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Mitgliedschaft ohne Zugehörigkeit? | Weg und Bilanz der Transformation in osteuropäischen Staaten | bpb.de

Weg und Bilanz der Transformation in osteuropäischen Staaten Editorial Mitgliedschaft ohne Zugehörigkeit? Die politischen Systeme der EU-Beitrittsländer im Vergleich Transformation und Integration der Wirtschaft der postkommunistischen Beitrittsländer Die EU 25 Estland vor dem EU-Beitritt Ost-West-Migration nach Deutschland im Kontext der EU-Erweiterung Eliten und Zivilgesellschaft in Ostmitteleuropa

Mitgliedschaft ohne Zugehörigkeit?

András Bozóki

/ 5 Minuten zu lesen

Autoritäre politische Systeme lassen zivilgesellschaftlichen Gruppen in der Regel nur wenig Raum. Wichtigste Auswirkung einer langen undemokratischen Herrschaft ist deshalb der Mangel an "formalem Vertrauen".

Einleitung

Als Folge des Zweiten Weltkrieges waren Ungarn und die anderen mitteleuropäischen Länder mehr als 40 Jahre lang "Mitgliedstaaten" des Ostblocks. Die Ungarn und die anderen Völker in diesem Teil Europas mussten lernen, wie man sich in informellen Netzwerken unterhalb der vereisten Strukturen aufgezwungener Formalien zu bewegen hatte. Das "System" wurde ihnen von außen übergestülpt; sie wurden nicht um ihre Meinung gefragt. An erster Stelle lernten die Leute das Überleben. Eine Doppelstruktur formeller und informeller Zumutungen eines Unterdrückungssystems trug zu einem systematischen Vertrauensverlust im Verhältnis der Gesellschaft zum Staat bei. Diese Doppelstruktur bewirkte, dass das Verhalten vieler Bürgerinnen und Bürger in vielerlei Hinsicht unehrlich war. Diese Länder waren Teile des Ostblocks, ohne dass sich ein Gefühl der Zugehörigkeit einstellen konnte.

Es handelte sich um eine Mitgliedschaft ohne Zugehörigkeit. Die Bürgerinnen und Bürger dieser Länder spürten deutlich, dass sie kulturell zu "Europa" gehörten, und entdeckten die schmerzhafte Diskrepanz zwischen ihrer kulturellen Herkunft und der tatsächlichen Lage ihres Landes als Satellit einer fremden Macht. Sie entwickelten zutiefst skeptische und zynische Einstellungen zu ihrer "Mitgliedschaft" (so wie auf der individuellen Ebene zur Kommunistischen Partei), und sie versuchten, ihre utopischen Hoffnungen nicht sterben zu lassen, eines Tages doch einem Neuen Europa anzugehören, wie sie es sich vorstellten: integriert und ungeteilt.

Autoritäre politische Systeme lassen zivilgesellschaftlichen Gruppen in der Regel nur wenig Raum, sich frei und spontan selbst zu organisieren. Die wichtigste Auswirkung einer langen undemokratischen Herrschaft ist deshalb der Mangel an "formalem Vertrauen" in der Gesellschaft. Damit meine ich nicht an Personen gebundene, sondern institutionalisierte Formen des Vertrauens. Die Bürgerinnen und Bürger waren "Mitglieder" in verschiedenen Organisationen, ohne irgendein Zugehörigkeitsgefühl zu empfinden. Ich will damit nicht sagen, dass Ungarn eine Gesellschaft ohne Vertrauen gewesen sei. Doch Vertrauen existierte nur auf der informellen Ebene, während Institutionen generell als entfremdete, repressive und nicht vertrauenswürdige Körperschaften galten. In informellen, freundschaftlichen Kreisen der Zivilgesellschaft hingegen wurde den Leuten vertraut, während die offiziellen Staatsorgane als Feinde begriffen wurden.

Der sich herausbildende politische Pluralismus in Ungarn in den späten achtziger Jahren gründete sich auf einem kulturellen Pluralismus. Doch die Parteieliten verschmolzen eng miteinander, und die Schere zwischen der Führung der demokratischen Parteien und dem Rest der Gesellschaft öffnete sich immer weiter. Ganz gewöhnliche Wähler wiederum empfanden häufig, dass die neuen Parteien über ihre Köpfe hinweg agierten, ohne sie über die wichtigsten Politikfelder zu befragen. Die politische Agenda strahlte daher nicht immer auf den Alltag aus. Die blutleere, herbeiverhandelte, von den Eliten angetriebene Verfassungsrevolution von 1989, so friedlich sie auch verlief, bot daher keine besonderen Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe.

Der sich rasch herausbildende neue Kapitalismus der neunziger Jahre und die breit angelegte Privatisierung des Staatseigentums verstärkte die allgemeine Wahrnehmung, nach der man "denen da oben" nicht trauen dürfe. In dieser Periode des "Goldrausches", des neuen, "ungebändigten" Kapitalismus, war es nahezu unmöglich, formales Vertrauen wiederaufzubauen, denn die formalen Regeln änderten sich ständig. Das trug zum Überleben des informellen Vertrauens bei, verhinderte allerdings das Wiederentstehen von Vertrauen gegenüber Institutionen. Die von den Eliten vorangetriebene politische Demokratisierung ging Hand in Hand mit der von den "Experten" betriebenen Privatisierung der Wirtschaft. Der Unterschied zwischen politischen und wirtschaftlichen Unternehmern war dabei nicht immer deutlich, eher schon identifizierte man beide miteinander. Die Ersteren akzeptierten eine minimalistische Vorstellung von Demokratie, während die Letzteren die neoliberale Ideologie der "spontanen" Privatisierung propagierten. Die gegenseitige Durchdringung beider Gruppen war in der Tat groß.

Der Prozess der Transformation beruhte letztlich auf der Geduld der Armen. Die einfachen Leute sahen in dem Regimewechsel vor allem einen weiteren Trick der herrschenden Klasse, mit dem es den alten Pionieren der Nomenklatura gelang, sich selbst als Vorhut einer neuen Bourgeoisie zu gerieren. Die ökonomische Schocktherapie stellte sicher, dass Ungarn auf dem Weltmarkt "wettbewerbsfähig" blieb, indem die Durchschnittslöhne niedrig blieben, aber sie schrieb auch die großen sozialen Ungleichheiten von Gewinnern und Verlieren der Transformation fest. Die Ungarn mussten lernen, dass Institutionen keine Rolle spielen. Informelle Praktiken sind für die meisten nach wie vor das Wichtigste. Auf die politischen Institutionen ist kein Verlass, denn diese, so hatten sie es erlebt, arbeiteten ganz offenbar gegen die Interessen der einfachen Bürger.

Im April letzten Jahres, 13 Jahre nach dem Regimewechsel, wurde in Ungarn ein Referendum über den Beitritt zur Europäischen Union (EU) abgehalten. Die geringe Beteiligung scheint zu signalisieren: Dieses Referendum wurde über die Frage der Mitgliedschaft, nicht der Zugehörigkeit abgehalten. Vielleicht dachten die meisten Leute, dass Ungarns EU-Beitritt nur ein weiterer Trick der herrschenden Elite sei. So, wie sie den Transformationsprozess erlebt und negativ beurteilt hatten, sahen sie nun den Prozess der so genannten Osterweiterung: Beides wurde als miteinander verknüpfter Vorgang wahrgenommen, der entworfen und kontrolliert wurde von den herrschenden Eliten und nicht von ihnen, dem eigentlichen Souverän.

Einige Beobachter mögen nun einwenden, die Ungarn seien euroskeptisch. Aber das ist nicht wahr. Sie sind nur im besten Sinne skeptisch gegenüber einer neuen Form der Mitgliedschaft ohne Zugehörigkeit. Ein internationaler Vergleich fördert ein bestimmtes Abstimmungs- und Partizipationsverhalten zu Tage, das den Fall Ungarn in den Kontext eines verblüffenden regionalen Erklärungsmusters rückt.

Die Wählerinnen und Wähler in Mittel- und Osteuropa unterstützten den EU-Beitritt sehr stark: von Lettland und Estland mit mehr als 66 Prozent Ja-Stimmen über Polen und Tschechien mit fast 78 Prozent bis zu Slowenien, Litauen und der Slowakei mit über 90 Prozent. Westeuropäische Länder hingegen hatten, als sie seinerzeit gefragt worden waren, keine derart hohe Unterstützung des Beitritts gezeigt, nicht zu reden von den skandinavischen Staaten, wo die Wahlbevölkerung von Norwegen den EU-Beitritt bereits zweimal abgelehnt hat. Auf der anderen Seite waren in den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern die geringsten Wahlbeteiligungen zu verzeichnen. In Ungarn nahmen gar nur etwas über 45 Prozent der Wahlberechtigten teil, während es in der Slowakei, Tschechien, Polen und Slowenien zwischen 52 und 60 Prozent waren. Nur in den baltischen Staaten lag die Beteiligung etwas höher.

Es scheint also, dass man zwei in sich stimmige Muster ausmachen kann: Bei den EU-Ländern in West- und Nordeuropa, also den Staaten des "Alten Europa", ging eine hohe Wahlbeteiligung mit relativ geringer Unterstützung des Beitritt einher - ein Zeichen für eine lebendige innenpolitische Streitkultur und für soziale Ausdifferenzierung. In den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern, also den Staaten des "Neuen Europa", sind verhältnismäßig niedrige Wahlbeteiligungen und hohe Zustimmungsquoten festzustellen - ein Zeichen für politische Apathie in einer wenig differenzierten Gesellschaft mit simulierter Unterstützung des Beitritts.

Die Herausforderungen für Ungarn und für die anderen mittel- und osteuropäischen EU-Beitrittsländer in den letzten zehn Jahren waren gewaltig. Es ging um die vollständige Transformation eines gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Regimes und die Rückkehr nach Europa. Dieser Wandel in einer derart kurzen Zeitspanne ist ohne historisches Beispiel. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Ungarn, Polen, Slowaken, Slowenen und anderen diese Transformation vollendet wissen wollen, um ihre historischen Träume zu verwirklichen. Aber, welche Ironie: Als der Moment des "Einholens" tatsächlich gekommen war, fühlten sich viele Ungarn (Polen, Slowaken, Slowenen und andere) nicht in der Lage dazu, diesen Schritt aktiv und enthusiastisch zu vollziehen. Bislang haben sie ihn nur passiv und zögerlich gebilligt.

Ph. D., M.A., geb. 1959; Associate Professor of Political Science an der Central European University (CEU), Budapest, Ungarn.
Anschrift: Department of Political Science, CEU, 1051 Budapest, Nador u. 9, Ungarn.
E-Mail: E-Mail Link: bozokia@ceu.hu

Veröffentlichungen u.a.: (Hrsg.) The Roundtable Talks of 1989: The Genesis of Hungarian Democracy, Budapest-New York 2002; (Mithrsg.) The Communist Successor Parties in East Central Europe, Armonk, N.Y. 2002; Political Pluralism in Hungary, Budapest 2003 (in ungarischer Sprache).