identitäten im Jubiläumsjahr 2005, Innsbruck 2009; Ruth Wodak et al., The Discursive Construction of National Identities, Edinburgh 20092.

  4. Vgl. Ruth Wodak et al., Zur diskursiven Konstruktion österreichischer Identität/en 2015, Berlin 2018 (i.V.).

  5. Vgl. Martin Reisigl/Ruth Wodak, The Discourse-Historical Approach, in: Ruth Wodak/Michael Meyer (Hrsg.), Methods of Critical Discourse Studies, London 2006, S. 23–61; Markus Rheindorf, Diskursanalyse in der Linguistik: Der Diskurshistorische Ansatz, in: Florian Wilk (Hrsg.), Sprache und Identität. Tagungsband der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, Neunkirchen 2017, S. 17–62.

  6. Vgl. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Frankfurt/M.–New York 1988.

  7. Vgl. Wodak et al. (Anm. 2).

  8. Vgl. de Cillia/Wodak 2009 (Anm. 3).

  9. Vgl. András Kovács/Ruth Wodak (Hrsg.), NATO, Neutrality and National Identity: The Case of Austria and Hungary, Wien 2003.

  10. Vgl. Markus Rheindorf/Ruth Wodak, Borders, Fences, and Limits. Protecting Austria from Refugees: Metadiscursive Negotiation of Meaning in the Current Refugee Crisis, in: Journal of Immigrant and Refugee Studies 1–2/2018, S. 15–38.

  11. Vgl. Ruth Wodak, Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse, Hamburg 2016.

  12. Vgl. Markus Rheindorf/Ruth Wodak, "It Was a Long Hard Road". A Longitudinal Perspective on Discourses of Commemoration in Austria, in: 10plus1 Living Linguistics 3/2017, S. 22–41.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Rudolf de Cillia, Ruth Wodak für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professor im Ruhestand am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien. E-Mail Link: rudolf.de-cillia@univie.ac.at

ist emeritierte Professorin für Diskursforschung an der Lancaster University, Großbritannien. E-Mail Link: r.wodak@lancaster.ac.uk