Der Erste Weltkrieg in der deutschen und internationalen Geschichtsschreibung
Für die deutschen Historiker hatte der Erste Weltkrieg nie seine zentrale Rolle in der modernen Geschichte verloren. Ansätze einer Alltags- und Erinnerungsgeschichte gestatten es, traditionelle Themen mit aktuellen historiographischen Konzepten zu verbinden.Einleitung
Anfang August 2004 jährt sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum neunzigsten Mal. Das historische Interesse an der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" (George F. Kennan) ist unverändert groß. Neue oder wieder aufgelegte Bücher, Zeitungsartikel und Magazinserien, Ausstellungen und Fernsehdokumentationen sowie eine steigende Zahl von Internetadressen deuten darauf hin, dass für Historiker, Journalisten, Ausstellungs- und Medienmacher die Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg noch lange nicht abgeschlossen ist.
Dass das sogar wachsende Interesse keineswegs nur medial aufbereiteten "Erinnerungsjahren" geschuldet ist, darauf weisen steigende Besucherzahlen der einschlägigen Museen hin, so etwa das 1992 im nordfranzösischen Péronne an der Somme eröffnete, vorbildlich international konzipierte "Historial de la Grande Guerre" oder die mit modernster musealer Technik inszenierte Dauerausstellung des Weltkriegsmuseums von Ypern (Belgien) "In Flanders Fields". Für Belgier, Briten und Franzosen bleibt der Erste Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis dieser Länder schon aufgrund der immens hohen Zahlen ihrer gefallenen, vermissten und verwundeten Soldaten stets der "Große Krieg" ("De Groote Oorlog", "The Great War", "La Grande Guerre"). Demgegenüber scheint in der Erinnerung der meisten Deutschen der Zweite Weltkrieg die Ereignisse des Ersten inzwischen überlagert zu haben - ähnlich wie das in Russland und anderen Ländern Ost- und Ostmitteleuropas der Fall ist, wo der "Große Vaterländische Krieg" schon durch die unermessliche Zahl der Opfer die Erinnerung an den Ersten weithin verdrängt hat. Inzwischen allerdings beginnt sich in Deutschland das "historische Gedächtnis" beider Weltkriege zu verändern: Mit der zunehmenden Historisierung der Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden beide Weltkriege stärker aufeinander bezogen und gemeinsam "erinnert". Das von General Charles de Gaulle in seinem Londoner Exil geprägte, in den 1950er Jahren von Raymond Aron verwandte und jüngst von Hans-Ulrich Wehler aufgegriffene Schlagwort vom "zweiten Dreißigjährigen Krieg" 1914 bis 1945 macht die Runde.[1]
Für die deutschen Historiker hatte der Erste Weltkrieg nie seine zentrale Rolle in der modernen deutschen und europäischen Geschichte verloren. Natürlich gab es Phasen unterschiedlicher Intensität bei der Beschäftigung der "Zunft" mit diesem Krieg. Der Düsseldorfer Weltkriegsforscher Gerd Krumeich hat von einem historiographischen Paradigma gesprochen, das sich in der Regel etwa alle zehn Jahre verändert habe.[2] Man sollte hinzufügen, dass einige dieser Paradigmen entschieden länger bestanden haben, bevor sie durch andere ersetzt wurden, und bei anderen wiederum stellt sich der Eindruck ein, dass sie ihre historische Wirkungsmächtigkeit nach wie vor entfalten.
Die Weltkriegshistoriographie 1919 bis 1945
Die Geschichtsschreibung nach dem Ersten Weltkrieg war wie die historisch-politische Debatte in der Weimarer Republik vor allem durch die so genannte "Kriegsschuldfrage" geprägt: Welches Land trug die Verantwortung für den Ausbruch des Krieges? Zur berüchtigten "Dolchstoßlegende" von Rechts gesellte sich bereits unmittelbar nach dem Ende des Krieges eine verhängnisvolle "Kriegsunschuldlegende", an deren Zustandekommen auch Repräsentanten der linken und liberalen Parteien beteiligt waren. Die "Kriegsunschuldlegende" sollte nach dem Willen zahlreicher Weimarer Demokraten als gleichsam emotionale Klammer für die auseinander strebenden politischen und gesellschaftlichen Kräfte der jungen Republik wirken. Damit erwies sich die Ablehnung des Friedensvertrages von Versailles (insbesondere die in Artikel 231 festgelegte Verantwortung für den Weltkrieg) einmal mehr als das einzige "emotional wirksame Integrationsmittel" (Hagen Schulze), über das die Republik gebot. Der Kampf gegen die alliierte "Kriegsschuldlüge" verhinderte aber zugleich den notwendigen historischen Bruch mit der Vergangenheit und trug entscheidend zur politischen wie zur "moralischen Kontinuität" (Heinrich-August Winkler) zwischen dem wilhelminischen Kaiserreich und der Weimarer Republik bei.[3]
Die von Seiten der Regierungen geforderte oder verantwortete Widerlegung der Versailler "Kriegsschuldlüge" überschattete alle anderen historiographischen Fragen. Vor allem dem eigens eingerichteten Kriegsschuldreferat des Auswärtigen Amtes oblag die Aufgabe, wenn schon nicht die vollständige, so doch die relative Unschuld Deutschlands nachzuweisen. Überraschenderweise spielten Universitätshistoriker bei dieser "wissenschaftlichen" Aufarbeitung der Kriegsschuldfrage nur eine untergeordnete Rolle. Zu der professoralen Minderheit, welche die Kampagne mittrug, gehörten die Tübinger bzw. Stuttgarter Historiker Dietrich Schäfer und Johannes Haller. Wenngleich die meisten Historiker, die fast ausnahmslos einen so genannten "nationalen" Standpunkt einnahmen, sich nach 1919 tagespolitisch abseits hielten, blieben doch die politischen Erfahrungen und der "Interpretationsrahmen" (Christoph Cornelißen) des Ersten Weltkriegs prägend. Als engagierte Befürworter der Idee eines historischen deutschen Sonderwegs - selbst der "Vernunftrepublikaner" Friedrich Meinecke sprach von der "Singularität des deutschen Problems" - lehnte die Mehrheit der Historiker die Weimarer Republik als Ausdruck westlichen Staatsdenkens und aufgezwungener politischer Ideen ab. So wurde in vielerlei Hinsicht die 1914 begonnene Kriegsdebatte über "Kultur und Zivilisation" fortgeführt. Was den Ausgang des Ersten Weltkriegs anging, so galt dieser als nicht abgeschlossene Vergangenheit.[4]
Weder in Deutschland noch in Frankreich oder Großbritannien fand der Erste Weltkrieg in den 1920er und 1930er Jahren eine historiographische Darstellung, die jenseits eng gefasster militärgeschichtlicher Fragestellungen wissenschaftlichen Ansprüchen genügt hätte. Das lange Zeit - eigentlich bis in die 1960er Jahre - vorherrschende Thema blieb die unmittelbare Vorgeschichte des Krieges und die alles dominierende Frage nach den politischen Ursachen und Verantwortlichkeiten. Da das Verhalten der deutschen Regierung in der Julikrise 1914 im Nachhinein auch von den engagiertesten Verfechtern deutscher Unschuld als zumindest ungeschickt angesehen wurde, war diedeutsche Geschichtswissenschaft bemüht, die gesamte Zeit "von Bismarck zum Weltkrieg" (Erich Brandenburg) als "Vorgeschichte" des Krieges darzustellen. Dabei suchte sie nachzuweisen, dass sich im Zeitalter des europäischen Imperialismus eine Mächtekonstellation herausgebildet habe, in der das spät erwachte, dann aber gleichsam riesenhaft wachsende Deutschland an der natürlichen Entfaltung seiner Kräfte gehindert worden sei. Deutschland habe sich vor 1914 - so die überwiegende Auffassung der deutschen Historiker - in einem Zustand notwendiger "Verteidigung" nicht allein seiner Interessen, sondern geradezu seiner Existenz befunden. Immer wieder verwiesen sie darauf, dass diese gegen Deutschland gerichtete Konstellation auch in der Julikrise wirksam gewesen sei, symbolisiert etwa in dem Bemühen der späteren Kriegsgegner, die deutschen Anstrengungen zur "Lokalisierung" des Konflikts auf einen "Kleinkrieg" Österreich-Ungarns gegen Serbien zu hintertreiben.[5]
Die vom Reichsarchiv zwischen 1925 und 1944 erarbeitete kriegsgeschichtliche Bilanz "Der Weltkrieg 1914 - 1918" stand ganz in der Tradition preußischer Generalstabswerke des 19. Jahrhunderts. Sie war geprägt vom Bemühen, die "Ehre des deutschen Heeres" (bzw. seiner Generalität) zu wahren und sie gegen jegliche "zivilistische" Kritik abzuschirmen. Die letzten beiden Bände wurden elf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nun vom westdeutschen Bundesarchiv, veröffentlicht. Allerdings lassen sich beim militärgeschichtlichen "Weltkriegswerk" durchaus innovative methodische Ansätze feststellen, etwa mit der Befragung von Zeitzeugen bei fehlenden Primärquellen.[6]
Auch die Historiker der "Siegermächte" unternahmen zunächst keinen Versuch, eine Gesamtdarstellung zu schreiben. Auch bei ihnen dominierte die"Generalstabshistoriographie" (Markus Pöhlmann) sowie eine grundsätzliche Trennung von militärischer und politischer Geschichte. Dies gilt etwa für das große offizielle Werk des französischen Kriegsministeriums "Les armées françaises dans la Grande Guerre", das von Aufbau und Struktur her verblüffende Ähnlichkeiten mit dem 14-bändigen "Weltkriegswerk" des Reichsarchivs aufweist. Allerdings war die der französischen Darstellung zugrunde liegende Argumentation nicht annähernd so defensiv-militaristisch wie die der deutschen.[7]
Die auffällige Zurückhaltung hing mit der weit verbreiteten Scheu vieler Historiker vor der "Zeitgeschichte" zusammen, die quellenmäßig noch weithin als ungesichert galt. Für die deutschen Historiker mag auch die Überzeugung ausschlaggebend gewesen sein, dass der Krieg mit dem Frieden von Versailles nicht aufgehört hatte. Angesichts der fortdauernden Auseinandersetzungen um die neuen nationalen Grenzen in Europa, unter dem Eindruck der Freikorpskämpfe im Baltikum und in Oberschlesien, der Rheinlandbesetzung und des "Kampfes um die Ruhr" sowie geprägt von der in der Gesellschaft der Weimarer Republik vorhandenen allgemeinen Gewaltbereitschaft setzte sich "der Krieg in den Köpfen" (Jost Dülffer) gleichsam als "Krieg nach dem Krieg" fort.[8] In den 1920er Jahren wurden die weit verbreiteten Studien französischer und angelsächsischer Historiker und Publizisten, welche die deutsche Kampagne gegen die Kriegsschuld untermauern sollten, von deutschen Regierungsstellen, vor allem vom Kriegsschuldreferat des Auswärtigen Amtes, finanziell unterstützt.[9]
Einen bemerkenswerten Kontrapunkt bildeten die bis heute von der Weltkriegsforschung weithin übersehenen Länderstudien der amerikanischen Stiftung Carnegie Endowment for International Peace. Auch wenn der wissenschaftliche Ertrag der in 18 nationalen Serien (von 1911 bis 1941) versammelten Studien sehr unterschiedlich ausfällt, so enthalten doch etliche der Forschungsarbeiten interessantes Material. Dies gilt für die Untersuchungen sowohl zu den ökonomischen Entwicklungen und staatlichen Maßnahmen während des Krieges wie zu den sozialen und mentalen Kriegsfolgen, beispielsweise Moritz Liepmanns wichtige Studie über "Krieg und Kriminalität in Deutschland" von 1930.[10]
In den ersten Jahren der nationalsozialistischen Diktatur änderten viele deutsche Historiker nur ihre Fragestellung. Statt "Wer war für den Ausbruch verantwortlich?" lautete nun das verbreitete Leitmotiv: "Was ging schief, und wie können wir verhindern, dass sich ähnliche Fehler künftig wiederholen?" Auf der Basis historischer Stereotypen und gleichsam mythischer Beschwörungen von Schlachtenorten wie Tannenberg, Langemarck und Verdun vollzog sich die "Wehrhaftmachung" der deutschen Geschichtsschreibung.[11] Die militärischen Siege über Belgien und Frankreich im Frühsommer 1940 wurden vom NS-Regime als das wahre Ende des Ersten Weltkriegs gefeiert, wobei sich die Führung der Zustimmung der meisten Deutschen sicher sein konnte. Selbst liberale und konservative Gegner des Regimes, so der Historiker Friedrich Meinecke, empfanden diese Siege als persönliche Genugtuung. In einem Brief an seinen Kollegen Siegfried Kaehler von Anfang Juli 1940 bekannte Meinecke: "Freude, Bewunderung und Stolz auf dieses Heer müssen zunächst auch für mich dominieren. Und Straßburgs Wiedergewinnung! Wie sollte einem da das Herz nicht schlagen."[12]
Im Herbst 1940 fanden in Verdun und auf dem Soldatenfriedhof von Langemarck militärische Gedenkfeiern statt, die das Ende des Ersten Weltkriegs symbolisieren sollten. Bereits am 12. Juni 1940 war im "Völkischen Beobachter" ein Bild erschienen, auf dem ein Wehrmachtsoldat zu sehen war, der die Reichskriegsflagge (mit Hakenkreuz) in französischen Boden pflanzte. Darunter stand der Satz, den der Wehrmachtsoldat den imaginierten Kameraden des Ersten Weltkriegs zurief: "Und Ihr habt doch gesiegt."[13]
Die Weltkriegshistoriographie nach 1945
Die westdeutsche Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg während der späten 1940er und in den 1950er Jahren knüpfte nahtlos an die Geschichtsdeutungen in der Weimarer Republik an. Neue Forschungen fanden so gut wie nicht statt; sie wurden auch nicht als notwendig empfunden. Stattdessen wurden ältere Interpretationen neu formuliert, die als Variationen des berühmten Lloyd-George-Verdikts gelten können: "All powers slithered over the brink into the boiling cauldron of war", zumeist übersetzt: "Wir sind alle hineingeschlittert." Bereits die ersten Schriften der beiden bedeutendsten deutschen Historiker nach Kriegsende, Gerhard Ritters "Dämonie der Macht" und Friedrich Meineckes "Deutsche Katastrophe", wiesen jeden Gedanken an eine veränderte Sicht des Ersten Weltkriegs weit von sich.[14] Beide bemühten die Erklärungsmuster der Zwischenkriegszeit zur Schuldfrage. Ritter beschwor die "militärisch-politische Zwangslage, die unsere Diplomatie im Moment der großen Weltkrisis im Juli 1914 geradezu in Fesseln schlug"[15]. Mit ihrem nicht einmal unbedingt ideologisch motivierten Beharren auf Werten und Verfahren einer älteren Nationalgeschichtsschreibung verstellten sich diese Historiker nicht nur die Möglichkeit, überkommene Sichtweisen kritisch zu hinterfragen, sondern auch, die inzwischen sehr intensive Forschung des Auslands zum Ersten Weltkrieg einzubeziehen. Dies galt vor allem für das mit großer Akribie und feinsinniger Quellenkritik verfasste Werk zur Julikrise 1914 des italienischen Publizisten und Historikers Luigi Albertini "Le origine della guerra" (ursprünglich 1942/43), dessen englische Übersetzung in den fünfziger Jahren von deutschen Historikern für kaum der Erörterung wert befunden wurde.[16] Obwohl für Albertini alle europäischen Staatsmänner Verantwortung für den Ausbruch des Krieges trugen, sah er Deutschland doch als die treibende Kraft: Ohne den deutschen Druck in der Julikrise hätte sich Österreich-Ungarn niemals zum kriegerischen Vorgehen gegen Serbien entschlossen. Selbst die vorsichtig-kritische Position ihres Kollegen Ludwig Dehio, der bereits 1951 die "singuläre Dynamik" des Deutschen Reiches und dessen Politik vor 1914 als ein sich ständig verschärfendes "Kriegsrisiko" bezeichnet hatte, wurde von deutschen Historikern nicht wirklich aufgegriffen.[17]
Aus eben dieser "Burgsicherungs-Mentalität" (Wolfgang Jäger) heraus erklärt sich auch die Heftigkeit der Reaktion auf Fritz Fischers Darstellung und seine Beurteilung der deutschen Verantwortung für den Kriegsausbruch, die dieser 1961 in seinem berühmten Buch "Griff nach der Weltmacht" präsentierte. Die Fischer-Kontroverse wurde zum ersten "Historikerstreit" der deutschen Nachkriegsgeschichte; seine Auswirkungen gingen weit über die historische Zunft hinaus. Publizisten und Politiker, unter ihnen Bundeskanzler Ludwig Erhard und Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß, aber auch große Teile des Bildungsbürgertums reagierten irritiert, teilweise auch aggressiv auf die von Fischer konstatierte Verantwortung der deutschen Eliten für den Kriegsausbruch. Die Reaktionen der meisten Historiker, insbesondere der älteren Generation, reichten von Ungläubigkeit und Schock bis hin zu offener Feindseligkeit.[18] Der Doyen der westdeutschen Historiker, Gerhard Ritter, sprach den meisten seiner Kollegen aus dem Herzen, als er 1962 in einer Besprechung inder "Historischen Zeitschrift" Fischer der "wissenschaftlichen und politischen Verantwortungslosigkeit" zieh: "So vermag ich das Buch nicht ohne Traurigkeit aus der Hand zu legen: Traurigkeit und Sorge im Blick auf die kommende Generation."[19]
Zu Recht ist betont worden, dass ohne Fritz Fischers Forschungen und die sich anschließenden deutschen wie internationalen Debatten die moderne Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg nicht nur einen anderen Verlauf genommen, sondern dass es sie in dieser Intensität nicht gegeben hätte. Fischers Thesen und Schlussfolgerungen, die er in einer Reihe von Punkten revidiert und ergänzt hat, stellen heute keine Herausforderung für die Geschichtswissenschaft mehr dar. An der erheblichen Verantwortung des Deutschen Reiches für den Kriegsausbruch zweifelt kaum noch ein seriöser Historiker, wie andererseits Fischers These von der Kontinuität der deutschen Eliten und Kriegsziele ("von Wilhelm II. bis Hitler") inzwischen entschiedenen und substantiellen Widerspruch erfahren hat. Zu ihrer Zeit halfen Fischers Arbeiten und die seiner Schüler dabei, die tradierte nationalkonservative Sicht einer deutschen "Kriegsunschuld" zu überwinden und die Voraussetzungen für einen neuen Blick auf das Kaiserreich wie die Geschichte des Ersten Weltkriegs zu schaffen.[20] Für die ebenfalls seit den frühen 1960er Jahren bemerkenswert engagierte Forschung der DDR-Historiker zum Ersten Weltkrieg bildeten die Arbeiten Fischers lange Zeit gleichsam ein Gradmesser für die Beurteilung der "übrigen westdeutschen Forschung", die fortan "nach ihrer Nähe oder Distanz zu Fischer beurteilt wurde"[21].
Die Ironie der Fischer-Debatte lag darin, dass Fischer selbst den konventionellen methodischen Ansatz einer klassischen Politik- bzw. Diplomatiegeschichte präsentierte. Seine Darlegungen basierten fast ausschließlich auf regierungsamtlichen und anderen offiziellen Quellen. Fischer lehnte es ab, die Erinnerungsliteratur zum Weltkrieg oder auch Autobiographien der Protagonisten als Primärquellen heranzuziehen. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Fragestellungen waren weitgehend ausgeklammert oder blieben den politischen Entscheidungen untergeordnet. Erst allmählich - gleichsam mit jeder Neuauflage seiner Weltkriegsstudien - erweiterte sich Fischers politik- und diplomatiegeschichtlicher Horizont durch die Einbeziehung sozioökonomischer Faktoren über die Ursachen des Krieges ebenso wie die von ihm propagierte Kontinuität zwischen dem wilhelminischen und dem nationalsozialistischen Deutschland. In dieser Hinsicht trug Fischer nicht wenig zum Theorem eines deutschen "Sonderwegs" (insbesondere Bielefelder Provenienz) bei.[22]
In den 1970er Jahren erschienen eine Reihe grundlegender Studien aus dem Umkreis der Hamburger Schule Fritz Fischers, aber auch von anderen Historikern, die verstärkt sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen aufgriffen. Naturgemäß stand die Organisation der Kriegswirtschaft im Zentrum, aber auch Ursache und Auswirkung der kriegsbedingten Inflation, der Beziehungen auf dem Arbeitssektor sowie allgemein die politischen und ökonomischen Verwerfungen innerhalb der deutschen Gesellschaft als Folge des Krieges.
Die beiden wichtigsten und zugleich einflussreichsten Arbeiten dieser Forschungsperiode waren die Arbeit des amerikanischen Historikers Gerald D. Feldman über "Army, Industry and Labor" sowie Jürgen Kockas Studie über die deutsche "Klassengesellschaft im Krieg". Insbesondere Kockas Anregung, die Ursachen der Novemberrevolution aus den gesellschaftlichen Verteilungskonflikten der Kriegsjahre zu erklären, stieß auf große Resonanz. Kockas Studie ist ein treffendes Beispiel für die in den 1970er Jahren dominante "historische Sozialwissenschaft" mit ihrer vielleicht notwendigen Einseitigkeit in Bezug auf die von ihr aufgeworfenen sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Fragen.[23]
Die neue Weltkriegsforschung: Alltags- und Mentalitätsgeschichte
Seit Mitte der 1980er Jahre beobachten wir eine sehr unterschiedliche Herangehensweise der Historiker an die Geschichte des Ersten Weltkriegs. Es begann die Rückkehr des Individuums auf die historische Bühne und die Entdeckung des methodischen Ansatzes der so genannten "Alltagsgeschichte". "Alltag" ist kein exakter wissenschaftlicher Begriff, eher handelt es sich um einen "Sammelbegriff für unterschiedliche Formen und Annäherungen an die Alltagserfahrungen von Menschen" (Detlev Peukert).[24] Die Vertreter des Konzepts der "Alltagsgeschichte" sprachen von einem "radikalen Ansatz ohne theoretische und methodische Überfrachtung". Nicht von ungefähr wurden sie von ihren Kritikern, darunter den Vertretern der historischen Sozialwissenschaften Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka, wegen ihres Verzichts auf eine explizite theoretische Fundierung als "Barfuß-Historiker" bezeichnet, für die emotionale Hinwendung kritische Reflexion und Analyse ersetzen.[25] Für die Weltkriegsforscher war die Aneignung der Konzepte einer "Geschichte von unten", wie die Alltagsgeschichte gern charakterisiert wird, aber nicht nur ein wissenschaftlicher Reflex auf eine methodische Neuorientierung eines Teils der Geschichtswissenschaft. Der damals einsetzende Paradigmenwechsel war das Ergebnis eines tief empfundenen Unbehagens mit bisher beschrittenen historiographischen Wegen: der Politik- und Diplomatiegeschichte mit ihrer Betonung der Rolle der militärischen, politischen und wirtschaftlichen Eliten oder dem Ansatz der historischen Sozialwissenschaften, die sich mit ökonomischen und sozialen Strukturen beschäftigten, wobei das Individuum zumeist in einer abstrakten sozialen Gruppe oder Klasse verschwand.
Trotz der zweifellos vorhandenen Wertschätzung sozialhistorischer Konzepte und Ansätze lautete der Haupteinwand, den die Alltags- und Mentalitätshistoriker gegenüber einer reinen Strukturgeschichte erhoben, dass diese weithin eine "Geschichte des Krieges ohne den Krieg" sei.[26] Sie sei nicht in der Lage, sich mit dem wichtigsten Gegenstand der Geschichte angemessen auseinanderzusetzen, dem Menschen, und sie habe einen zentralen Aspekt der menschlichen Existenz im Kriege vernachlässigt: das so genannte "Kriegserlebnis". Nach eigenem Bekunden verstanden sich die Alltagshistoriker vor allem als Anwälte des gemeinen Soldaten. "Der Krieg des kleinen Mannes" lautete der Titel eines Sammelbandes, den der Freiburger Militärhistoriker Wolfram Wette als "Militärgeschichte von unten" 1992 veröffentlichte.[27] Wettes einführende Bemerkung, dass die etablierte Militärgeschichte sich bislang mit dem "kleinen Mann" nicht ausreichend beschäftigt habe, mochte für die deutsche Militärgeschichte zutreffen, für die britischen oder französischen Historiker der Weltkriege konnte sie nicht gelten.
Besonders in Großbritannien bestand schon immer ein ausgeprägtes Interesse an dem unbekannten Krieger, den "nur Gott kennt" (wie es in Rudyard Kiplings Formulierung "known only unto God" auf englischen Soldatengräbern eingemeißelt steht). Die Bedeutung des gemeinen Soldaten unterliegt zwar Schwankungen der historischen Konjunktur, doch in den Büchern von John Keegan, Denis Winter, Martin Middlebrook und Lyn Macdonald - um nur einige zu nennen - war die Figur des "Tommy Atkins" - wie man den gemeinen Soldaten in Großbritannien zu nennen pflegt - stets vorhanden.[28] Eine ähnliche Tradition, die subjektiven Erfahrungshorizonte der einfachen Leute zu ermessen, existiert auch in Frankreich. Die beinahe klassisch zu nennende Dokumentensammlung "Vie et mort des Françaises, 1914 - 1918" (zusammengestellt von André Ducasse, Jacques Meyer und Gabrielle Perreux) trägt nicht von ungefähr den Untertitel "Simple histoire de la Grande Guerre".[29]
Verglichen mit Großbritannien und Frankreich war das Interesse der deutschen Historiker am "kleinen Mann" (oder der "kleinen Frau") nur wenig ausgeprägt. Die Quellenedition der deutsch-amerikanischen Historikerin Hanna Hafkesbrink, die diese 1948 unter dem Titel "Unknown Germany. An inner chronicle of the First World War based on letters and diaries" veröffentlichte, blieb in Deutschland weithin unbekannt.[30] Drei Jahre nach dem Ende eines weiteren und für die Deutschen noch weitaus schrecklicheren Krieges konnte es kaum überraschen, dass kein deutscher Historiker von Hafkesbrinks Brief- und Tagebuchsammlung Notiz nahm - heute ist sie nahezu vergessen.
Mit dem Paradigmenwechsel in der Weltkriegsforschung hin zu einer Geschichte des Alltags im Krieg richtete sich das Interesse der Historiker verstärkt auf das "Kriegserlebnis": Wie erlebten Menschen aller Schichten - die Soldaten an der Front wie auch Frauen, Männer und Kinder in der Heimat - den Krieg? Hat der Krieg neue soziale Gegensätze geschaffen, oder bestätigte er nur den bestehenden gesellschaftlichen Status? Was bedeutete die Trennung der Soldaten von ihren Familien? Welche Rollen wurden den Frauen innerhalb und außerhalb der Familie zugewiesen? Brachte der Krieg für sie - wie gerne behauptet wird - einen Zugewinn an gesellschaftlicher und politischer Emanzipation? Welches Bild von den Weltkriegsfeinden existierte in der Bevölkerung und welche Mechanismen zu seiner Stabilisierung waren notwendig? An welche Ereignisse erinnerten sich die Menschen nach 1918, und wie gingen sie mit dieser Erinnerung unter den Bedingungen der Nachkriegsgesellschaft um?
Diese Art des "Kriegserlebnisses", die sowohl die Erfahrungen der Schützengräben als auch die der "Heimatfront" darzustellen trachtete, hatte wenig mit jenem soldatischen Blick gemein, der vor allem die nationalistische Erinnerungsliteratur der Weimarer Zeit beherrscht hatte. Zwischen Ernst Jüngers Tagebuchbeschreibungen des "stahlgewitternden" Krieges und seiner literarischen Schöpfung eines "Neuen Menschen" (des kämpfenden Mannes) auf dem Schlachtfeld und der empirischen Rekonstruktion der Kriegswirklichkeit durch die Alltagshistoriker liegen Welten - einmal abgesehen von Jüngers radikal-ästhetischen und auch politischen Auffassungen. Die Mehrheit der Kriegsteilnehmer konnte sich wohl kaum mit demvon ihm propagierten Draufgängertum der "Fürsten des Grabens mit den harten, entschlossenen Gesichtern (...) mit scharfen blutdürstigen Augen" identifizieren, wie Jünger die Soldaten an der Westfront in seinem frühen Werk "In Stahlgewittern" zu charakterisieren suchte.[31] Jüngers heroische Deutung war eine "ideologische Verzerrung der tatsächlichen Abläufe und mehr noch der mentalen Dispositionen und der Motive" der meisten Frontsoldaten.[32]
Die zu Beginn des Krieges propagierten Ideale der individuellen Tapferkeit und des selbstlosen Einsatzes für das Vaterland wurden rasch obsolet; gefragt waren Leidensfähigkeit und Durchhaltevermögen unter widrigsten Verhältnissen. Der heldenhafte Kampf unter den Bedingungen des Stellungskriegs reduzierte sich auf die Erfahrung von Kälte, Schlamm und Nässe, auf das Ertragen von Ungeziefer und Krankheiten und die verzweifelten Versuche, dem Artillerie- und Schrapnellbeschuss zu entkommen. Angesichts des anonymen Massensterbens verlor der Tod des Einzelnen seine Sinnhaftigkeit, nicht nur deshalb, weil die Körper der Gefallenen häufig bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt waren.[33] Bemerkenswerterweise stellte gerade diese Vorstellung für die Soldaten häufig genug eine traumatische Perspektive dar. "Durch die Kugel zu sterben, scheint nicht schwer; dabei bleiben die Teile unseres Wesens unversehrt; aber zerrissen, in Stücke gehackt, zu Brei gestampft zu werden, ist eine Angst, die das Fleisch nicht ertragen kann", so die Beschreibung der Todesumstände auf dem Schlachtfeld durch einen Soldaten in einem Feldpostbrief an seine Familie.[34]
Entscheidend für die Beschäftigung mit Kriegsalltag, Mentalitäten und den Erlebnissen der Menschen im Krieg war nicht zuletzt ein erweiterter Umgang mit den Quellen: mit Tagebüchern und Erinnerungen, mit Front- und Soldatenzeitungen, mit Bildern und Fotografien sowie vor allem mit den Kriegsbriefen, die in beide Richtungen zwischen der Front und der Heimat versandt wurden, der so genannten Feldpost. Vor allem die Entdeckung der Soldatenbriefe als einer bis vor kurzem noch weithin ungesicherten "popularen" Quelle erwies sich als wichtige Informationsgrundlage.[35] Feldpostbriefe, wie sie sich zu Tausenden in den Archiven des Londoner Imperial War Museums oder der Stuttgarter Bibliothek für Zeitgeschichte finden, stellen eine bedeutende Quelle für die "Erforschung der populären Kultur und der totalen Mobilisierung unter den Bedingungen industrieller Kriegführung" dar, so Aribert Reimann, der einen aufschlussreichen Vergleich zwischen deutscher und britischer Feldpost unternommen hat.[36]
Die Heranziehung privater Briefe zur Rekonstruktion des "Kriegsalltags" (Peter Knoch) ist unerlässlich, um jene Menschen zum Sprechen zu bringen, die sonst stumm geblieben wären. Einfache Soldaten, Bauern, Arbeiter und Angestellte wurden im Krieg angehalten - die Soldaten in regelmäßigen Abständen durch die so genannte "Schreibstunde" an der Front oder in der Etappe-, über ihre Erlebnisse Rechenschaft abzulegen. Natürlich gab es eine militärische Zensur, aber diese hatte auf die Art und Weise, wie Soldaten mit der Heimat kommunizierten, geringe Auswirkungen.[37] Für den Historiker gibt es vor allem methodische Probleme: Das offenkundige Unvermögen mancher Soldaten, sich angemessen zu artikulieren, oder aber die Absicht der Schreiber, ihren Familien den Horror des Krieges zu ersparen, zwingen dazu, "zwischen den Zeilen" zu lesen. Entsprechende Dokumentationen existieren auch für das "Alltagsleben" an der "Heimatfront", so in den Briefen und Tagebuchaufzeichnungen von Ehefrauen und Kindern, die den Gatten und Vater über die Ereignisse daheim auf dem Laufenden halten wollten. Private Briefe sind - neben Tagebüchern, Fotos und Frontzeitungen - die wichtigsten Quellen für die neue historiographische Annäherung an die Alltagsgeschichte des Ersten Weltkriegs. Ganz so neu allerdings sind derartige Dokumente keineswegs: Die zuerst 1916 publizierte Briefsammlung des Freiburger Germanistikprofessors Philipp Witkop, "Kriegsbriefe gefallener Studenten", stieß nach 1928 sowohl in Deutschland als auch - dank zahlreicher Übersetzungen - im Ausland auf ein auflagenstarkes Echo.[38] Eine vergleichbare Sammlung entstand Ende der 1920er Jahre, vermutlich unter dem Eindruck der Witkopschen Edition, in Großbritannien (Sammlung Laurence Housman).[39]
Auf dem Weg zu einer Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges
Die Vielfalt der Quellen und die offene Herangehensweise bei der Suche nach dem Alltagsleben im Krieg verweisen auf eine historiographische Tradition, die sich in Frankreich als "Annales-Schule" etabliert hat. Obgleich die "histoire des mentalités", wie sie von den Straßburger Historikern Marc Bloch und Lucien Febvre in den späten 1920er Jahren begründet wurde, über keine verbindliche Theorie verfügt, hat sie Wege aufgezeichnet, wie sich Mentalitäten, kollektive Wahrnehmungen und Erfahrungen "einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zu einer bestimmten Zeit", erforschen lassen.[40] Der Einfluss der Annales-Schule auf die französische Geschichtsschreibung ist evident: Marc Ferro, Guy Pedroncini, Antoine Prost, Jean-Jacques Becker, Stéphane Audoin-Rouzeau und Annette Becker sind zu dieser Tradition zu rechnen.[41] Besonders J.-J. Beckers Studie über die Reaktionen der Franzosen auf den Kriegsbeginn evozierte starkes Interesse.[42] In der französischen Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg hat sich der Begriff einer Kulturgeschichte des Krieges ("guerre et cultures")[43] eingebürgert.
Der amerikanische Historiker Jay Winter unterstreicht den Einfluss der Annales-Schule auch für die britische Weltkriegsforschung. Er attestiert ihr, dass sie "zahlreiche Elemente der Kulturgeschichte des Großen Kriegs hervorgebracht" habe.[44] Samuel Hynes' faszinierende Untersuchung über die britische Kultur unter den Bedingungen des Weltkriegs ("A War Imagined") ist ein solches Beispiel.[45] Zugleich zeigt sich in der Arbeit von Hines eine starke Ausrichtung an der literaturwissenschaftlich geprägten Erinnerungsforschung US-amerikanischer Forscher, deren berühmtestes Beispiel für die Zeit des Ersten Weltkriegs nach wie vor die Arbeit von Paul Fussell ist.[46]
Deutsche Historiker griffen mentalitätsgeschichtliche Fragen zunächst nur zögerlich auf. Die erste Untersuchung über Kriegsmentalität, die eine traditionelle Sozialgeschichte und die neue Alltagsgeschichte mit ihrer "Sicht von unten" verband, war Volker Ullrichs Buch über Hamburg im Ersten Weltkrieg mit dem seinerzeit fast provozierenden Titel "Kriegsalltag".[47] Sein wichtigster Befund war, dass es kein homogenes, von euphorischen Stimmungen abhängiges "August-Erlebnis" gegeben habe und dass die öffentliche Stimmung, zumal in den Arbeitervororten Hamburgs, während der ersten Kriegstage starken Schwankungen unterlag, die von örtlichen Gegebenheiten und schichtenspezifischen Bedingungen geprägt waren. Von Hurra-Patriotismus allerorten und einer generellen Kriegsbegeisterung könne keine Rede sein. Eine Reihe von Studien, die sich mit dem ländlichen Raum oder mit Grenzregionen des Reiches beschäftigten, bestätigen Ullrichs Erkenntnisse. Hierzu zählen Benjamin Ziemanns Darstellung der ländlichen Kriegserfahrungen in Bayern sowie Christian Geinitz' äußerst konzise Studie über das so genannte "August-Erlebnis" in der Universitätsstadt Freiburg im Breisgau. Ihre Befunde werden von dem in Berlin lebenden amerikanischen Historiker Jeffrey Verhey bekräftigt, der die geradezu mythische Tiefenwirkung des "Geistes von 1914" auf die politische Kultur der Nachkriegszeit betont.[48] Vielleicht lässt sich in der regionalgeschichtlichen Orientierung, in der Diskussion allgemeiner Thesen in einem überschaubaren geographischen Kontext, der zentrale Beitrag der deutschen Geschichtswissenschaft zur Historiographie des Ersten Weltkriegs erkennen.[49]
Seit einigen Jahren haben die deutschen Historiker damit begonnen, sich mit der kulturellen Verarbeitung des Weltkrieges, seiner Gedächtnis- und Erinnerungsgeschichte, zu beschäftigen. Entscheidende Anstöße kamen von dem amerikanischen Historiker George L. Mosse, dessen Arbeiten zum "Kult der Gefallenen" ("Fallen Soldiers") und zum "Mythos des Kriegserlebnisses" starke Beachtung fanden.[50] Die Arbeiten von Reinhart Koselleck, Michael Jeismann, Susanne Brandt und Sabine Behrenbeck sind überzeugende Beispiele für eine Darstellung der sich in Deutschland nach Kriegsende vollziehenden Auseinandersetzung mit Symbolen von Massentod und Gewalterfahrung.[51] Gleiches kann für die Dokumentation der intellektuellen und ästhetischen Verarbeitungen der Kriegserfahrungen durch Gelehrte, Schriftsteller und Künstler gelten, wo über den Kreis der Eliten hinaus nun auch weniger bedeutende, aber gleichwohl wirkungsmächtige Personen in Augenschein genommen werden.[52]
Im Umkreis des "Historial de la Grande Guerre" in Péronne, dem derzeit aktivsten internationalen Forschungszentrum zum Ersten Weltkrieg, hat in jüngerer Zeit eine Forschungsrichtung Auftrieb erhalten, welche die im Weltkrieg häufig feststellbare "Kriegseschatologie" als Konsequenz eines teilweise als "heilig" aufgefassten "Kriegs der Kulturen" betrachtet.[53]
Die hier skizzierten Ansätze einer Alltags-, Mentalitäts- und Erinnerungsgeschichte gestatten es, sich auch um eher traditionelle Themen und historische Felder zu bemühen und diese mit aktuellen historiographischen Konzepten zu verbinden. Dies gilt beispielsweise für die vernachlässigte Strukturgeschichte, aber auch für die traditionelle Kriegs- und Militärgeschichte. Bedarf besteht nach wie vor an einer vergleichenden Betrachtung politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und mentaler Prozesse. Die von Jay Winter und Jean-Louis Robert auf den Weg gebrachten sozioökonomischen und demographischen Forschungen zu drei europäischen Hauptstädten kriegführender Staaten (London, Paris, Berlin) stellen ein beeindruckendes Zwischenergebnis dar.[54]
Woran es der deutschen Weltkriegsforschung mangelt, ist ein allseits akzeptierter Begriff, der die vielfältigen Ansätze verbindet. "Kulturgeschichte des Krieges" - dieser von angelsächsischen und französischen Historikern adaptierte Terminus ist wegen seiner internationalen Konnotationen attraktiv, in der deutschen Diskussion wirft er aber Probleme auf: "Kulturgeschichte" scheint historisch überfrachtet, die Wurzeln dieses Begriffs reichen tief in die deutsche Philosophie und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts zurück. Zudem weist "Kultur" in Verbindung mit dem Ersten Weltkrieg auf die Ausbildung eines nationalen "Sonderwegsbewusstseins" hin, das bereits vor 1914 alle Zeichen eines politischen und gesellschaftlichen Überlegenheitsanspruchs gegenüber anderen Nationen in sich barg.[55] Es bedurfte eines weiteren, noch schrecklicheren Krieges, um diese betont antiwestlich orientierte deutsche "Kultur" obsolet werden zu lassen.
Kulturgeschichte des Krieges als ein gegenüber anderen Human- und Sozialwissenschaften offenes Konzept, wie es jüngst von Ute Daniel als Diskursangebot vorgestellt wurde,[56] hat dennoch alle Chancen, sowohl die Objekte, die historischen Themen, als auch die Subjekte, die methodische Selbstreflexion der Kulturgeschichtsschreibung, angemessen zu würdigen. Eine derart interdisziplinär forschende Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs bietet hierzu die besten Voraussetzungen.