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Quo vadis Europa? - Essay | Europa | bpb.de

Europa Editorial Quo vadis Europa? - Essay Die Suche nach der europäischen Zivilgesellschaft Die Europäisierung der Demokratiebildung Die europäische Republik Unitarisierung durch Europäisierung? Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU

Quo vadis Europa? - Essay

Ludger Kühnhardt

/ 13 Minuten zu lesen

Die Ratifikationskrise der Europäischen Verfassung hat sich ironischerweise zur ersten echten europäischen Verfassungsdebatte entwickelt. Sie ist schon jetzt zu einem Wettbewerb der Ideen geworden.

Einleitung

Die Ratifikationskrise der Europäischen Verfassung hat sich ironischerweise zur ersten echten europäischen Verfassungsdebatte entwickelt. Der Schock, der weite Teile der politischen Eliten in der EU nach den ablehnenden Referenden in Frankreich und in den Niederlanden traf, ist der Erkenntnis gewichen, dass die Bevölkerung der EU-Mitgliedsstaaten mehr denn je in den Prozess der Weiterentwicklung des europäischen Einigungswerkes einbezogen sein will. Diese eigentliche Botschaft der kritischen Bürgerinnen und Bürger in Frankreich und in den Niederlanden, aber auch in vielen anderen EU-Mitgliedsstaaten, hat zu einer Neuausrichtung der Betrachtung geführt.

Die gescheiterte Ratifikation ist Ausdruck einer Vertrauenskrise zwischen Bürgern und Politikern, aber sie ist keine Krise der europäischen Integration an sich. Im Gegenteil: Sie ist sogar eine Chance zur Stärkung der Bürgerbeteiligung im weiteren europäischen Einigungsprozess. Mehr denn je ist dieser dem Monopolanspruch der nationalen politischen Führungen entzogen worden. Er entwickelt sich zusehends zu einem Prozess auf der Basis einer europäischen Öffentlichkeit, die ihre Interessen und ihre durchaus divergierenden und widersprüchlichen politischen Optionen zum Ausdruck bringt. Die Voten in Frankreich und in den Niederlanden trafen und betrafen auch alle anderen EU-Mitgliedsstaaten. Daher war es nur folgerichtig, dass alle anderen nicht zur Geisel der französischen und niederländischen Abstimmungsmehrheiten genommen werden durften. Zu Recht entschied der Europäische Rat, dass der Ratifikationsprozess in allen anderen Mitgliedsstaaten fortgesetzt werden solle, wenngleich er nicht, wie ursprünglich geplant, bis Ende 2006 abzuschließen ist.

Die Verlängerung des Ratifikationsprozesses trägt dem Willen zu einer intensiven Verfassungsdebatte in der EU Rechnung. Diese Entscheidung verhindert keineswegs, dass dieRatifikationsverfahren gemäß den spezifischen Maßgaben der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten fortgeführt werden können. Schon am Tag nach dem niederländischen Votum ratifizierte das Parlament von Lettland die Europäische Verfassung, bald gefolgt vom Parlament von Malta. Einen Wendepunkt in der Krisenstimmung stellte schließlich die Volksabstimmung in Luxemburg am 10. Juli 2005 dar. Mit deutlicher Mehrheit votierten die Bürger Luxemburgs für die Europäische Verfassung. Es war ein Erfolg für den mutigen und "durch und durch" europäischen Premierminister Jean-Claude Juncker und es war ein Erfolg für den erforderlichen Dialog zwischen Politik und Bürgerschaft in den zentralen Fragen der künftigen Ausgestaltung der EU. Mit dem Luxemburger Votum ist deutlich geworden, dass die Europäische Verfassung keineswegs "tot" ist, wie Skeptiker nach den Abstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden vorschnell mutmaßten. Die Verfassungsdebatte, die auch in Luxemburg mit ungeahnter Intensität geführt worden war, dürfte hingegen in der gesamten EU weitergehen und nachhaltig wirken.

Unterdessen hat die Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten und mit ihr eine Mehrheit der Unionsbürger die erste Europäische Verfassung ratifiziert. Wege aus der Ratifikationskrise müssen gleichwohl weiter gesucht werden, wenn die Verfassung in allen Mitgliedsstaaten in Kraft treten soll. Die EU hat sich dafür bis Mitte 2006 Zeit genommen. Welche Lösungen am Ende auch immer gefunden werden mögen - sie werden pragmatischer Natur sein, so wie es auch in früheren Fällen angesichts von krisenhaften Erschütterungen des Integrationsprozesses der Fall gewesen ist. Am Ende der derzeitigen Ratifikationskrise kann durchaus immer noch die allseitige Verwirklichung der Europäischen Verfassung stehen, geboren aus dem Geist des kritischen öffentlichen Dialoges und der Stärkung des Prinzips einer europäischen Öffentlichkeit. Dies wäre ein Triumph der europäischen Demokratie und der europäischen Integration über ihre Kritiker.

Drei Erkenntnisse, die in der weit verbreiteten Nervosität der europapolitischen Debatte seit den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden eher unterbelichtet geblieben sind, verdienen es, festgehalten zu werden.

Erstens: Der gesamte europäische Einigungsprozess war seit eh und je Ausdruck einer wechselseitigen Verstärkung und Durchdringung von "Erweiterung" und "Vertiefung". Oft geschah dies unter Schmerzen, angetrieben durch Krisen und mit unvorhergesehenen Umwegen und Effekten. Jede Stärkung der Strukturen der europäischen Integration hat in den vergangenen fünf Jahrzehnten die Frage nach einer Erweiterung der Mitgliedschaft aufgeworfen, mit jeder Erweiterung in der Mitgliedschaft hat sich die Frage nach der erforderlichen Stärkung der Strukturen gestellt. Die beispiellose Erweiterung der EU um zehn neue Staaten im Mai 2004 hatte bereits im Vorfeld unter den politischen Eliten die Erkenntnis verfestigt, dass eine Stärkung der Integrationsstrukturen erforderlich sei, um die Europäische Union mit 450 Millionen Bürgerinnen und Bürgern in mindestens 25 Mitgliedsstaaten handlungsfähig zu halten. Im Lichte der gewachsenen Einsicht, dass Europas Zukunft in erheblichem Maße von den Problemen und Chancen der Globalisierung abhängt, ist diese Einsicht seit der Erweiterung eher noch gewachsen. Über den "richtigen" politischen Weg im Umgang mit der Globalisierung wird in der EU selbstverständlich kontrovers diskutiert. Dass aber die Handlungsfähigkeit der EU eine elementare Voraussetzung dafür ist, die gebotenen Entscheidungen gemeinsam und damit wirkungsvoll zu treffen, wird kaum bestritten. Die Sicherung und Verbesserung der Handlungsfähigkeit der EU ist heute unabdingbarer denn je. Insofern harrt die EU weiter jener Stärkung ihrer Handlungsstrukturen und deren gleichzeitiger Verankerung im politischen Willen ihrer Bürger, zu der die Europäische Verfassung einen wichtigen Beitrag leisten würde.

Zweitens: Institutionelle Entwicklungen und politische Entscheidungen bedingen einander. Je mehr die Bürger davon überzeugt sind, dass politische Entscheidungen zu ihrem Wohle wirken oder wirken könnten, desto eher interessieren sie sich für die Frage danach, welcher institutionelle Rahmen zur Optimierung dieses Ziels erforderlich oder nutzbringend wäre. Insofern hatte der derzeitige EU-Ratspräsident Tony Blair Recht, als er sagte, zunächst müsse die Politik der EU stimmen, dann könnten die Bürger auch wieder für die Verfassung gewonnen werden. Hier liegt aber zugleich das größte strukturelle Problem im derzeitigen Entwicklungsstadium der europäischen Integration: Während die nationalen Regierungen nach wie vor für erhebliche Teile der politischen Entscheidungen in der EU verantwortlich sind, wird von Politikern ein Großteil der Kritik an den Folgen ihrer Entscheidungen auf die EU und ihre Institutionen abgewälzt. Dass viele Bürger diese Fehlinterpretation in ihrer Wahrnehmung übernehmen, erschwert die Situation zusätzlich. Der Verfassungsrahmen soll die politische Rechenschaftspflicht der EU-Institutionen stärken, doch viele Kritiker lehnen die Verfassung ironischerweise ab. Dabei sollte sich ihre Kritik im Grunde genommen eher gegen ihre eigenen nationalen Führungen und deren Verantwortung für spezifische Entscheidungen im Lichte der Globalisierung richten, während ihre Kritik durch die EU-Verfassung eine zukunftsweisende Antwort hinsichtlich der Stärkung von Demokratie, Effizienz und Transparenz in der europäischen Politik finden würde.

Drittens: Das Verhältnis zwischen politischen Führungen und Unionsbürgern befindet sich in einer strukturellen Schieflage. Während die Unionsbürger von ihren nationalen Führungen erwarten, was bestenfalls eine gemeinschaftliche EU-Führung leisten kann, verhalten sich nationale Führungen doppelt ambivalent: Einerseits treten sie als Vertreter nationaler Interessen auf, andererseits wollen sie einen europäischen Führungsanspruch verwirklichen. Während Ersteres immer seltener widerspruchsfrei oder ohne Zustimmung anderer europäischer Partner gelingen kann, funktioniert europäischer Handlungsanspruch nur im Kompromiss mit allen anderen EU-Partnern. Logischerweise müssten daher eigentlich die europäischen Institutionen - allen voran die Europäische Kommission und ihr Präsident sowie das Europäische Parlament und seine supranational zusammengesetzten Fraktionen - die strategische Führung in der Suche nach Auswegen aus der Verfassungskrise übernehmen, solange der Europäische Rat sich nicht wirklich alsein "europäisches" Gremium präsentiert, sondern als eine Veranstaltung zur Durchsetzung nationaler Interessen. Solange der Führungsanspruch nationaler Regierungen aber vorgaukelt, diese alleine könnten die Lösung für die zentralen Anliegen ihrer Bürger bringen, bleibt nicht nur der weitere Ratifikationsprozess der Europäischen Verfassung, sondern auch der Prozess der Formulierung einer konsistenten und zukunftsweisenden europäischen Wirtschafts-, Sozial-, Außen- und Gesellschaftspoltik schwierig.

Vor diesem Hintergrund lassen sich für die weitere Entwicklung des europäischen Einigungswerkes einige Hypothesen ableiten, die den engen Zusammenhang zwischen Verfassungsdebatte, Zukunftsfähigkeit der europäischen Politik und der Wiederherstellung eines Vertrauensverhältnisses zwischen politischen Führungen und Unionsbürgern auf der europäischen Ebene deutlich machen.

Erstens: Während die EU von ihrem vollmundigen Ziel abgerückt ist, bis zum Jahr 2010 die innovativste Wirtschafts- und Technologieregion der Welt zu werden, bleibt die Frage unbeantwortet, mit welchen politischen Instrumenten die EU die hohe Arbeitslosigkeit in den meisten ihrer Mitgliedsstaaten bekämpfen will. Ebenso offen ist, wie die Wachstumsschwäche der größten Volkswirtschaften überwunden werden soll und wie optimalere Zukunftsvoraussetzungenin gesellschaftlichen Problembereichen (Überalterung, Migration, Bildungs- und Familienfragen) geschaffen werden können. Nur eine auf Wachstum und Arbeitsplatzschaffung angelegte Politik kann der EU dauerhaft Wohlstand und soziale Sicherheit garantieren. Der Globalisierungsdruck, den die dynamischen Volkswirtschaften der USA und Ostasiens, namentlich Chinas, auslösen, wird in Europa nicht durch die Verweigerung von Realitäten zu bremsen sein. Europa muss wieder Zukunftswillen und Zukunftskraft entwickeln, indem es Strategien befördert, die Wachstum und Arbeitsplätze schaffen. Daher kommt der öffentlichen Erörterung der erforderlichen Prioritäten für das Budget der EU in den kommenden Jahren so enorme Bedeutung zu. Dass der Europäische Rat Mitte 2005 mit der Aufgabe gescheitert ist, einen Budgetrahmen für die Jahre 2007 bis 2013 zu verabschieden, könnte sich am Ende als Segen herausstellen. Denn nun sind alle politischen Akteure endlich dazu gezwungen, öffentlich über eine Neuordnung der Prioritäten nachzudenken, die sich aus den Erwartungen der Unionsbürger ergeben: Vorrang müssen Budgetentscheidungen zugunsten von Forschung und Bildung, von Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätzen haben. Es bleibt zu hoffen, dass die gesamte Struktur der Gemeinsamen Agrarpolitik jetzt endlich gründlich überarbeitet wird, um die finanziellen Spielräume der EU zugunsten zukunftsorientierter Politikfelder zu erweitern. Diese Aufgabe fällt nun der britischen EU-Ratspräsidentschaft zu.

Zweitens: Die europäische Politik muss in allen ihren Institutionen deutlicher zum Ausdruck bringen, dass sie einem sich immer deutlicher entwickelnden europäischen Gemeinwohl zuarbeitet und nicht bloß ein technischer Apparat ist, der sich vorwiegend mit sich selbst beschäftigt. "Europäisches Gemeinwohl" in einer EU, in der die regionalen sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede größer sind als jemals zuvor, kann nur heißen: konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, Garantie von Wettbewerb um die besten lokalen, regionalen und nationalen Lösungen (beispielsweise in der Steuer-, Umwelt-, Bildungs- und Wirtschaftspolitik) und Verzicht auf freiheitsbegrenzende bürokratische Regelungen, deren Ursprung oft keineswegs in bürgerfremden Brüsseler Amtsstuben zu finden ist, sondern in den Interessen von Firmen oder Branchen (und deren lokalen politischen Protektoren), die ihre Monopolstellung sichern oder eine solche herstellen wollen. Europas Vielfalt ist nicht nur im Blick auf Europas Kultur sein eigentliches Gut und sein globaler Attraktivitätsvorsprung. Europas Vielfalt muss auch in Bezug auf Ordnungs-, Wettbewerbs- und Wachstumspolitik zum Motor einer neuen europäischen Dynamik werden. Nur so können Wachstumspotenziale im gemeinsamen europäischen Markt gefördert werden. "Europäisches Gemeinwohl" ist kein Monopolanliegen der Gremien und Institutionen der EU, sondern es muss auch ein persönliches Anliegen der Bürger Europas sein

Drittens: Europas Politiker werden sich im Wettbewerb um die besseren Konzepte immer mehr nicht nur ihren nationalen politischen Protagonisten, sondern in gleicher, wenn nicht zunehmend in stärkerer Weise dem europaweiten Vergleich stellen müssen. Das ist ein neuer Tatbestand der europäischen Politik, der auf Dauer den Charakter der parteipolitischen Strukturen in der EU erfassen und transformieren wird. Es reicht nicht mehr, in der Steuerpolitik, in der Bildungspolitik, in der inneren Sicherheit oder in der Frage der Integration muslimischer Gemeinschaften im Streit mit den jeweiligen nationalen politischen Gegnern zu gewinnen. Wer Wahlen in Europa für sich entscheiden will, auch nationale Wahlen, wird immer mehr mit der Frage konfrontiert werden, ob seine jeweiligen Positionen und Vorschläge im Wettbewerbsvergleich mit den Ideen und Lösungserfahrungen anderer europäischer Partnerländer überzeugen können. Oft ist in der Vergangenheit Klage darüber geführt worden, dass Wahlen zum Europäischen Parlament im Kern nationale Wahlen waren (oftmals Bestrafungswahlen für die jeweilige nationale Regierung). Es liegt in der Struktur der europäischen Integration und der Herausforderungen, die die Globalisierung an Europa richtet, dass dies zwar weiterhin so bleiben mag, zugleich aber nationale Wahlen immer mehr auch zu Wahlen im europaweiten Wettbewerb um die besten Ideen und Erfahrungen werden. Auch dies ist eine Form der Politikverschränkung, die nicht nur für die institutionellen Strukturen der EU gilt, sondern vermehrt auch die intermediären Strukturen der Politik mit beeinflussen wird.

Was heißt dies konkret mit Blick auf die nächste politische Etappe des europäischen Einigungswerkes? Ich möchte hierfür drei Gedanken zur Diskussion stellen.

Erstens: Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union müssen sich stärker als ein originäres Gremium der Europäischen Union begreifen. Aus diesem Prinzip der wechselseitigen Verpflichtung und Abhängigkeit erwächst eine Pflicht, Rücksicht aufeinander zu nehmen und gemeinsam der Herausbildung von europäischen Interessen zu dienen. Kein Staats- und Regierungschef muss darauf verzichten, die berechtigten Interessen seines Landes zu vertreten. Aber jeder sollte begreifen, dass er als Angehöriger des Europäischen Rates vor der EU als Ganzes in der Verantwortung steht. Folgerichtig wäre es gewesen, wenn der Staatschef Frankreichs und der Ministerpräsident der Niederlande - die beide die Europäische Verfassung im Namen ihres Landes im Oktober 2004 unterzeichnet haben - nach dem negativen Ausgang des Ratifikationsreferendums in ihrem Land zurückgetreten wären. Mit ihnen zusammen jedenfalls ist nach aller Wahrscheinlichkeit für alle anderen in der EU kein Ausweg aus der Krise zu finden, der das Inkraftreten der Verfassung in allen Mitgliedsländern erlaubt. Da sie im Amt geblieben sind, werden alle anderen EU-Partner auf den Ausgang der nächsten regulären Wahlen in Frankreich und den Niederlanden warten müssen, um beide Länder in einen europäischen Neubeginn einzubeziehen. Dadurch verlieren Frankreich und die Niederlande, aber auch alle anderen EU-Mitgliedsländer Zeit, während die momentanen Probleme sogar noch größer werden.

Zweitens: Nationale Wahlen müssen um die Komponente eines europäischen Vergleichs der zur Wahl anstehenden politischen Optionen erweitert werden. Keine Steuerreformkonzeption, keine Arbeitsmarktreform oder Reform der sozialen Sicherungssysteme steht für sich allein. Sie muss sich in jedem EU-Mitgliedsland nicht bloß im Verhältnis zur heutigen Situation bewähren, sie muss auch im europäischen Vergleich überzeugen und Erfolg versprechend sein. Im Bereich der Bildungspolitik sind durch die europaweiten PISA-Studien Elemente des Vergleichs in die öffentliche Diskussion eingeführt worden, denen sich kein nationaler (oder regionaler) Akteur mehr entziehen kann. Vergleich schafft Wettbewerb und Wettbewerb stärkt den Willen zur Suche nach Verbesserung. Das gleiche Prinzip sollte in der gesamten EU systematisch in Bezug auf alle Politikfelder eingeführt werden, in denen es europäische Interessen und gemeinsame Verpflichtungen gibt: So würde der Nachteil nationaler politischer Strategien und Strukturen offen gelegt und ein Anreiz geschaffen, um jene Reformkonzeptionen in den nationalen politischen Debatten zu stärken, die "europafähig" sind. Die anstehende Wahl zum Deutschen Bundestag sollte dazu genutzt werden, um die Positionen der Parteien nicht allein danach zu befragen, wie sie im Vergleich zueinander abschneiden, sondern wie sie im Blick auf die Lage der EU insgesamt und im Vergleich zu den Erfahrungen, Positionen und Zielsetzungen anderer (vor allem erfolgreicherer) EU-Partnerländer wirken würden.

Drittens: Die gemeinsame Unionsbürgerschaft in der EU muss so um die Dimension politischer Mitwirkungsrechte gestärkt werden, dass Transparenz erhöht und Vergleichbarkeit hergestellt wird. Dazu gehört, dass es in Zukunft gemeinsame europäische Wahlprogramme und Kandidatenlisten der Parteien bei den Wahlen zum Europäischen Parlament geben sollte. Nur so kann in der gesamten EU über vergleichbare politische Vorstellungen entschieden werden, die Auswirkungen auf alle Unionsbürger haben könnten. Dazu gehört auch, dass es in Zukunft zeitgleich europaweite Referenden zu Kernfragen der europäischen Politik geben sollte.

In diesem Zusammenhang muss erneut darüber nachgedacht werden, ob auch am Ende der derzeitigen Ratifikationskrise der Europäischen Verfassung ein abschließendes, zeitgleiches und gemeinsames Referendum in allen EU-Mitgliedsstaaten stehen sollte, um das für die Zukunftsfähigkeit der EU wichtige Dokument überzeugend zu ratifizieren. Man kann davon ausgehen, dass nach der derzeitigen Verfassungsdebatte und der sich anschließenden Reflexionsphase eine deutliche Mehrheit der Unionsbürger die Europäische Verfassung befürworten wird. Formal wäre ein solches europaweites Referendum daher nicht nötig, vor allem nicht in den Ländern, in denen die Verfassung bereits per Volksentscheid ratifiziert worden ist. Aber wäre ein abschließendes europaweites Referendum nicht eine Möglichkeit, um in Frankreich und in den Niederlanden faktisch ein zweites Referendum durchzuführen, das gesichtswahrend für diese altehrwürdigen EU-Mitgliedsländer wäre? Würden dadurch andere kritische EU-Mitgliedsstaaten, in denen ein Referendum noch aussteht, nicht von der Verlegenheit befreit, mit einem negativen Votum erneut wie im Falle Frankreichs und der Niederlande dem Rest der EU die Ablehnung aufzunötigen? Und würde auf diesem Wege nicht sichergestellt, dass abschließend tatsächlich eine europäische Bevölkerungsmehrheit über die erste Europäische Verfassung entschieden hätte und nicht allein die Addition nationaler Mehrheiten? Ein solches abschließendes Referendum würde die Europäische Verfassung auch von dem Makel befreien, dass Voten per Parlamentsbeschluss geringwertiger angesehen werden als Voten per Referendum. Vor allem aber würde ein gesamteuropäisches Referendum den endgültigen Durchbruch einer europäischen Öffentlichkeit signalisieren, der sich bereits seit einiger Zeit andeutet. Es mag sein, ja, es ist sogar wahrscheinlich, dass sich noch andere und bessere Vorschläge aus der gegenwärtigen Reflexionsphase durchsetzen als die hier vorgetragene Idee. Aber ein Wettbewerb der Ideen ist für die Zukunft der EU besser als ein Taktieren mit dem Ziel, Probleme zu vernebeln und Aufgaben zu verwässern.

Die erste echte europäische Verfassungsdebatte ist schon jetzt ein Wettbewerb der Ideen geworden - und das ist gut so. Zu ihrem Ende sollte allgemein anerkannt werden, dass ein europäischer Verfassungspatriotismus erforderlich ist, wenn die Idee der europäischen Integration im Zeitalter der Globalisierung erhalten bleiben soll. Politische Eliten mögen aus taktischen Gründen Angst vor einem allgemeinen europäischen Referendum über die Europäische Verfassung haben. Für die große Mehrheit der wahlberechtigten Unionsbürger könnte ein abschließendes gemeinsames Verfassungsreferendum jedoch eine gute Chance darstellen, sich von dem Vorwurf zu befreien, sie seien europaskeptisch oder in europäischen Fragen inkompetent - ein Vorwurf, den Politiker den Unionsbürgern gerne machen, nachdem sie selber an europäischer Überzeugungskraft eingebüßt haben.

Am Ende der gegenwärtigen Reflexionsphase sollte jedenfalls nicht nur die Europäische Verfassung in Kraft treten, sondern auch ein neuer Pakt zwischen Unionsbürgern und den europäischen Institutionen stehen. Vielleicht gibt es dazu andere und klügere Wege als ein abschließendes europäisches Referendum. Dazu könnte auch die Möglichkeit gehören, dass gar nicht alle EU-Mitgliedsstaaten die Verfassung ratifizieren müssen, damit sie in Kraft treten kann - eine Übung, mit der das deutsche Grundgesetz seit 1949 gut lebt, hat doch Bayern weder damals noch seither seine formale Zustimmung gegeben; gleichwohl verhält es sich grundgesetztreu. Für die EU gilt im Zeitalter der Globalisierung: Vielleicht könnte wenigstens über einen die Verfassung ergänzenden Pakt, der die zentralen Aufgaben und Verantwortlichkeiten der europäischen Politik benennt, ein europaweites Referendum abgehalten werden.

Dr. phil., geb. 1958; Professor für Politikwissenschaft; seit 1997 Direktor am Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI), Universität Bonn, Walter-Flex-Str. 3, 53113 Bonn,
E-Mail: E-Mail Link: L.Kuehnhardt@uni-bonn.de