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Lesen und gelesen werden Wie Social Media die öffentliche Debatte steuert - Essay

Schlecky Silberstein

/ 14 Minuten zu lesen

Social-Media-Services verändern das Kommunikationsverhalten, ohne dass es vielen Nutzern überhaupt bewusst ist. Aufgrund behavioristischer Mechanismen tendieren wir stärker zu Extrempositionen und gefährden somit eine demokratische Debattenkultur.

Bei aller Interaktivität dürfen wir nicht vergessen: Das Internet ist in der Hauptsache noch immer ein Lesemedium – ein unfassbar anspruchsvolles Lesemedium, nicht selten sogar ein Medium, das zwar gelesen werden will, aber gleichzeitig alles dagegen tut, in Ruhe gelesen zu werden. Und auch wenn es sich bei beiden Medien um Buchstaben vor einem Hintergrund handelt, könnten Print-Texte und Online-Artikel in Sachen Leseerfahrung unterschiedlicher nicht sein.

Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass Sie vor der Lektüre einer Zeitung einmal für alles zahlen und dann nie wieder zur Kasse gebeten werden. Weder ihre Kreditkartendaten, noch ihre Aufmerksamkeit, noch ihre Verhaltensdaten werden bei der Lektüre eines analogen Print-Produkts abgefragt. Online sieht es anders aus: Es kostet Sie anfangs nichts – vorausgesetzt, der Artikel befindet sich nicht hinter einer Bezahlschranke –, dafür werden sie während der Lektüre meistens unterbewusst mit ihrer Aufmerksamkeit zahlen. Strategen aus dem Bereich der Online-Werbung finden regelmäßig neue Wege, Ihren Lesefluss zu unterbrechen. Während ein klassischer Print-Autor davon ausgehen darf, dass sein Adressat seinen Fokus voll und ganz auf das Papier gerichtet hat, das den Text transportiert, weiß der Autor digitaler Schriften, dass die Aufmerksamkeit seines Lesers von allen Seiten mit Interaktionsimpulsen bombardiert wird: Schau mich an, klick mich an, denk über mich nach. Das fordert Opfer in der Informationstiefe, aber nichts ist für einen Verfasser schmerzlicher als ein Text, der nicht zu Ende gelesen wurde.

Das Veröffentlichen in digitalen Medien hat die Dramaturgie der Texte komplett verändert. Grundsätzlich gilt: Früher war mehr Zeit für Text. Wenn ich mir Prosa aus dem 18. Jahrhundert durchlese, habe ich den Eindruck, dass die Autoren für ein Publikum geschrieben haben, dass nach der Hälfte des Tages nicht wusste, wohin mit der Restzeit. Ein Szenario, das uns heute undenkbar erscheint. Marcel Proust konnte in seinem Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" (erschienen zwischen 1913 und 1927) seitenlang über einen Keks und die damit verbundene Erinnerung an vergangene Zeiten schreiben, meine Lektorin würde heute beim gleichen Text anmerken: Geht kürzer, wenig Substanz, bitte verdichten. Soviel zur Oberfläche. Begleiten Sie mich nun in die Tiefe der abenteuerlichen Erfahrungen des vernetzten Lesers.

Der gläserne Leser

Um den Unterschied zwischen analogem und digitalem Lesen zu verstehen, müssen wir zunächst den "Informationsträger" digitaler Texte definieren. In den meisten Fällen ist das Medium Ihr Computer oder Ihr Tablet, streng genommen auch Ihr Smartphone. Es hilft für das Verständnis der eigenen Rolle in der vernetzten Welt, wenn Sie sich stets alle ihre vernetzten Geräte als Sensoren vorstellen, die alles, was Sie tun, genauestens messen und an Menschen melden, die Sie nie im Leben kennengelernt haben. Bevor Sie jetzt fragen, was das alles mit der digitalen Leseerfahrung zu tun hat: Sehr viel. Denn in der Regel werden auch Sie "gelesen", während sie lesen.

Noch immer gehen die meisten Internetnutzer davon aus, sich einseitig mit Informationen zu versorgen, sobald sie ein vernetztes Gerät zur Hand nehmen. Das ist ein Trick. In Wirklichkeit ist das Internet im Jahre 2019 kein Lesemedium, sondern ein lesendes Medium, das den ahnungslosen Leser liest.

Um die Ausmaße davon zu verdeutlichen, stellen Sie sich einfach vor, der Kalte Krieg wäre anders ausgegangen und die sieche BRD hätte sich 1990 mit der prosperierenden DDR wiedervereinigt. Nehmen wir an, die Staatssicherheit hätte um 2005 herum das sozialistische Internet samt sozialistischem sozialen Netzwerk namens Facebook ausgerollt. Man hätte den Bürgern ein System präsentiert, über das sich jeder bequem registrieren und sein Innerstes nach außen kehren kann. Die Bürger hätten Spaß mit den neuen Möglichkeiten und würden vor ihrem Staat den Hut ziehen, weil nahezu alles (Information, Unterhaltung, Kommunikation) in diesem neuen System kostenlos ist. Man würde der vernetzten Arbeiterklasse ein ungeahntes Maß an neuer Meinungsfreiheit zubilligen und viele von denen, die in den 1980ern auf die Partei schimpften, würden einräumen: Sie hatte wohl doch recht. Mit dieser Perestroika 2.0 würde die Partei ihre Bürger sogar ermutigen, ihre freie Meinung so oft und so leidenschaftlich wie möglich mithilfe des neuen Systems zu äußern. Denn auf diese Weise entstehen Daten, die alle in das Profil eines jeden einzelnen Bürgers einfließen. Die alten Stasi-Akten würde man schnell einmotten, denn was jeden Tag an Informationen auf dem neuen Stasi-Server einginge, ermöglichte der Partei, ihre Bürger besser zu kennen, als diese sich selbst.

Zum Glück hat die Geschichte eine andere Wendung genommen – das System gibt es trotzdem. Es ist nur auf mehrere Schultern verschiedener Unternehmen verteilt, deren Ziel es nicht ist, mithilfe der gesammelten Daten abtrünnige Bürger zu kontrollieren, sondern Geld zu verdienen.

Auch wenn Sie außerhalb eines sozialen Netzwerks einen Online-Artikel lesen, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit unterschiedliche Daten von Ihnen erfasst: Wie lange Sie lesen, wohin Sie klicken, wie sich Ihr Scrollrädchen verhält, bei welchen Textpassagen Sie hängen bleiben, von welcher Seite Sie kommen, welche Seite Sie nach der Lektüre aufrufen und verschiedenes mehr. Auf diese Weise wollen Online-Publisher ihre Reichweite optimieren und passen die Textführung, den Inhalt, die Schlagworte, die Seitengestaltung sowie die Wahl der Bilder so an, dass die statistische Wahrscheinlichkeit, dass Sie den Artikel teilen, möglichst hoch ist. Denn wenn Sie das tun, multipliziert sich seine Reichweite. Das bedeutet: Mehr Menschen besuchen die Seite, die den Artikel zur Verfügung stellt, und sehen die dort geschaltete Werbung. Üblicherweise teilen wir Artikel selten per Mail, sondern über ein soziales Netzwerk. Das heißt, Artikel werden auf der Grundlage von Interessen des jeweiligen sozialen Netzwerks optimiert. Hier verbirgt sich der zentrale Unterschied zwischen Nachrichten auf Papier und Nachrichten auf einem vernetzten Gerät. Bei einer Zeitung gibt es keine Möglichkeit, einen Artikel gleichzeitig mit einer theoretisch unbegrenzten Zahl an Menschen zu teilen. Ebenso wenig kann ein Zeitungsartikel viral werden, denn die Höhe der Auflage ist begrenzt. Und so spielen die Bedürfnisse eines sozialen Netzwerks bei der Gestaltung eines Print-Artikels keine Rolle. Dieser vermeintlich kleine Unterschied spielt eine dramatisch große Rolle bei den größten Problemen unserer Zeit.

Konsum und Verbreitung von Online-Artikeln

Es gibt eine grundsätzliche Tendenz bei der Verbreitung von Online-Artikeln, die einen starken Einfluss auf gesellschaftliche sowie politische Dynamiken haben. Facebook spielt dabei als größter Nachrichtenmakler der Welt eine zentrale Rolle. 2014 veröffentlichte die "New York Times" versehentlich ein Strategiepapier, auf das Medienhäuser weltweit mit einer Mischung aus Sorge und Panik reagierten: Zwischen 2011 und 2013 sei die Zahl der Leser, die ihre Nachrichten gezielt über die Startseite auf nytimes.com suchten, von 160 Millionen auf 80 Millionen gesunken. Der Rest kam mehr oder weniger zufällig über Empfehlungen auf Facebook. Man mag sagen: Über welchen Weg die Leser zur "New York Times" kommen ist doch egal, bestenfalls gewinnt das Blatt durch Facebook neue Leser. Und zum Teil stimmt das auch. Das Papier teilte aber noch eine andere Beobachtung. Die Art und Weise, wie Nachrichten und Nachrichtenkonsumenten zueinander finden, verändert sich dramatisch, wie eine Umfrage aus dem Jahr 2013 der US-amerikanischen Filiale der Gesellschaft für Konsumforschung ergab: Mehr als 5000 Facebook-Nutzer wurden nach ihrem Nachrichtenkonsum über Facebook befragt. 16 Prozent gaben an, auf Facebook gezielt nach Informationen zu suchen, 78 Prozent sagten, sie stolperten dort lediglich über Nachrichten. Das ist neu. Früher entschied sich der auf Mündigkeit erpichte Bürger aktiv für Nachrichten, indem er sich eine Zeitung kaufte oder rechtzeitig zur "Tagesschau" respektive den "Tagesthemen" den Fernseher einschaltete. Heute scrollen wir durch unseren Facebook-Feed und lassen uns überraschen. Das ist das Spannende an Facebook: Es können Urlaubsbilder eines Bekannten angezeigt werden, lebensverändernde Sinnsprüche oder eben ein Nachrichtenartikel, den einer unserer Facebook-Freunde für teilenswert hält, meist mit einem persönlichen Kommentar versehen, der die Empfehlung unterstreicht. Nicht jede Überschrift führt zum Klick auf den ganzen Artikel, aber im Vorbeiscrollen nistet sie sich in unserem Unterbewusstsein ein. Dagegen können wir gar nichts tun. Auf diese Weise ist Facebook immer mehr zum Mittler zwischen Nachrichtenproduzenten und Nachrichtenkonsumenten geworden. Unterm Strich hat es das Unternehmen damit geschafft, die Regeln vorzugeben, nach denen Artikel ihre Leser finden.

Algorithmen und Angst

Ein Newsfeed ist so etwas wie die Startseite eines sozialen Netzwerks. Hier finden Sie auf einer Art niemals endenden Wand die Postings der Menschen oder Organisationen, die Sie im Laufe ihrer Social-Media-Karriere abonniert haben. Im Falle von Facebook wird dieser Newsfeed streng kuratiert, damit er für Sie relevant bleibt. Entsprechend sehen sie nie die Status-Updates dieses ehemaligen Schulfreundes, dessen Freundschaftsanfrage sie eher aus Höflichkeit angenommen haben. Es sei denn, Sie liken ab und an seine Selfies. Das wäre eine Interaktion und wird von einem Algorithmus als Hinweis darauf identifiziert, dass dieser Kontakt relevant für Sie sein könnte. Ansonsten filtert der Algorithmus die Person früher oder später aus Ihrem Newsfeed heraus, was ihre Relevanz noch weiter sinken lässt.

Die Algorithmen von Facebook haben eine einfache Zielfunktion: Sie sollen die Inhalte, die wir im Newsfeed sehen, so auswählen, dass unsere Interaktionsbereitschaft auf ein Maximum steigt. Aber wann und wie steigt unsere Interaktionsbereitschaft? Gibt es Parameter, die unsere Interaktion begünstigen? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir die Technologie verlassen und uns der Psychologie widmen. Tatsächlich reagieren wir auf unterschiedliche emotionale Impulse unterschiedlich intensiv. So reagieren wir auf das Gefühl der Angst messbar schneller und intensiver als auf andere Gefühle. Aus gutem Grund: In den vergangenen 2,8 Millionen Jahren hat sich das Gehirn der Gattung Homo zum perfekten Bedrohungssensor entwickelt. Der moderne Mensch vergisst allzu leicht, dass die Menschheit Gesetze und Medikamente erst seit extrem kurzer Zeit kennt. Mehr als 99 Prozent der Geschichte des Homo Sapiens besteht exklusiv aus dem Kampf ums Überleben gegen Tiere, Krankheitserreger, Umwelt und Artgenossen. Wer eine dieser Bedrohungen falsch eingeschätzt oder nicht wahrgenommen hatte, bezahlte in der Regel unmittelbar mit dem Leben. Was unsere Vorfahren gerettet hat, ist die Fähigkeit, Bedrohungen wahrzunehmen, kurz: die Angst. Während die leichtsinnigen Exemplare der Gattung Homo wenig Zeit hatten, ihre Gene weiterzugeben, überlebten die Ängstlichen und prägten über diesen natürlichen Selektionsprozess unseren Charakter und unsere Wahrnehmung. Die Luxus-Emotionen wie Glück, Zufriedenheit und Liebe empfinden wir heute als elementar wichtig, evolutionär gesehen spielen sie praktisch keine Rolle. Unser Körper hat seine wichtigsten Funktionen voll und ganz in den Dienst der Angst gestellt. Noch bevor wir spüren, dass wir Angst haben, passieren viele faszinierende Dinge in unserem Körper gleichzeitig: Zum Beispiel werden unsere Skelettmuskulatur und unsere Bronchien besser durchblutet und unser Sehfeld wird größer.

Angst verleiht uns buchstäblich Superkräfte. Allerdings leben wir heute in einer Zeit, in der Gefahren und Bedrohungen verglichen mit der Jungsteinzeit lächerlich klein wirken – zumindest in westlichen Industrienationen. Die Menschheit hat in den vergangenen 3000 Jahren einen gigantischen zivilisatorischen Kraftakt geleistet, der uns zum einen durch Gesetze und Institutionen voreinander schützt, zum anderen haben technologische und medizinische Entwicklungen zu einem Quantensprung in Sachen Sicherheit und Lebensqualität geführt. Unsere Wahrnehmung und unsere Reflexe sind allerdings nicht die Summe aller Erfahrungen aus dem 20. und 21. Jahrhundert, sondern aller Erfahrungen der vergangenen 2,8 Millionen Jahre und damit nicht immer zeitgemäß. Das gilt zum Beispiel auch für die vom Psychologen Daniel Kahneman besprochene Negativitätsdominanz. Dahinter verbirgt sich die grundsätzliche Tendenz unseres Gehirns, schlechte Nachrichten schneller und intensiver wahrzunehmen als gute Nachrichten. In der Lebensrealität eines Menschen aus der Jungsteinzeit ist dieses Phänomen gerechtfertigt, heutzutage füllt es Therapeuten-Praxen.

Was hat das mit unserem Nachrichtenkonsum zu tun? Die dominante Emotion, auf die wir signifikant schneller und intensiver reagieren, ist die Angst. Man kann auch sagen: Unsere Interaktionswahrscheinlichkeit ist dann am größten, wenn wir uns bedroht fühlen. Oder anders: Wer unsere Interaktionsfreude maximieren möchte, muss uns in eine Lage versetzen, in der wir uns möglichst oft bedroht fühlen. Und damit wären wir bei Interaktionsalgorithmen, die ganz entscheidend dafür sind, welche Nachrichten wir sehen und welche nicht.

Algorithmen ohne Moral

Der Interaktionsalgorithmus von Facebook analysiert die Interaktionsmuster jedes einzelnen seiner zwei Milliarden Nutzer in Echtzeit. Er sucht dabei vollautomatisch nach Wegen, unsere Interaktionsbereitschaft zu erhöhen. Er lernt, auf welche Inhalte wir am intensivsten reagieren, und priorisiert sie zu Ungunsten von Inhalten, mit denen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit weniger oder gar nicht interagieren. Aus diesem Wirkprinzip macht Facebook auch gar kein Geheimnis. Das führt allerdings zu folgendem besorgniserregenden Schluss:

Wenn die Zielfunktion dieses Algorithmus lautet: Gestalte den Input so, dass die Interaktion auf ein Maximum steigt, dann muss der Algorithmus mit höchster Priorität das Gefühl bedienen, das uns am schnellsten und intensivsten reagieren lässt: Angst. Wie dieser Algorithmus, der den Nachrichtenkonsum von 2,3 Milliarden Erdenbürgern beeinflusst, konkret funktioniert, schützt Facebook als Betriebsgeheimnis, ebenso wie Google seinen Suchalgorithmus geheim hält, der seinerseits massiven Einfluss darauf hat, wie wir die Welt wahrnehmen. Nicht wenige fordern die Offenlegung dieser Algorithmen und argumentieren, man könne Facebook und Google nicht mehr als Unternehmen im klassischen Sinne betrachten. Im Falle von Facebook verfügt das Unternehmen über die meistgenutzte Kommunikations- und Informationsinfrastruktur der Welt, mit deren Hilfe mittlerweile Wahlen entschieden werden. Die Tatsache, dass nur Facebook selbst weiß, wie die eigenen Nachrichtenfilter funktionieren, darf jeden Wähler beunruhigen. Das Patentrecht schützt Facebook vor der Offenlegung seiner Interaktionsalgorithmen. Was fehlt, ist eine Regelung, wie wir Unternehmen bewerten, die über komplexeste Personenprofile von einem Viertel der Weltbevölkerung verfügen und deren Kommunikation steuern.

Wissenschaftler der Universität Beihang haben 2001 70 Millionen Social-Media-Beiträge von 200.000 Nutzern und Nutzerinnen analysiert und den emotionalen Grundton der Beiträge ins Verhältnis zu ihrer Verbreitungsgeschwindigkeit gesetzt. Man wollte herausfinden: Ist Emotion A viraler als Emotion B? Das Ergebnis deckt sich mit den Einschätzungen von Kahneman zur Negativitätsdominanz. Die viralste Emotion ist dieser Studie zufolge Wut, dicht gefolgt von Trauer, danach kommt Ekel; positive Emotionen sind in Sachen Verbreitungsgeschwindigkeit deutlich unterrepräsentiert. Das heißt: Wer eine Botschaft in sozialen Medien möglichst effektiv verbreiten möchte, ist gut beraten, negative Gefühle wie Wut oder Angst zu bedienen. Vor diesem Hintergrund wundert es wenig, dass (Rechts-)Populisten wie Javier Bolsonaro (Brasilien), Rodrigo Duterte (Philippinen) oder Donald Trump (USA) im Vergleich zu ihren gemäßigteren Konkurrenten die höchsten Interaktionskennzahlen auf Facebook im Vergleich vorweisen.

Eine Studie der University of California kommt zu einem differenzierteren Ergebnis. Demnach hätten auch positive Emotionen eine virale Komponente, entscheidend sei der Grad der Intensität beziehungsweise die Lautstärke. Einigkeit herrscht in der Wissenschaft über den Verbreitungsgrad von Zwischentönen. Gemäßigte, differenzierte Stellungnahmen gelten als Gift für die Reichweite, während Extrempositionen – ob positive oder negative – die mit Abstand höchste Interaktionswahrscheinlichkeit versprechen und damit die höchste Gewinnwahrscheinlichkeit für die Betreiber der entsprechenden Kommunikationsplattform.

Für ein Nachrichtenmedium, aber auch für Privatpersonen bedeutet das: Will ich gehört oder gelesen werden, muss ich Ambiguität vermeiden. Das ist nichts, was wir uns als Grundsatz immer wieder vor Augen führen müssen, vielmehr lernen wir den Hang zur Extremposition beiläufig, fast schon spielerisch. Ganz tief in der DNA der aktuellen Architektur des Internets steckt ein Belohnungs- und Anreizsystem, das sich über nahezu jede digitale Erfahrung erstreckt. Über Likes, Retweets, Kommentare und Aufrufzahlen bekommen wir über eine Vielzahl unserer Online-Interaktionen Feedback, in der Regel über soziale Resonanz. Mal wird man belohnt, mal wird man bestraft, beziehungsweise: Viele Likes zu bekommen fühlt sich gut an, wenige Likes zu bekommen fühlt sich schlecht an. Diesem Belohnungssystem, das ich lieber Erziehungssystem nennen möchte, kann man sich nur schwer entziehen. Es sorgt dafür, dass wir unbewusst zu Reflexen neigen, hinter denen die Erwartung einer Belohnung steht. Ein erfahrener Social-Media-Nutzer antizipiert automatisch die Performance seiner Selfies, Kommentare und Meinungen, weil er im besten behavioristischen Sinne dazu konditioniert wurde.

Der Behaviorismus erlebt durch Social Media eine Renaissance, weil wir durch vernetzte Menschen, die sich freiwillig bis ins Detail vermessen lassen, exzellente Bedingungen zur Verhaltensmanipulation vorfinden. Facebook hat es über ein einfaches Anreizsystem geschafft, die Kommunikation innerhalb der gesamten vernetzten Welt zu verändern. Das Unternehmen hat uns dazu erzogen, die Extremposition der gemäßigten Aussage vorzuziehen, weil dann die Wahrscheinlichkeit auf Feedback, also Belohnung, steigt. So fühlt es sich beim Verfassen einer Botschaft nicht immer an, aber das Gehirn beziehungsweise der Nucleus accumbens im präfrontalen Kortex lernt leidenschaftlich gern über Impulse der Belohnung. Nur haben wir gelernt, dass Facebook Extrempositionen aktiv fördert und sogar Algorithmen entwickelt, die moderate Töne herausfiltern, und zwar aus ökonomischem Interesse. Hier ergibt sich ein Konflikt zwischen den Gewinninteressen von Social-Media-Services und den Ansprüchen der Demokratie. Denn den wichtigsten Kanälen unserer Kommunikation und Informationsbeschaffung geht es nicht um die Qualität der Kommunikation, sondern um die Förderung von Daten durch möglichst hohe Interaktionszahlen. Das heißt: Wir führen weite Teile der öffentlichen Debatte auf einem Kanal, der aus ökonomischen Interesse Extrempositionen priorisiert – also einem Kanal, der für Debatten ungeeigneter nicht sein könnte. Wenn wir davon ausgehen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Stabilität einer Demokratie und der Qualität der Debatte, die in ihr geführt wird, dann beeinflussen die Gewinninteressen von Social-Media-Services die Politik direkt. Dabei ist das Prinzip eines sozialen Netzwerks bei Lichte betrachtet eigentlich fantastisch für die öffentliche Debatte, weil es die Teilhabe an ihr buchstäblich demokratisiert.

Immer wieder wandern Gedankenspiele eines sozialen Netzwerks in öffentlicher Hand durch die Debatten. Hier würde die Vernetzung ohne Profitinteressen zumindest die algorithmisch verstärkte Verhaltensmodifikation ausschließen. In so einem Netzwerk müssten Nachrichtenanbieter nicht fürchten, von einem Algorithmus gefiltert zu werden, und könnten sich wieder exklusiv dem Inhalt widmen. Polarisierende Nachrichten und Meinungen werden dann immer noch die höchsten Reichweiten haben; so waren Boulevard-Medien auch vor dem Internet stets erfolgreicher als ihre differenzierenden Pendants. Das mediale und damit gesellschaftliche Klima würde sich dennoch spürbar abkühlen, weil das Öl fehlte, das die mächtigsten Unternehmen der Welt aktuell ins Feuer der öffentlichen Debatte gießen. Und doch wird das öffentlich-rechtliche soziale Netzwerk ein Gedankenspiel bleiben, denn ohne Nutzer kein Netzwerk. Facebook, Whatsapp und Instagram sind längst ein Standard, der seine zig Millionen Arme ganz tief in die Architektur des Internets und in die Köpfe seiner User gegraben hat. Eine Non-Profit-Alternative wird sich dagegen nicht durchsetzen können. Nicht einmal Google hat es geschafft, sich 2011 mit dem Angebot Google Plus als Facebook-Alternative durchzusetzen. Die Gelder, die es bräuchte, um ein ernsthaftes Konkurrenz-Angebot zu entwickeln, würde man dem Steuerzahler kaum erklären können.

Regeln für Internet-Giganten

Der Staat muss keine Alternative zu Facebook anbieten, um dem Problem überhitzter Debatten und gesellschaftlicher Gräben Herr zu werden. Es reicht völlig aus, über verbindliche Regeln nachzudenken, die das Original einhalten muss. Momentan sind soziale Netzwerke frei in der Gestaltung ihrer Interaktionsalgorithmen. Es spricht nichts gegen intelligente Auflagen, die etwa die Methode regulieren könnten, wie ein Content-Filter arbeiten darf und wie nicht. Der Soziologe Ulrich Dolata fordert eine neue Aufsichtsbehörde, die Plattformen wie Facebook und Konzerne wie Google im allgemeinen Interesse kontrollieren soll. So eine Behörde könnte Richtlinien entwickeln und Untersuchungskommissionen beauftragen. Ebenso wäre eine Regelung wünschenswert, die bestimmt, welche Daten ein Unternehmen auslesen darf und welche nicht. Viele Apps verlangen beispielsweise vor der Installation einen Zugriff auf das Adressbuch, die Fotos und die Bewegungsdaten, selbst, wenn diese Daten augenscheinlich nichts mit der Funktion der jeweiligen App zu tun haben. Oft berufen sich Unternehmen darauf, dass die Freigabe freiwillig erfolgt und es jedem Nutzer offen steht, sich dagegen zu entscheiden. Aber auch hier spricht nichts gegen eine Auflage, die Unternehmen nur eine zweckgebundene Datenanalyse erlaubt. Die Frage muss erlaubt sein, wozu eine Wetter-App Zugriff auf das Fotoalbum eines Nutzers benötigt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit soll der Beifang einem Datenbroker verkauft werden, der die Fotos biometrisch ausliest und für die Werbe- oder Meinungskampagne eines Kunden aufbereitet.

Wie Sie merken, komme ich vom Hundertsten ins Tausendste, was es für den Autor, noch mehr aber für den Leser sehr herausfordernd macht, sich mit den verborgenen Zusammenhängen der vernetzten Welt auseinanderzusetzen. Bitte glauben Sie mir: Es geht leider nicht einfacher. Das Internet fördert immer kürzere Konzentrationsspannen und fordert uns gleichzeitig alles ab, wenn wir hinter seine Mechanismen und Dynamiken blicken wollen.

ist Schauspieler und Betreiber des gleichnamigen Blogs sowie Autor des Buches "Das Internet muss weg – Eine Abrechnung". E-Mail Link: schlecky@steinbergersilberstein.com