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Lesekompetenz und Lesebegriff | Lesen | bpb.de

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Lesekompetenz und Lesebegriff

Simone C. Ehmig

/ 16 Minuten zu lesen

Über sieben Millionen Menschen in Deutschland können nicht oder nur eingeschränkt lesen. Präventive Leseförderung für Kinder und Jugendliche und die Förderung Erwachsener müssen Hand in Hand gehen.

Wer sich mit dem Lesen beschäftigt, hat es mit einem vielschichtigen Phänomen zu tun. Der Begriff beschreibt zunächst einen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozess. Laut Duden bedeutet Lesen, dass Menschen "etwas Geschriebenes, einen Text mit den Augen und dem Verstand erfassen". Doch geht die Bedeutung weit über die technische Ebene hinaus: So verweist die Formulierung "Lesen als Totalphänomen" des Soziologen Marcel Mauss und des Kommunikationswissenschaftlers Ulrich Saxer auf die grundlegende Bedeutung des Lesens als "eine der wichtigsten traditionellen Kulturtechniken" und als "die wesentliche Voraussetzung für die kulturelle Entwicklung des Menschen und die Formierung von Gesellschaften".

Als eine notwendige Bedingung für das Lesen wird bis heute die Erfindung des Schriftsatzes mit beweglichen Lettern gesehen, der die schnelle, weil variable Herstellung von Druckvorlagen ermöglichte, mit denen Texte in hoher Auflage für eine weite Verbreitung in der Bevölkerung hergestellt werden konnten. Welch hohe Bedeutung dieser Entwicklung bis heute beigemessen wird, zeigt sowohl der symbolische Umgang mit Johannes Gutenberg, der 1998 von US-amerikanischen Journalisten als "Man of the Millennium" ausgezeichnet wurde und dessen 550. Todestag 2018 mit zahlreichen Veranstaltungen und Publikationen begangen wurde, als auch der Status des Buches als zentrales Leitmedium bis heute. Seine Bedeutung hob die UNESCO im Jahr 1995 mit der Definition eines "Welttags des Buches und des Urheberrechts" hervor, der seither am 23. April begangen wird.

Einer zweiten notwendigen Bedingung widmete die UNESCO schon 1965 einen eigenen Gedenktag, als sie den 8. September zum Weltalphabetisierungstag erklärte. Er sensibilisiert jährlich dafür, dass Lese- und Schreibkompetenzen, die die Nutzung von Büchern und anderen Lesemedien überhaupt erst ermöglichen, auch in unserer Zeit und in Gesellschaften mit hoch entwickelten Bildungssystemen nicht selbstverständlich sind. Die Frage, wie es in Deutschland und im internationalen Vergleich um das Lesen bestellt ist, spielt spätestens seit dem "PISA-Schock" eine zentrale Rolle, den die Veröffentlichung der ersten international vergleichenden Leistungsbewertung von Schülerinnen und Schülern in den OECD-Ländern 2001 ausgelöst hatte, da die durchschnittlichen Leistungen der Schüler und Schülerinnen in Deutschland unter dem internationalen Mittelwert lagen.

Lesekompetenz

Lange Zeit ist man in Deutschland auf Basis von Schätzungen von etwa vier Millionen Erwachsenen mit eingeschränkten oder fehlenden Lese- und Schreibfähigkeiten ausgegangen. 2011 stellte die "leo. – Level-One Studie" der Universität Hamburg erstmals belastbare, repräsentative Zahlen zur Verfügung. Danach konnten 2010 in Deutschland 7,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter nicht oder allenfalls auf einfachstem Textniveau lesen. Dies entspricht 14,5 Prozent der 18- bis 64-Jährigen. Zahlen in ähnlicher Größenordnung lieferte eine der PISA-Studie ähnliche, international vergleichende Erhebung unter Erwachsenen, das "Programme for the International Assessment of Adult Competencies" (PIAAC) der OECD: Danach hatten 2011/12 in Deutschland 17,5 Prozent der Erwachsenen zwischen 16 und 65 Jahren unzureichende Lesekompetenzen. Da beide Studien sich auf Personen konzentriert haben, die in deutscher Sprache getestet werden konnten, lässt sich vermuten, dass das tatsächliche Ausmaß größer ist. Im Mai 2019 wird die in Vorbereitung befindliche leo. – Grundbildungsstudie aktuelle Befunde zu den Basiskompetenzen Erwachsener in Deutschland präsentieren.

Dass es in Deutschland überhaupt Erwachsene gibt, die hier aufgewachsen sind und trotz mindestens neunjährigem Schulbesuch nicht richtig lesen und schreiben können, überrascht. Eine repräsentative Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und der Stiftung Lesen zeigte im Sommer 2018, dass nur jeder Dritte überhaupt eine Vorstellung davon hat, "wie viele Erwachsene in Deutschland kaum oder gar nicht lesen können". Die Schätzungen liegen zwischen unter einer Million und mehr als 15 Millionen. Im Mittel pendeln sich die Vorstellungen mit 5,65 Millionen Betroffenen zwar nah an den empirischen Befunden ein, ihre Bandbreite zeigt jedoch, dass Probleme mit dem Lesen und Schreiben eher abstrakt bleiben und ihre Tragweite im täglichen Leben kaum sichtbar wird. Öffentlichkeitswirksame Kampagnen leisteten in den vergangenen Jahren einen wichtigen Beitrag dazu, die breite Bevölkerung und gesellschaftliche Akteure für das Thema zu sensibilisieren und die Chancen aufzuzeigen, die gute Lese- und Schreibkompetenzen individuell bedeuten.

Auch wenn Probleme beim Lesen und Schreiben in älteren Bevölkerungsgruppen etwas häufiger auftreten als in jüngeren, handelt es sich nicht um ein aussterbendes, sondern ein kontinuierlich nachwachsendes Phänomen. Dies belegen Untersuchungen unter Jugendlichen und Schulkindern: 2015 zeigten 16,2 Prozent der 15-Jährigen Probleme beim Lesen. 2016 wechselten 18,9 Prozent der Schüler und Schülerinnen mit unzureichenden Lesekompetenzen von Grund- in weiterführende Schulen. Alle einschlägigen Studien identifizieren die Bildungsvoraussetzungen im Elternhaus als wichtigsten Einflussfaktor auf die Bildungschancen: Der frühe, anfangs spielerische Umgang mit Büchern, das Vorlesen und Erzählen im Elternhaus tragen wesentlich dazu bei, dass Kinder und Jugendliche später Freude am eigenen Lesen entwickeln und dass über die Geschichten Wortschatz, Fantasie und soziale Kompetenzen gestärkt werden. Kinder, die so aufwachsen, lernen leichter lesen. Sie sind später besser in der Schule, weil sie über Lesemotivation und -praxis auch die Lesekompetenz trainieren, die in allen Fächern gebraucht wird. Kinder, deren Eltern ihnen nicht vorlesen, selbst kaum oder gar nicht lesen und in deren Haushalten Lesemedien keine Rolle spielen, haben ein erhöhtes Risiko, bis ins Erwachsenenalter hinein keinen ausreichenden Zugang zum Lesen gefunden zu haben.

Drei Millionen Kinder und Jugendliche, die aktuell beim Lesen(lernen) benachteiligt sind, lassen sich auf Basis aktueller Studien für Deutschland hochrechnen. Sie motivieren eine Vielzahl von Akteuren, die sich bundesweit, regional oder lokal für die Leseförderung von Kindern und Jugendlichen engagieren. Dabei stehen Ansätze im Mittelpunkt, die Kinder bereits vor dem Eintritt in die Schule und während der Schulzeit außerhalb des Unterrichts fördern. Diese Impulse verstärken und begleiten das, was Kinder im Unterricht lernen – und sie haben eine nicht zu unterschätzende Wirkung. Dies zeigen Analysen des Leselernprozesses von Kindern mit intensiver und geringer Vorleseerfahrung: Die frühen Impulse geben Kindern ein uneinholbares Startkapital mit auf den Weg, das ihnen für ihre schulische Entwicklung Vorteile verschafft, die die Schulen selbst bei bester Ausstattung und mit engagiertem Lehrpersonal nicht kompensieren können.

Präventive Ansätze zur Leseförderung, die Kindern möglichst früh Freude am Lesen und Lesemotivation vermitteln will, sind komplementär zur aufholenden Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener zu denken, um die nachwachsenden Risikogruppen sukzessive zu verkleinern. Denn Bildungsherkunft und Lesesozialisation der heute Erwachsenen mit Problemen beim Lesen und Schreiben drohen sich in die nächsten Generationen fortzusetzen: Jeder zweite junge Erwachsene zwischen 16 und 35 Jahren mit geringen Lesekompetenzen verfügt im eigenen Haushalt über höchstens 25 Bücher. Diese Altersgruppe, die die aktuelle und zukünftige Elterngeneration repräsentiert, wird auch den eigenen Kindern mit deutlich geringerer Wahrscheinlichkeit Kinderbücher zur Verfügung stellen als leseaffine Eltern, und sie wird ihren Kindern kaum vorlesen (können). In 57 Prozent aller Haushalte in Deutschland, in denen Kinder bis zu drei Jahren leben, waren im Jahr 2017 maximal 10 Kinderbücher zu finden.

Kauf und Konsum von Büchern

Diese Zahlen werfen die generelle Frage nach dem Stellenwert von Büchern als zentralem Lesemedium auf. Im Juni 2018 veröffentlichte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels unter dem Titel "Buchkäufer – Quo vadis?" eine differenzierte Analyse zum Kauf und zur Nutzung von Büchern. Die Untersuchung diagnostiziert zwischen 2013 und 2017 einen Rückgang um sechs Millionen erwachsene Buchkäufer. Die heute 40- bis 49-Jährigen haben sich besonders häufig von Büchern verabschiedet, überdurchschnittlich hoch sind die Abgänge auch bei den 20- bis 39-Jährigen. Die Studie stellt der Abwendung vom Buch die Nutzung digitaler Medien und Online-Aktivitäten gegenüber, die im gleichen Zeitraum mit immer größerem Zeitbudget an Bedeutung gewonnen haben. Vor allem "digitale Entertainment-Formen" in Gestalt von Serien, die über Streaming-Dienste genutzt werden, seien an die Stelle der Bücher getreten.

Im qualitativen Teil der Studie identifiziert der Börsenverein Gründe, die die abgewanderten Buchkäufer vom Lesen abhalten. Die Aussagen verdichten sich zu einem Szenario, das vor allem durch Zeitnot, Schnelllebigkeit, Reizüberflutung und hohe Anforderungen an Erreichbarkeit und kommunikative Aktivität gekennzeichnet ist. Mit diesen Bedingungen erleben viele das Bücherlesen nicht mehr kompatibel. Die Erinnerung an frühere Leseaktivitäten sei aber in der Regel positiv besetzt.

Die Ergebnisse verweisen auf die Notwendigkeit, nachwachsende Generationen weiterhin für Bücher als zentrale Lesemedien zu begeistern. Denn auch, wenn sich der eine oder die andere später wieder vom Lesen abwendet, sind Bücher mit Blick auf die Lesekompetenzen der späteren Erwachsenen nicht nur Mittel zum Erwerb von Bildung und Gegenstand eines sich selbst genügenden Lesevergnügens. Das Bücherlesen befördert vielmehr die grundlegenden Kompetenzen, Texte aller Art in allen Lebenssituationen lesen und verstehen zu können, auch im täglichen Umgang mit digitalen Medien. Dementsprechend bedeutet Lesen mehr als Bücherlesen, da ein Großteil der Aktivitäten im Alltag Lesekompetenz und Lesepraxis erfordert. Bei Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können, ist gerade diese Funktionalität eingeschränkt, etwa wenn es um Formulare oder Packungsaufdrucke, um Fahrpläne und Kurznachrichten geht. Deshalb spricht man von "funktionalem Analphabetismus".

Digitalisierung

Das Thema Digitalisierung wird in Zusammenhang mit dem Lesen kontrovers behandelt. 2018 war in der öffentlichen Diskussion häufig von einer "Krise des Lesens" die Rede. Einige Autoren und Autorinnen haben sich der Frage nach der Entwicklung des Lesens in jüngerer Zeit differenziert angenommen. Neben den weithin nüchternen Blick treten gelegentlich Positionen, die digitale Angebote zur Bedrohung des Lesens erklären. Beispielhaft Susanne Gaschke am 23. Juli 2018 in einem Beitrag für den Deutschlandfunk: "Die Lese- und Schreibkompetenz wird künftig den Unterschied machen. Denn jeder halbwegs interessierte Affe kann ein Smartphone bedienen. Aber kein Affe kann lesen. Schon in naher Zukunft werden wir einerseits jene Menschen haben, die sich noch konzentrieren, die urteilen, sich einfühlen und selbstständig denken können – und andererseits die, die sich mit Piktogrammen und Spracherkennungssoftware durch ihren gänzlich anti-intellektuellen Alltag schlagen."

Nicht immer so drastisch, aber mit ähnlicher Konsequenz wird Lesen vielfach gegen die Nutzung digitaler Medien ausgespielt. Ein Beispiel dafür ist eine (in ihrer Kernaussage richtige und wichtige) Petition, die Mitte August 2018 von der Schriftstellerin Kirsten Boie angestoßen wurde. Die Hamburger Erklärung "Jedes Kind muss lesen lernen" fordert eine Stärkung der Schulen als zentrale Akteure der Vermittlung von Lesekompetenz. Dabei dürfe das "Lesen nicht den derzeitigen (kosten)intensiven Bemühungen um die Digitalisierung der Schulen zum Opfer fallen". Die Kontrastierung von Lesen und digitalen Medien setzt voraus, dass entweder nur das Lesen oder nur digitale Angebote gefördert werden können. Diese Sichtweise lässt sich angesichts der Realitäten nicht halten, wie die aktuelle Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag von BMBF und Stiftung Lesen belegt: 85 Prozent der Erwachsenen in Deutschland halten es heute für ebenso wichtig oder noch wichtiger als vor 20 Jahren, gut lesen zu können. Für 69 Prozent "gehört Lesen einfach zum Leben dazu", fast ebenso viele schätzen am Lesen, "dass man es überall tun kann" (66 Prozent). "Überall" bedeutet dabei: an jedem Ort, aber auch auf jedem Trägermedium.

Für die große Mehrheit der Bevölkerung ist Lesen im Zuge der Digitalisierung ihres Alltags nicht durch Piktogramme und Spracherkennungssoftware überflüssig geworden. Vielmehr hat die regelmäßige Verwendung digitaler Endgeräte (auch) zur Information und Kommunikation die Anforderungen an Lesekompetenz und Lesepraxis gerade für jüngere Generationen sogar erhöht. 22 Prozent der erwachsenen Befragten sagen, dass sie "durch die digitalen Medien wie Smartphone, Computer und Internet heute mehr als früher" lesen. 91 Prozent der unter 30-Jährigen realisieren, dass sie lesen (müssen), wenn sie im Alltag E-Mails, Whatsapp-Nachrichten und SMS nutzen, 85 Prozent lesen nach eigenen Angaben häufig Texte im Internet. Damit lesen auch die jungen Erwachsenen nach wie vor, aber zum Teil anders und anderswo als Ältere. Die Über-60-Jährigen lesen mehrheitlich Zeitungen und Zeitschriften (87 Prozent und 69 Prozent), häufig auch Bücher zur Unterhaltung (55 Prozent). Dass das Lesen gedruckter Bücher nicht durch die Nutzung digitaler Trägermedien verdrängt oder gar abgelöst wird, zeigen die Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest (MPFS) auch für Kinder und Jugendliche: Seit Ende der 1990er Jahre ist der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die mehrmals in der Woche in Büchern lesen, mit geringfügigen Schwankungen absolut stabil – bei gleichzeitig enorm angestiegenem Anteil derjenigen, die täglich online sind oder digitale Medien nutzen.

Obwohl Lesen selbstverständlicher Bestandteil auch eines digitalisierten Alltags ist, darf man nicht davon ausgehen, dass fehlende oder geringe Lesekompetenzen in allen Umgebungen auch als Problem wahrgenommen werden, gegen das man unbedingt etwas tun muss: 31 Prozent der im Sommer 2018 Befragten sagen nicht, dass Lesen etwas ist, von dem es "besonders wichtig ist, dass man es gut kann" und "an dem man unbedingt arbeiten" sollte, "wenn man es nicht gut kann."

Der Befund bestätigt Ergebnisse einer Studie der Stiftung Lesen zur Situation funktionaler Analphabeten in Unternehmen: Wenn die Qualität der Arbeit in Betrieben darunter leidet, dass Beschäftigte erkennbar Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben, sieht nur jeder zehnte Kollege/jede zehnte Kollegin darin ein Problem. Der hohe Stellenwert des sozialen Miteinanders und pragmatische Überlegungen motivieren Arbeitskräfte, denjenigen, die nicht so gut lesen und schreiben können, zu "helfen", indem sie es ihnen abnehmen. Der im Alltag funktionale Pragmatismus verdeckt die Reichweite und Dringlichkeit der Probleme ebenso wie ihre Tabuisierung. Beides lässt die Symptome verschwinden, verbessert aber die Kompetenzen nicht.

Arbeitskräfte stehen dem Gedanken, dass ihre Kollegen und Kolleginnen als Erwachsene noch lesen und schreiben lernen sollten, zwar persönlich aufgeschlossen gegenüber. Im betrieblichen Kontext sehen sie dazu aber wenig Veranlassung, denn, so die Reaktionen in qualitativen Interviews: Diese Personen sollten nicht "Goethe und Schiller lesen" oder "Romane schreiben", sondern ihre tägliche Arbeit verrichten. Die entlastend gemeinten Antworten offenbaren Konsequenzen, die sich aus dem Verständnis des Begriffs "Lesen" in der Bevölkerung ergeben und für die Förderung des Lesens gerade bei Erwachsenen kontraproduktiv sind.

Lesebegriff

Trotz der Erfahrung, dass Lesen eine ständige Anforderung im Alltag darstellt, ist der Begriff "Lesen" in weiten Teilen der Bevölkerung ein Synonym für die klassischen gedruckten Lesemedien Buch, Zeitung und Zeitschrift. Lesen wird darüber hinaus mit Schule, Studium und höherer Bildung verbunden. Die Assoziationen besitzen häufig einen wertenden und ästhetisierenden Charakter. Man denkt an "gute" Bücher und Literatur, an schöne und entspannte Lesesituationen. Dies illustrieren die positiven Erinnerungen früherer Buchkonsumenten in der Studie des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. In der Öffentlichkeit werden Lesen und Bücher häufig stilisiert und kunstvoll präsentiert. Buchliebhaber setzen ihre Lesebegeisterung in sozialen Medien in Szene, etwa auf Instagram unter #lesen, #lesenmachtglücklich oder #lesenswert. Die verklärende Darstellung der Welt der Bücher ist mit den Lebensrealitäten bildungsbenachteiligter und leseferner Menschen, in deren Haushalten klassische Lesemedien wenig präsent sind, kaum kompatibel. Zudem überlagert die Betonung genussvoller Leseerlebnisse und schöner Bücher die Bedeutung von Lesen zur Orientierung im Alltag, die auch für jene elementar ist, die nicht oder wenig in gedruckten Büchern lesen.

Die genannten Darstellungsweisen dürften dazu beitragen, dass Menschen, für die Lesen und Schreiben nicht selbstverständlich sind, kaum die Notwendigkeit sehen, es noch zu lernen. Das erklärt das erwähnte Zögern von 31 Prozent der Erwachsenen, im Lesen etwas zu sehen, das man unbedingt gut können muss. Die Studien zum funktionalen Analphabetismus in Deutschland zeigen, dass nur ein Bruchteil derjenigen, die nicht richtig lesen und schreiben können, Lernangebote in Form von Kursen in Anspruch nimmt. Dabei sind nicht diejenigen besonders zurückhaltend, die gar nicht oder maximal auf Satzebene lesen können, sondern jene, denen erst ganze Texte Probleme bereiten. Diese Erwachsenen hätten eine vergleichsweise niedrige Barriere zu überwinden, um besser zu werden. Gerade ihnen aber fehlen der Anstoß und die Motivation – nicht nur, weil sie im Alltag meist zurechtkommen, sondern auch, weil der gängige Lesebegriff Anreize zum Lernen verdeckt.

Bücher, insbesondere literarische Texte, erfordern und fördern das konzentrierte vertiefte Lesen (deep reading), während das Lesen von Whatsapp-Nachrichten, Facebook-Posts oder Packungsaufschriften eher flüchtige Aktivitäten sind. Unabhängig von Aufmerksamkeitsspannen und inhaltlicher Tiefe benötigt beides Lesekompetenz. Zudem macht die Nutzung digitaler Angebote über das Lesen und Schreiben hinaus neue Kompetenzen notwendig, weil Inhalte schneller erfasst werden müssen und weil die Nutzung digitaler Angebote häufig zeitgleich auf unterschiedlichen Kanälen erfolgt. Gerade diese Fähigkeiten, etwa zur schnellen Orientierung auf Oberflächen, sind oft mit vertieftem Lesen verbunden, denn es ist eine "wichtige Metakompetenz", "entscheiden zu können, wann man sich tiefer auf einen Text einlässt und wann man ihn nur überfliegt". Kognitive und neuronale Prozesse beim Lesen auf digitalen Trägermedien gehören zu den zentralen Themen der aktuellen Leseforschung – die starke Beachtung, die den Fragen international entgegengebracht wird, verweist auf die Notwendigkeit, Lesen über die Nutzung von Büchern und Literatur hinaus zu denken und ernst zu nehmen. Genau dies wird aber auch auf der Ebene wissenschaftlicher Untersuchungen und Diskussionen kontrovers betrachtet. Aus psychologischer und kognitionswissenschaftlicher Perspektive stellt sich die Herausforderung, neue Technologien in ihren spezifischen Eigenheiten adäquat in Studien zu berücksichtigen und damit auch ihren spezifischen Wahrnehmungsbedingungen und Wirkpotenzialen eine Chance zu geben. Aus kultur- und literaturwissenschaftlich geprägter Perspektive werden digitale Texte vorrangig an Kriterien gemessen, die für gedruckte Medien gelten – in ihrem Licht fallen Vergleiche anders aus und gestehen digitalen Texten allenfalls für schwache und beginnende Leser und Leserinnen eine Rolle zu.

Folgerungen

In der Konsequenz lässt sich sagen: Die Situation des Lesens ist durch klare Konstanten, aber auch Veränderungen geprägt. Konstant hoch ist die Bedeutung des Lesens als zentrale Basiskompetenz in der Gesellschaft und im Alltag, gerade auch im Kontext digitaler Angebote. Ihre Nutzung zur Information und Kommunikation hat die Zahl der Lese- (und Schreib-)Anlässe in den vergangenen Jahrzehnten drastisch erhöht. Dies spiegelt sich im Bewusstsein der Bevölkerung, das dem Lesen im Vergleich zur Vergangenheit mehrheitlich eine mindestens genauso wichtige, wenn nicht bedeutsamere Rolle zuschreibt.

Mit Blick auf die Leser und Leserinnen klassischer Printprodukte zeigt sich ein nahezu konstanter Anteil von Kindern und Jugendlichen, die regelmäßig in gedruckten Büchern lesen. Bei Erwachsenen ist vor allem unter den 20- bis 49-Jährigen eine rückläufige Zahl von Buchkäufern beziehungsweise -lesern zu verzeichnen. Demgegenüber steigt, vor allem in den jüngeren Altersgruppen, die Lesezeit, die mit der Nutzung digitaler Endgeräte einhergeht. Sie bedingt die Entwicklung neuer Funktionen von Lesen und der dafür notwendigen Kompetenzen.

Wie die genannten Veränderungen eingeordnet und bewertet werden, ist in hohem Maße vom Verständnis des Begriffs "Lesen" abhängig. Die in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitete kultur- und literaturbezogene Sicht auf Lesen, die vor allem klassische Printprodukte vor Augen hat, ist angesichts der Rolle von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften als zentralen Lesemedien nachvollziehbar. Da diese Sicht jedoch die Bedeutung von Lesekompetenzen im Alltag meist ausklammert, ist ein literatur- und buchzentrierter Lesebegriff vor allem dort kontraproduktiv, wo es um die Verbesserung der Lesefähigkeiten Bildungsbenachteiligter geht.

Im langfristig verfestigen Zustand sozialer Ungleichheit und Bildungsbenachteiligung derjenigen, die keinen Zugang zum Lesen finden, liegt die zentrale Herausforderung für Bildungspolitik und Leseförderung. Sie erfordert eine Weitung des buch- und kulturzentrierten Lesebegriffs und eine umfassende, alle gesellschaftlichen Kräfte einbeziehende Bewegung: Es ist wichtig, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen Spaß am Bücherlesen zu vermitteln – ohne dabei das funktionale Lesen im Alltag und auf digitalen Trägermedien als nebensächlich abzutun. Um die Zahl der beim Lesen und Schreiben Benachteiligten mittel- und langfristig zu verringern, müssen die aufholende Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener und präventive Leseförderung für Kinder und Jugendliche Hand in Hand gehen. Bildungspolitik und Investitionen müssen die formale Bildung in der Schule ebenso im Blick haben wie die Rolle des Elternhauses und das Engagement Ehrenamtlicher. Leseförderung, Alphabetisierung und Grundbildung bedürfen eines weiten Bicks und einer wachsenden Verzahnung von lebensweltorientierten Ansätzen, die sich ergänzen und wechselseitig verstärken.

ist promovierte Publizistikwissenschaftlerin und Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen. E-Mail Link: simone.ehmig@stiftunglesen.de