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Verblendetes Harakiri | Türkei | bpb.de

Türkei Editorial Die Türkei und die EU Verblendetes Harakiri Die Türkei im Prozess der "Europäisierung" Islam und Kemalismus in der Türkei Das Entstehen eines Macht-Dreiecks Die Kopftuchdebatte in der Türkei

Verblendetes Harakiri Der Türkei-Beitritt zerstört die EU

Hans-Ulrich Wehler

/ 9 Minuten zu lesen

Der mögliche EU-Beitritt der Türkei führt zu kontroversen Diskussionen. Manche Stimmen sprechen sogar davon, dass dadurch das Projekt der europäischen Einigung zerstört werden könnte.

Einleitung

Die Entscheidung naht: Die Prüfungskommission der EU wird noch im Herbst 2004 feststellen, ob der Türkei ein Termin für die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen genannt werden kann. Fällt das Votum positiv aus, könnten die Entscheidungs-gremien der Union zustimmen, so dass jener langwierige Prozess begänne, an dessen Ende vermutlich die Aufnahme der Türkei in die europäische Staatenunion stünde. Die Regierungen wichtiger Mitgliedstaaten haben sich bereits im Vorfeld dereigentlichen Entscheidung positiv geäußert. Namentlich die Spitzen der rot-grünen Koalition in Berlin sind in letzter Zeit, ziemlich unvermittelt, geradezu massiv für den Beitritt eingetreten.

Was aber gebietet eine Bestandsaufnahme der Interessenlage der EU, auch und gerade der Bundesrepublik? Denn es steht großen Staaten nicht an - um Bismarcks berühmtes Diktum zu wiederholen -, anders als nach Maßgabe ihrer Interessen zu handeln. Die These lautet: Kommt es zu Beitrittsverhandlungen und schließlich zur Aufnahme der Türkei, würden damit vitale europäische und deutsche Interessen verraten, das große Projekt der politischen Einigung Europas würde zerstört.

Zunächst sollen aus Gründen der Fairness einige Perspektiven erörtert werden, die eine protürkische Position begründen, deshalb aber auch erste Einwände hervorrufen:

- Unstreitig liegt es im europäischen und deutschen (überhaupt im westlichen) Interesse, dass das Experiment der Demokratiegründung und -verankerung endlich einmal auch in einem islamischen Land gelingt. Deshalb verdient es wirksame Unterstützung. Im Vergleich kommt zurzeit am ehesten die türkische Republik für diese politische Modernisierung in Frage. Gelänge das Experiment, ginge davon eine ungleich attraktivere Vorbildwirkung im Nahen Osten, darüber hinaus in der muslimischen Welt überhaupt, aus als von den Demokratisierungsillusionen des amerikanischen Präventivkriegs im Irak. Die offene Frage ist jedoch, ob diese Entwicklung zu einer auf Dauer stabilen demokratischen Republik innerhalb der EU gefördert werden muss oder ob sie nicht ebenso gut von außen, zudem mit weitaus geringeren Kosten jeder Art, unterstützt werden kann.

- Mit diesem Argument hängt die Behauptung zusammen, dass die westlich orientierten türkischen Funktions- und Machteliten ihre Annäherung an Europa nur dann auf lange Sicht erfolgreich fortsetzen könnten, wenn sie mit dem Anschluss an die EU belohnt würden. Diese Forderung hat einen leicht erpresserischen, ultimativen Charakter; sie ignoriert, dass solche Transformationsprozesse wie die Europäisierung der Türkei letztlich aus eigener Kraft gewollt und durchgesetzt werden müssen, und sie setzt sich stillschweigend über den gewaltigen Preis hinweg, der Europa dafür zugemutet wird.

- Der viel beschworene geostrategische Wert der Türkei gebiete, heißt es insbesondere in Washington und in der NATO, der Türkei die Vollmitgliedschaft in der EU einzuräumen, um ihr beachtliches militärisches Potenzial einzubinden und bei künftigen Konflikten im Nahen Osten einsetzen zu können.

Allerdings hat die Regierung Erdogan mit ihrer Opposition gegen die Teilnahme am zweiten Irakkrieg unmissverständlich demonstriert, dass sie gegen muslimische Nachbarn nicht zum zweiten Mal Krieg führen will - und aus innerparteilicher Rücksichtnahme auf den Zusammenhalt und den islamistischen Charakter der "Gerechtigkeitspartei" (AKP) auch nicht führen kann. Künftiger Streit im Nahen Osten involviert aber stets muslimische Staaten, ein simpler Tatbestand, der das vermeintlich durchschlagskräftige geostrategische Argument im Kern entwertet.

- Und schließlich wird immer wieder auf das seit 1963 wiederholte Versprechen verwiesen, das der Türkei den Anschluss an die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in Aussicht stellte. Ob damit auch die Einbeziehung in eine politische Staatenunion gemeint war, ist zumindest umstritten. Da es bereits eine Zollunion zwischen der EU und der Türkei gibt, wäre, wenn sie formell auch zur Freihandelszone erweitert würde, der Zusage des ökonomischen Anschlusses Genüge getan. Außerdem ist zum einen die Geschäftsgrundlage des Versprechens - der Kalte Krieg gegen die Sowjetunion - inzwischen entfallen, und zum anderen hat die Türkei fast vierzig Jahre lang buchstäblich nichts getan, um das Land allmählich europakompatibel zu machen.

Das derzeit vorherrschende Drängen, als europäischer Staat anerkannt zu werden, hat neuerdings zu einigen in hektischer Eile verabschiedeten Reformgesetzen geführt, die aber nicht nur noch immer sehr unvollständig sind, sondern in den nächsten Jahrzehnten auch der glaubwürdigen Realisierung im Alltag, in der Verwaltung und Justiz bedürfen. Käme daher die EU-Prüfungskommission demnächst dazu, die Aufnahmekriterien bereits zwei Jahre nach dem Reformbeginn für erfüllt zu erklären, hieße das sinngemäß, dass die Türkei die Belastungen eines langlebigen Traditionsüberhangs in kurzer Zeit abgeschüttelt hätte.

Unvergleichlich stichhaltiger als die protürkischen Argumente ist die Vielzahl der grundsätzlichen Einwände gegen einen Türkei-Beitritt:

- Die Türkei ist ein kleinasiatischer, nichteuropäischer Staat, dessen Aufnahme das großartige Projekt der politischen Einheit Europas torpedieren würde. Sie gehört einem anderen Kulturkreis an und würde mit 90 Millionen Muslims, die sie in den Beitrittsjahren nach 2012/14 zählen wird, eine nichteuropäische Bevölkerung mitbringen, die weder das unverzichtbare, historisch gewachsene europäische Identitätsbewusstsein teilt, noch zur künftigen Identitätskontinuität beitragen könnte. Überdies entfiele jedes plausible Argument gegen die Beitrittswünsche der Ukraine (Beitritt: bis 2011) und anderer östlicher Länder, aber auch Marokkos (Beitrittsantrag liegt vor) und weiterer maghrebinischer Staaten. Statt der politischen Einheit des historischen Europas käme es allenfalls zu einer Freihandelszone vom Atlantik bis eventuell nach Wladiwostock. Sie käme allerdings englischen Vorstellungen, auch geheimen Wünschen der USA entgegen, die ein politisch geeintes Europa zusehends als ernsthaften Konkurrenten betrachten.

Mit der Zielutopie eines politisch geeinten Europas, das aus zwei totalen Kriegen in einem mühseligen Lernprozess endlich die richtige Konsequenz gezogen hat, hätte der pure Ökonomismus einer riesigen Freihandelszone nichts mehr gemein. (Auch diese Problematik unterstreicht die Aufgabe, dass Europa endlich seine Grenzen nach Ostern und Südosten definieren muss.)

- Nach der Aufnahme der acht osteuropäischen Länder und der beiden Inselstaaten zeichnet sich eine extreme Belastung aller europäischen Ressourcen ab; der ohnehin strittige Agrarsubventionismus ist nur ein besonders eklatantes Beispiel dafür. Da die EU seit der Konferenz in Nizza ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat, überschneidet sich diese Belastung mit den ungelösten Fragen einer Reform der komplizierten politischen Entscheidungsprozesse. Im Grunde zeichnet sich bereits das klassische Problem des "Imperial Overstretch" deutlich ab. Ein Türkei-Beitritt wenige Jahre nach der "Osterweiterung" würde diese Gefahr bis zu einer lebensgefährlichen Überdehnung aller Sehnen und Gelenke, bis zu einer fatalen Belastungsprobe dramatisch zuspitzen. Überdies wäre die Türkei sogleich der größte EU-Staat, stellte die größte Fraktion im Straßburger Parlament (da sich deren Umfang nach der Bevölkerungszahl der Heimatländer bemisst), wäre ständig in Versuchung, eine politische Sonderrolle und finanzielle Sonderzuweisungen zu beanspruchen.

- Ökonomisch ist die Türkei wegen ihrer Probleme dringend auf die europäische Wirtschafts- und Finanzkraft angewiesen, nachdem die Milliarden des Internationalen Währungsfonds immer wieder spurlos versickert sind. Die türkische Wirtschaft erreicht gerade einmal 20 Prozent des durchschnittlichen europäischen Sozialprodukts, und jahrelang hat sie mit einer Inflationsrate über 40 Prozent zu kämpfen gehabt. Mehr als ein Drittel aller Erwerbstätigen lebt von einer Subsistenzwirtschaft. Die Grundlagen für ein "Wirtschaftswunder" sind auch nicht von ferne zu erkennen. Ökonomisch bleibt die Türkei auf absehbare Zeit ein Fass ohne Boden. Künftige EU-Zuschüsse werden auf jährlich bis zu 40 Milliarden Euro geschätzt. Der Nettozahler Bundesrepublik müsste davon wohl 10 Milliarden übernehmen.

- Die Armut Anatoliens verschärft das Migrationsproblem. Einschließlich der Auslandstürken gibt es zurzeit dank der jährlichen demographischen Zuwachsrate von 3,4 Prozent rund 75 Millionen Türken. Selbst wenn man diese Rate auf 2,5 Prozent absenkt, kommt man für die eventuelle Beitrittsphase auf 90 Millionen Türken oder sogar noch auf mehr. Deshalb hat der ehemalige türkische Präsident Demirel gegenüber Altbundeskanzler Schmidt von der Notwendigkeit des "Exports" von 15 Millionen Türken gesprochen. Türkische Experten gehen ebenfalls von einer Abwanderungsbereitschaft von 15 bis 18 Millionen aus.

Deutschland hat zwischen 1950 und 2000 die weltweit relativ höchste Zuwanderungsrate erlebt und ist, aufs Ganze gesehen, mit der Einwanderung bravourös fertig geworden. Die größte türkische Minderheit in Europa, nahezu drei Millionen Menschen umfassend, lebt in der Bundesrepublik. Ihre Integration ist bisher, um es vorsichtig zu sagen, unvollständig verlaufen, da der Widerwille der Zuwanderer und das Versagen der deutschen Eingliederungspolitik zusammenwirken. Wenn unlängst 94 Prozent aller in Berlin eingeschulten Kinder türkischer Herkunft kein Wort Deutsch konnten und zwei Drittel aller vierzehn- bis vierundzwanzigjährigen Berliner Türken, also alle aus der dritten Generation, wegen des fehlenden Schulabschlusses und der mangelhaften Sprachkompetenz arbeitslos waren, unterstreichen solche Gefahrensignale das Integrationsdefizit. Käme es zu einer Massenzuwanderung, würde die unabdingbare Integration der türkischen Minderheit noch einmal extrem erschwert, vielleicht sogar dauerhaft blockiert, zumal sich muslimische Zuwanderer bisher in allen europäischen Ländern gegen die Integration erfolgreich gesträubt haben.

- Auffallend selten wird hierzulande diskutiert, dass in der Türkei zum zweiten Mal eine islamistische Protestpartei gegen den säkularisierenden Kemalismus und die laizistische Republik gewonnen hat - sie verkörpert nicht nur das Aufbegehren der vernachlässigten Peripherie gegen das urbanisierte Zentrum. Faktische Einparteienherrschaft gilt auf einmal als attraktiv. Das proeuropäische Kalkül der Regierung Erdogan, deren geschickte PR-Berater die "Gerechtigkeitspartei" völlig irreführend mit der CDU vergleichen, ist leicht zu erkennen: Der Zugang zu den europäischen Wirtschafts- und Finanzressourcen ist äußerst attraktiv. Er gestattet auch eine großzügige Bedienung der eigenen Klientel. Die europäische Religionsfreiheit schützt auch den Islamismus samt seiner ungestörten Weiterentwicklung. Das Militär wird entmachtet, damit entfällt aber auch der Hüter des kemalistischen Erbes in der laizistischen Republik.

Teilt aber die Erdogan-Partei, die Türkei überhaupt, die westliche "Wertegemeinschaft"? Fraglos gelten seit der Republikgründung (1922) für die Machteliten westliche Zielwerte, da die Türkei, wie auch Russland seit Peter dem Großen, Europa ähnlich zu werden bestrebt ist. Doch eine soziologische Umfrage ergab kürzlich eklatante Unterschiede in den Werthaltungen. In der EU wünschten nur mehr zehn Prozent einen Einfluss der Religion auf die Politik, in der Türkei aber mehr als zwei Drittel. Die Demokratie wurde in der EU von 85 Prozent als überlegenes politisches System betrachtet, in der Türkei votierten, der historischen Erfahrung folgend, mehr als zwei Drittel für ein Regime autoritärer Führungspersönlichkeiten. Und wie ist mit der beanspruchten Zugehörigkeit zur westlichen "Wertegemeinschaft" das hartnäckige Leugnen des türkischen Genozids an 1,5 Millionen Armeniern (1915) zu vereinbaren, dem wenige Jahre später die Ermordung und Vertreibung von 1,5 Millionen Griechen aus Kleinasien folgte? Zugegeben, die Bundesrepublik trägt mit dem Holocaust eine schwerere Bürde. Doch hätte sie ein einziger westlicher Staat, wenn sie während der Entstehung der EG, der EWG und der EU Auschwitz geleugnet hätte, auch nur mit der Feuerzange angefasst?

- Warum sollte sich die EU so charmante Nachbarn wie den chaotischen Irak, die syrische Diktatur, die iranische Theokratie und erodierende Staaten wie Georgien und Armenien freiwillig zulegen? Ganz zu schweigen von dem Kurdenproblem, das die zur Zeit latente türkische Aggressivität, wie im letzten Irakkrieg wieder deutlich wurde, weiterhin zu mobilisieren vermag.

- Allensbach hat im April 2004 in einer Umfrage erneut ermittelt, dass 66 Prozent der Deutschen gegen, aber nur 12 Prozent für einen Türkei-Beitritt sind. Vier Fünftel der Befragten halten die Türkei nicht für ein europäisches Land. Beitrittsverhandlungen unterstreichen daher das Demokratiedefizit der bisherigen Vorentscheidungen. Das Ideal des mündigen Bürgers spielt für sie keine Rolle mehr. DieGenerationengerechtigkeit wird ebenfalls ignoriert, obwohl kommenden Generationen mit einem Türkei-Beitritt aberwitzige Kosten ohne erkennbare überzeugende Gegenleistungen aufgebürdet würden.

- Kritiker eines Türkei-Beitritts wenden ein, dass Berlin sich ungefährdet türkeifreundlich gebärden könne, da Einstimmigkeit bei der Aufnahmeprozedur von den 25 (vielleicht sogar 28) EU-Staaten schlechterdings nicht zu erwarten sei, insbesondere die osteuropäischen Mitglieder würden ihre Eigeninteressen gegen jede Schmälerung zugunsten der Türkei zu verteidigen wissen. Außerdem: Wenn von ca. 600 000 wahlberechtigten Staatsbürgern türkischer Herkunft tatsächlich - so die demoskopischen Umfragen - 80 Prozent für Rot-Grün stimmen sollten, lohne sich, zumal mit dem Blick auf den geringen Stimmenunterschied im Wahljahr 2002, die türkeifreundliche Rhetorik allemal. Im Kern sind das unredliche oder parteiegoistische Hoffnungen, die der Dimension der Problematik völlig unangemessen sind.

Längst hätte die europäische Politik an Stelle der Alternative von Vollmitgliedschaft oder Außenseiterrolle vielfältige, flexible Stufen der Kooperation entwickeln sollen. Ein großes Nachbarland wie die Türkei, mit dem freundschaftliche Beziehungen geboten sind, verdiente, so gesehen, durchaus eine "privilegierte Partnerschaft", als nichteuropäischer Staat aber keineswegs die EU-Mitgliedschaft. Auch das Wählerstimmenkalkül setzt sich über alle überzeugenden Einwände gegen einen Türkei-Beitritt hinweg. Dabei könnte sich eine rationale Interessenabwägung schon die beiden besonders triftigen Gegenargumente nicht außer Acht lassen, die Bedrohung mit der letalen Überforderung aller Ressourcen, erst recht die unvermeidbare Zerstörung des großen Projekts der europäischen Staatenunion durch die Aufnahme eines nichteuropäischen muslimischen Staates.

Dr. phil., geb. 1931; Professor emeritus; 1971 - 1996 Ordinarius für Allgemeine Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Bielefeld.
Anschrift: Fakultät für Geschichtswissenschaft Universität Bielefeld, Postfach 100131, 33501 Bielefeld.

Veröffentlichungen u. a.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 4 Bde., München 1987 - 2003; Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, München 2003.