Rassismus als Kontinuitätslinie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
Rassismus hat viele Gesichter und ist in seinem jeweiligen zeitlichen und räumlichen Kontext zu betrachten. In demokratischen und pluralistischen Gesellschaften, in denen das Konzept "Rasse" mehrheitlich abgelehnt oder tabuisiert wird, zeigt sich Rassismus als Gewalt radikaler Gruppen oder in der Rhetorik von Populist*innen. Ebenso relevant ist jedoch der Rassismus der Mitte. Damit ist die gesellschaftliche Wirkung rassistischen Wissens gemeint, das in Denktraditionen, Institutionen, Strukturen sowie Diskursen und Alltagspraktiken der jeweiligen Gesellschaft eingebettet ist. Es wird ganz selbstverständlich, oftmals unbewusst, angewendet und "gewusst". Dadurch strukturiert rassistisches Wissen weiterhin moderne Gesellschaften.[1] Ein wichtiges epistemologisches Moment dabei ist die Ignoranz: Sie ermöglicht den Privilegierten in diesem System, sich nicht bewusst machen zu müssen, worauf ihre Privilegien beruhen.[2]In der Geschichte der Bundesrepublik ist das Konzept "Ausländer" ein guter Startpunkt, um die Wirkung rassistischen Wissens zu untersuchen. "Ausländer" impliziert dabei nicht (nur) einen formaljuristischen Status, sondern ist der "Andere" des Deutschen. Das zeigt sich etwa daran, dass deutsche Staatsbürger*innen mit "Migrationshintergrund" heute noch "Grenzgänger" sind, denen ihr "Deutsch-Sein" jederzeit abgesprochen werden kann.[3] Die Binarität "Ausländer" und "Deutscher" ist in zahllosen Varianten in der gesellschaftlichen Realität auszumachen. Sie ist Grundlage einer nach "Wertigkeit" der Herkunft strukturierten und damit rassialisierten[4] Hierarchie, die Ungleichheit schafft und diese selbstreferenziell legitimiert.
Im Folgenden werde ich an zwei Ausschnitten der neueren deutschen Migrationsgeschichte die Wirkungen rassistischen Wissens aufzeigen: in der Einbürgerungspraxis und am politischen Umgang mit "Ausländerfeindlichkeit". Bezugspunkt bleibt dabei das Konzept "Ausländer" und dessen Bedeutungsdimensionen. Dabei werde ich zum einen zeigen, dass das Konzept "Ausländer" rassialisiert ist, und zum anderen damit untermauern, dass race und das damit einhergehende Phänomen des Rassismus als analytische Kategorien in der zeithistorischen Forschung stärker zu verankern sind, um den Umgang mit auf Herkunft basierender Differenz in Deutschland seit 1945 adäquat untersuchen zu können.[5]
Die Binarität "Ausländer" und "Deutscher"
In den 1970er Jahren entstand eine neue Bevölkerungsgruppe in Deutschland: die "Ausländer". Diese Bezeichnung setzte sich durch, als keine*r mehr die Augen davor verschließen konnte, dass sich ein Teil der "Gastarbeiter" sesshaft gemacht hatte. Unter "Ausländer" wurden zunehmend auch Asylbewerber*innen verstanden, die seit Mitte der 1970er Jahre in größerer Zahl aus außereuropäischen Ländern kamen – wobei diese auch mit dem sich zu einem abwertenden Begriff wandelnden "Asylant" diskursiv separiert wurden.[6]Wie sehr man in den "Ausländern" eine neue soziale Kategorie, eine eigene Bevölkerungsgruppe sah, wird etwa an der 1977 vom Landesarbeitsministerium in Auftrag gegebenen Untersuchung "Aspekte der langfristigen Bevölkerungsentwicklung in Baden-Württemberg" sichtbar. Aus ihrer Anzahl, "heutigen Fruchtbarkeit und Lebenserwartung" wurde ihr Bevölkerungsanteil im Jahr 2050 errechnet. Dieser werde sich von 9 auf 22 Prozent der Landesbevölkerung mehr als verdoppeln. Kontrastiert wurde diese Entwicklung mit der sinkenden deutschen Bevölkerungszahl, die sich um die Hälfte reduzieren würde.[7] Erstaunlich dabei ist, dass noch für das Jahr 2050 von "Ausländern" – wohl gemerkt nicht neu zugewanderten, sondern hinzugeborenen – gesprochen wurde.
Angesichts der politischen und gesellschaftlichen Weichen, die Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre gelegt wurden, wundert das nicht. Denn das sich durchsetzende Konzept der "Integration auf Zeit"[8] sah zwar einen längeren Aufenthalt von "ausländischen Mitbürgern" vor. Diese galten jedoch nicht als Einwander*innen, denen alle Bürgerrechte zustehen sollten. Nach dem geltenden Ausländer- und Staatsbürgerschaftsrecht war der Status "Ausländer" erblich. Analog wurde in der 1977 neu erlassenen und erstmalig öffentlich gemachten Einbürgerungsrichtlinie bestimmt: "Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland; sie strebt nicht an, die Anzahl der deutschen Staatsangehörigen gezielt durch Einbürgerung zu vermehren."[9] Die Empfehlung, die der SPD-geführte Ausschuss Integration der Bund-Länderkommission "Ausländerpolitik" 1983 gab, die von der neuen Regierung Kohl eingesetzt worden war, befand entsprechend, dass die Einführung eines Einbürgerungsanspruches für die sogenannte zweite Ausländergeneration zwar "die größte Signalwirkung, Transparenz und Verläßlichkeit" haben würde; dies stellte jedoch "das bisherige Selbstverständnis die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland (…) in Frage".[10]
Doch worauf gründete die Überzeugung, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland? Deutschland hatte in der direkten Nachkriegszeit enorme Migrationsbewegungen und massenhafte Einwanderung erlebt. Diese wurde allerdings sehr lange, auch retrospektiv, nicht als solche verstanden. Das Postulat vom "Nicht-Einwanderungsland" (Klaus Bade) bezog sich auf "nicht-volksdeutsche" Einwander*innen. Bereits seit dem Kaiserreich sollten Arbeitsmigrant*innen aus dem Osten und Süden Europas, die als "völkisch-kulturell Minderwertige" die bei den Deutschen unbeliebt gewordene Arbeiten übernahmen, neben anderen Gruppen möglichst nicht Teil des "deutschen Volkes" werden.[11] Sie wurden zunehmend zu "Anderen" der Deutschen. Nach der "rassischen Säuberung" Deutschlands im Nationalsozialismus waren es "ausländische" Migrant*innen, die hauptsächlich in der Binarität "Ausländer" und "Deutscher" fixiert wurden.