Der Erste Weltkrieg in der deutschen und internationalen Geschichtsschreibung
Die Weltkriegshistoriographie nach 1945
Die westdeutsche Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg während der späten 1940er und in den 1950er Jahren knüpfte nahtlos an die Geschichtsdeutungen in der Weimarer Republik an. Neue Forschungen fanden so gut wie nicht statt; sie wurden auch nicht als notwendig empfunden. Stattdessen wurden ältere Interpretationen neu formuliert, die als Variationen des berühmten Lloyd-George-Verdikts gelten können: "All powers slithered over the brink into the boiling cauldron of war", zumeist übersetzt: "Wir sind alle hineingeschlittert." Bereits die ersten Schriften der beiden bedeutendsten deutschen Historiker nach Kriegsende, Gerhard Ritters "Dämonie der Macht" und Friedrich Meineckes "Deutsche Katastrophe", wiesen jeden Gedanken an eine veränderte Sicht des Ersten Weltkriegs weit von sich.[14] Beide bemühten die Erklärungsmuster der Zwischenkriegszeit zur Schuldfrage. Ritter beschwor die "militärisch-politische Zwangslage, die unsere Diplomatie im Moment der großen Weltkrisis im Juli 1914 geradezu in Fesseln schlug"[15]. Mit ihrem nicht einmal unbedingt ideologisch motivierten Beharren auf Werten und Verfahren einer älteren Nationalgeschichtsschreibung verstellten sich diese Historiker nicht nur die Möglichkeit, überkommene Sichtweisen kritisch zu hinterfragen, sondern auch, die inzwischen sehr intensive Forschung des Auslands zum Ersten Weltkrieg einzubeziehen. Dies galt vor allem für das mit großer Akribie und feinsinniger Quellenkritik verfasste Werk zur Julikrise 1914 des italienischen Publizisten und Historikers Luigi Albertini "Le origine della guerra" (ursprünglich 1942/43), dessen englische Übersetzung in den fünfziger Jahren von deutschen Historikern für kaum der Erörterung wert befunden wurde.[16] Obwohl für Albertini alle europäischen Staatsmänner Verantwortung für den Ausbruch des Krieges trugen, sah er Deutschland doch als die treibende Kraft: Ohne den deutschen Druck in der Julikrise hätte sich Österreich-Ungarn niemals zum kriegerischen Vorgehen gegen Serbien entschlossen. Selbst die vorsichtig-kritische Position ihres Kollegen Ludwig Dehio, der bereits 1951 die "singuläre Dynamik" des Deutschen Reiches und dessen Politik vor 1914 als ein sich ständig verschärfendes "Kriegsrisiko" bezeichnet hatte, wurde von deutschen Historikern nicht wirklich aufgegriffen.[17]
Aus eben dieser "Burgsicherungs-Mentalität" (Wolfgang Jäger) heraus erklärt sich auch die Heftigkeit der Reaktion auf Fritz Fischers Darstellung und seine Beurteilung der deutschen Verantwortung für den Kriegsausbruch, die dieser 1961 in seinem berühmten Buch "Griff nach der Weltmacht" präsentierte. Die Fischer-Kontroverse wurde zum ersten "Historikerstreit" der deutschen Nachkriegsgeschichte; seine Auswirkungen gingen weit über die historische Zunft hinaus. Publizisten und Politiker, unter ihnen Bundeskanzler Ludwig Erhard und Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß, aber auch große Teile des Bildungsbürgertums reagierten irritiert, teilweise auch aggressiv auf die von Fischer konstatierte Verantwortung der deutschen Eliten für den Kriegsausbruch. Die Reaktionen der meisten Historiker, insbesondere der älteren Generation, reichten von Ungläubigkeit und Schock bis hin zu offener Feindseligkeit.[18] Der Doyen der westdeutschen Historiker, Gerhard Ritter, sprach den meisten seiner Kollegen aus dem Herzen, als er 1962 in einer Besprechung inder "Historischen Zeitschrift" Fischer der "wissenschaftlichen und politischen Verantwortungslosigkeit" zieh: "So vermag ich das Buch nicht ohne Traurigkeit aus der Hand zu legen: Traurigkeit und Sorge im Blick auf die kommende Generation."[19]
Zu Recht ist betont worden, dass ohne Fritz Fischers Forschungen und die sich anschließenden deutschen wie internationalen Debatten die moderne Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg nicht nur einen anderen Verlauf genommen, sondern dass es sie in dieser Intensität nicht gegeben hätte. Fischers Thesen und Schlussfolgerungen, die er in einer Reihe von Punkten revidiert und ergänzt hat, stellen heute keine Herausforderung für die Geschichtswissenschaft mehr dar. An der erheblichen Verantwortung des Deutschen Reiches für den Kriegsausbruch zweifelt kaum noch ein seriöser Historiker, wie andererseits Fischers These von der Kontinuität der deutschen Eliten und Kriegsziele ("von Wilhelm II. bis Hitler") inzwischen entschiedenen und substantiellen Widerspruch erfahren hat. Zu ihrer Zeit halfen Fischers Arbeiten und die seiner Schüler dabei, die tradierte nationalkonservative Sicht einer deutschen "Kriegsunschuld" zu überwinden und die Voraussetzungen für einen neuen Blick auf das Kaiserreich wie die Geschichte des Ersten Weltkriegs zu schaffen.[20] Für die ebenfalls seit den frühen 1960er Jahren bemerkenswert engagierte Forschung der DDR-Historiker zum Ersten Weltkrieg bildeten die Arbeiten Fischers lange Zeit gleichsam ein Gradmesser für die Beurteilung der "übrigen westdeutschen Forschung", die fortan "nach ihrer Nähe oder Distanz zu Fischer beurteilt wurde"[21].
Die Ironie der Fischer-Debatte lag darin, dass Fischer selbst den konventionellen methodischen Ansatz einer klassischen Politik- bzw. Diplomatiegeschichte präsentierte. Seine Darlegungen basierten fast ausschließlich auf regierungsamtlichen und anderen offiziellen Quellen. Fischer lehnte es ab, die Erinnerungsliteratur zum Weltkrieg oder auch Autobiographien der Protagonisten als Primärquellen heranzuziehen. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Fragestellungen waren weitgehend ausgeklammert oder blieben den politischen Entscheidungen untergeordnet. Erst allmählich - gleichsam mit jeder Neuauflage seiner Weltkriegsstudien - erweiterte sich Fischers politik- und diplomatiegeschichtlicher Horizont durch die Einbeziehung sozioökonomischer Faktoren über die Ursachen des Krieges ebenso wie die von ihm propagierte Kontinuität zwischen dem wilhelminischen und dem nationalsozialistischen Deutschland. In dieser Hinsicht trug Fischer nicht wenig zum Theorem eines deutschen "Sonderwegs" (insbesondere Bielefelder Provenienz) bei.[22]
In den 1970er Jahren erschienen eine Reihe grundlegender Studien aus dem Umkreis der Hamburger Schule Fritz Fischers, aber auch von anderen Historikern, die verstärkt sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen aufgriffen. Naturgemäß stand die Organisation der Kriegswirtschaft im Zentrum, aber auch Ursache und Auswirkung der kriegsbedingten Inflation, der Beziehungen auf dem Arbeitssektor sowie allgemein die politischen und ökonomischen Verwerfungen innerhalb der deutschen Gesellschaft als Folge des Krieges.
Die beiden wichtigsten und zugleich einflussreichsten Arbeiten dieser Forschungsperiode waren die Arbeit des amerikanischen Historikers Gerald D. Feldman über "Army, Industry and Labor" sowie Jürgen Kockas Studie über die deutsche "Klassengesellschaft im Krieg". Insbesondere Kockas Anregung, die Ursachen der Novemberrevolution aus den gesellschaftlichen Verteilungskonflikten der Kriegsjahre zu erklären, stieß auf große Resonanz. Kockas Studie ist ein treffendes Beispiel für die in den 1970er Jahren dominante "historische Sozialwissenschaft" mit ihrer vielleicht notwendigen Einseitigkeit in Bezug auf die von ihr aufgeworfenen sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Fragen.[23]