Bildungsförderung, Verteilungspolitik und soziale Durchlässigkeit
Zur Theorie und Empirie eines vernachlässigten Handlungsfeldes
Empirische Evidenz
Anhand der stilisierten Fakten dieses kleinen Ausschnitts an Studien wird die Vielfalt jener Einflussfaktoren deutlich, die eine verteilungspolitische Instrumentalisierung der Bildungspolitik erschweren.
Einkommensarten und Ursachen
von Erwerbsunterbrechungen
Zunächst ist festzustellen, dass der Anteil des Bruttoeinkommens aus unselbständiger Arbeit in Prozent des Volkseinkommens - die Lohnquote - in den OECD-Ländern in den letzten beiden Dekaden nicht gestiegen ist. Damit hat das Kapitaleinkommen relativ zum Arbeitseinkommen seinen Anteil mindestens halten können, so dass die Reichweite einer verteilungspolitischen Instrumentalisierung der Bildungspolitik offenbar schon im Ansatz beschränkt ist.[8] Abbildung 1 (s. PDF) zeigt die Entwicklung am deutschen Beispiel. Es ist zu erkennen, dass die Lohnquote zu Beginn der achtziger Jahre (1980) ihr Maximum bei 75,8 Prozent (unbereinigt) bzw. 76,8 Prozent (bereinigt) erreicht hatte und seitdem tendenziell gefallen ist. Der aktuelle Wert beträgt 72,5 Prozent.
Wachsende verteilungspolitische Relevanz hat demzufolge die Übertragung von Vermögenswerten durch Erbschaften. Hierzu zeigen empirische Studien, dass mit der anstehenden Erbschaftswelle tendenziell regressive Verteilungswirkungen zu erwarten sind: Hauptschulabgänger in den ostdeutschen Bundesländern erben wesentlich seltener und deutlich weniger als Akademiker in den westdeutschen Bundesländern. So wird soziale Ungleichheit verschärft und gegen die Chancengleichheit verstoßen.[9]
Zudem wird die Planung von Bildungsinvestitionen durch Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit (Arbeitslosigkeit, Familiengründung) erschwert. Diese bewirken aus zwei Gründen ein Absinken der Bildungsrendite: erstens als Folge des Einkommensausfalls während der Unterbrechung und zweitens als Folge eines niedrigeren Lohns bei Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit. Die durch die Unterbrechung entstandene Lücke kann in der Regel nicht mehr geschlossen werden.[10] Wird diese Lücke bereits bei der Entscheidung über Bildungsinvestitionen antizipiert, so ist ein geringeres Niveau an Bildungsinvestitionen rational. Kinder und Jugendliche, deren persönlicher Erfahrungshorizont von der Nicht-Erwerbstätigkeit der Mutter bzw. der Arbeitslosigkeit der Eltern geprägt ist, wird dadurch ein "Vorbild" gegeben, das Bildungsanstrengungen eher unattraktiv erscheinen lässt.
Speziell die Arbeitslosigkeit verdient im Folgenden eine nähere Betrachtung. Die Unterschiede in den qualifikationsspezifischen Arbeitslosenquoten sind in Deutschland in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Betrug die Arbeitslosenquote von Personen ohne formale Berufsausbildung im Jahr 1975 noch 6,1 Prozent, so ist jener Wert im Jahr 1998 auf 23,3 Prozent gestiegen, während gleichzeitig Personen mit Hochschulausbildung 1998 nur eine Arbeitslosenquote von 2,4 Prozent (Fachhochschulen) bzw. 3,5 Prozent (Universitäten) verzeichneten. Noch dramatischere Zahlen ergeben sich bei räumlicher Differenzierung für die neuen Bundesländer. Dort reichen die Arbeitslosenquoten gering qualifizierter Personen an die 50 Prozent heran (vgl. Abb. 2, s. PDF).
Das sichtbare Auseinanderdriften der qualifikationsspezifischen Arbeitslosenquoten macht deutlich, dass ein höheres Qualifikationsniveau das Risiko einer Erwerbsunterbrechung vermindert. Von den hohen Arbeitslosenquoten sollte ein wahrnehmbares Signal zum Besuch einer weiterführenden Schule sowie Aufnahme einer beruflichen Ausbildung ausgehen.
Der geringen Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems entspricht eine große Bedeutung des familiären Hintergrunds für die Bildungsaktivität. Zum einen ist der Besuch/Nicht-Besuch von Bildungseinrichtungen abhängig vom sozialen Status der Eltern, zum anderen bestimmt der soziale Status, welches Niveau die besuchten Bildungseinrichtungen haben.[11] In den westdeutschen Bundesländern hatten 1997 7,8 Prozent der Schulabgänger keinen und 27,3 Prozent einen Hauptschulabschluss, in den ostdeutschen Bundesländern waren es 9,5 bzw. 16,1 Prozent.[12]
Der Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und Bildungschancen in Deutschland ist auch durch die Ergebnisse der PISA-Studie deutlich geworden.[13] In Deutschland korrelieren die Unterschiede im Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler stark mit der beruflichen Stellung der Eltern. Besondere Defizite sind beim Förderunterricht für lernschwache Schüler konstatiert worden.
An die schulische Bildungsarmut schließt sich die berufliche Qualifikationsarmut an: Im Jahr 1996 waren in Deutschland 17,2 Prozent der Gesamtbevölkerung im erwerbsfähigen Alter nach Abschluss ihrer primären Ausbildungsphase ohne formale Berufsqualifikation.[14] Der Schwerpunkt der Ausbildungslosigkeit liegt heute - im Gegensatz zum tradtionellen Problemfall des "katholischen Mädchens vom Lande" - bei ausländischen Frauen in den westdeutschen Bundesländern.[15]
Statt Durchlässigkeit und Chancengleichheit zeichnet sich Deutschland seit Jahrzehnten durch im Prinzip unveränderte Bildungsselbstrekrutierungseffekte aus: Im Jahr 1996 besuchten von 100 Kindern aus gehobenen sozialen Schichten 84 das Gymnasium und 72 eine Hochschule; von 100 Kindern aus schwächeren sozialen Schichten besuchten 33 das Gymnasium und 8 eine Hochschule.[16] Somit ist die Überrepräsentation von Kinder aus Beamten- und Selbständigenfamilien an Hochschulen nicht überraschend (vgl. Abb. 3, s. PDF).
Wirkungen auf das Wirtschaftswachstum
Nach einer Länderquerschnittsanalyse (von 122 Ländern im Zeitraum von 1965 bis 1985) kommt eine Studie zu dem Ergebnis, dass sich das Pro-Kopf-Wachstum umso schneller entwickelte, je besser die Schulausbildung der Bevölkerung war.[17] Danach besteht eine signifikante Korrelation zwischen dem Bildungsabschluss der Bevölkerung und dem anschließenden Wirtschaftswachstum, wobei sich die Grundschulausbildung als belanglos herausstellte. Auch öffentliche Bildungsausgaben hatten einen signifikant positiven Effekt auf die Wachstumsraten. Ein Anstieg der Bildungsausgaben um 1,5 Prozent im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt während des Zeitraumes von 1965 bis 1975 führte zu einer durchschnittlichen Wachstumsrate für den selben Zeitraum von drei Prozent pro Jahr. Der Effekt von getätigten Bildungsausgaben auf die Wachstumsrate ist auch nach einer weiteren Arbeit positiv.[18] Danach beeinflusst der Humankapitalstock nicht nur die Innovationsfähigkeit einer Volkswirtschaft, sondern auch die wünschenswerte zügige Wissensverbreitung fällt umso stärker aus, je höher der Bildungsstand der Bevölkerung ist. Somit herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Investitionen in Humankapital hochrentable Investitionen sind, welche die wirtschaftliche Entwicklung positiv beeinflussen.