Der Erste Weltkrieg in der deutschen und internationalen Geschichtsschreibung
Auf dem Weg zu einer Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges
Die Vielfalt der Quellen und die offene Herangehensweise bei der Suche nach dem Alltagsleben im Krieg verweisen auf eine historiographische Tradition, die sich in Frankreich als "Annales-Schule" etabliert hat. Obgleich die "histoire des mentalités", wie sie von den Straßburger Historikern Marc Bloch und Lucien Febvre in den späten 1920er Jahren begründet wurde, über keine verbindliche Theorie verfügt, hat sie Wege aufgezeichnet, wie sich Mentalitäten, kollektive Wahrnehmungen und Erfahrungen "einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zu einer bestimmten Zeit", erforschen lassen.[40] Der Einfluss der Annales-Schule auf die französische Geschichtsschreibung ist evident: Marc Ferro, Guy Pedroncini, Antoine Prost, Jean-Jacques Becker, Stéphane Audoin-Rouzeau und Annette Becker sind zu dieser Tradition zu rechnen.[41] Besonders J.-J. Beckers Studie über die Reaktionen der Franzosen auf den Kriegsbeginn evozierte starkes Interesse.[42] In der französischen Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg hat sich der Begriff einer Kulturgeschichte des Krieges ("guerre et cultures")[43] eingebürgert.
Der amerikanische Historiker Jay Winter unterstreicht den Einfluss der Annales-Schule auch für die britische Weltkriegsforschung. Er attestiert ihr, dass sie "zahlreiche Elemente der Kulturgeschichte des Großen Kriegs hervorgebracht" habe.[44] Samuel Hynes' faszinierende Untersuchung über die britische Kultur unter den Bedingungen des Weltkriegs ("A War Imagined") ist ein solches Beispiel.[45] Zugleich zeigt sich in der Arbeit von Hines eine starke Ausrichtung an der literaturwissenschaftlich geprägten Erinnerungsforschung US-amerikanischer Forscher, deren berühmtestes Beispiel für die Zeit des Ersten Weltkriegs nach wie vor die Arbeit von Paul Fussell ist.[46]
Deutsche Historiker griffen mentalitätsgeschichtliche Fragen zunächst nur zögerlich auf. Die erste Untersuchung über Kriegsmentalität, die eine traditionelle Sozialgeschichte und die neue Alltagsgeschichte mit ihrer "Sicht von unten" verband, war Volker Ullrichs Buch über Hamburg im Ersten Weltkrieg mit dem seinerzeit fast provozierenden Titel "Kriegsalltag".[47] Sein wichtigster Befund war, dass es kein homogenes, von euphorischen Stimmungen abhängiges "August-Erlebnis" gegeben habe und dass die öffentliche Stimmung, zumal in den Arbeitervororten Hamburgs, während der ersten Kriegstage starken Schwankungen unterlag, die von örtlichen Gegebenheiten und schichtenspezifischen Bedingungen geprägt waren. Von Hurra-Patriotismus allerorten und einer generellen Kriegsbegeisterung könne keine Rede sein. Eine Reihe von Studien, die sich mit dem ländlichen Raum oder mit Grenzregionen des Reiches beschäftigten, bestätigen Ullrichs Erkenntnisse. Hierzu zählen Benjamin Ziemanns Darstellung der ländlichen Kriegserfahrungen in Bayern sowie Christian Geinitz' äußerst konzise Studie über das so genannte "August-Erlebnis" in der Universitätsstadt Freiburg im Breisgau. Ihre Befunde werden von dem in Berlin lebenden amerikanischen Historiker Jeffrey Verhey bekräftigt, der die geradezu mythische Tiefenwirkung des "Geistes von 1914" auf die politische Kultur der Nachkriegszeit betont.[48] Vielleicht lässt sich in der regionalgeschichtlichen Orientierung, in der Diskussion allgemeiner Thesen in einem überschaubaren geographischen Kontext, der zentrale Beitrag der deutschen Geschichtswissenschaft zur Historiographie des Ersten Weltkriegs erkennen.[49]
Seit einigen Jahren haben die deutschen Historiker damit begonnen, sich mit der kulturellen Verarbeitung des Weltkrieges, seiner Gedächtnis- und Erinnerungsgeschichte, zu beschäftigen. Entscheidende Anstöße kamen von dem amerikanischen Historiker George L. Mosse, dessen Arbeiten zum "Kult der Gefallenen" ("Fallen Soldiers") und zum "Mythos des Kriegserlebnisses" starke Beachtung fanden.[50] Die Arbeiten von Reinhart Koselleck, Michael Jeismann, Susanne Brandt und Sabine Behrenbeck sind überzeugende Beispiele für eine Darstellung der sich in Deutschland nach Kriegsende vollziehenden Auseinandersetzung mit Symbolen von Massentod und Gewalterfahrung.[51] Gleiches kann für die Dokumentation der intellektuellen und ästhetischen Verarbeitungen der Kriegserfahrungen durch Gelehrte, Schriftsteller und Künstler gelten, wo über den Kreis der Eliten hinaus nun auch weniger bedeutende, aber gleichwohl wirkungsmächtige Personen in Augenschein genommen werden.[52]
Im Umkreis des "Historial de la Grande Guerre" in Péronne, dem derzeit aktivsten internationalen Forschungszentrum zum Ersten Weltkrieg, hat in jüngerer Zeit eine Forschungsrichtung Auftrieb erhalten, welche die im Weltkrieg häufig feststellbare "Kriegseschatologie" als Konsequenz eines teilweise als "heilig" aufgefassten "Kriegs der Kulturen" betrachtet.[53]
Die hier skizzierten Ansätze einer Alltags-, Mentalitäts- und Erinnerungsgeschichte gestatten es, sich auch um eher traditionelle Themen und historische Felder zu bemühen und diese mit aktuellen historiographischen Konzepten zu verbinden. Dies gilt beispielsweise für die vernachlässigte Strukturgeschichte, aber auch für die traditionelle Kriegs- und Militärgeschichte. Bedarf besteht nach wie vor an einer vergleichenden Betrachtung politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und mentaler Prozesse. Die von Jay Winter und Jean-Louis Robert auf den Weg gebrachten sozioökonomischen und demographischen Forschungen zu drei europäischen Hauptstädten kriegführender Staaten (London, Paris, Berlin) stellen ein beeindruckendes Zwischenergebnis dar.[54]
Woran es der deutschen Weltkriegsforschung mangelt, ist ein allseits akzeptierter Begriff, der die vielfältigen Ansätze verbindet. "Kulturgeschichte des Krieges" - dieser von angelsächsischen und französischen Historikern adaptierte Terminus ist wegen seiner internationalen Konnotationen attraktiv, in der deutschen Diskussion wirft er aber Probleme auf: "Kulturgeschichte" scheint historisch überfrachtet, die Wurzeln dieses Begriffs reichen tief in die deutsche Philosophie und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts zurück. Zudem weist "Kultur" in Verbindung mit dem Ersten Weltkrieg auf die Ausbildung eines nationalen "Sonderwegsbewusstseins" hin, das bereits vor 1914 alle Zeichen eines politischen und gesellschaftlichen Überlegenheitsanspruchs gegenüber anderen Nationen in sich barg.[55] Es bedurfte eines weiteren, noch schrecklicheren Krieges, um diese betont antiwestlich orientierte deutsche "Kultur" obsolet werden zu lassen.
Kulturgeschichte des Krieges als ein gegenüber anderen Human- und Sozialwissenschaften offenes Konzept, wie es jüngst von Ute Daniel als Diskursangebot vorgestellt wurde,[56] hat dennoch alle Chancen, sowohl die Objekte, die historischen Themen, als auch die Subjekte, die methodische Selbstreflexion der Kulturgeschichtsschreibung, angemessen zu würdigen. Eine derart interdisziplinär forschende Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs bietet hierzu die besten Voraussetzungen.