Erwartung und Überforderung. Die Pariser Friedenskonferenz 1919
Im Januar 1919 schien Paris dem jungen britischen Diplomaten Harold Nicolson wie eine "noch vom Nervenschock befallene Hauptstadt". Das Gewimmel an Menschen, das Flirren der Erwartungen, das Nebeneinander von Nachrichten und Gerüchten bedeuteten eine enorme physische und psychische Herausforderung. Paris, so Nicolson, "verlor für die Dauer dieser paar Wochen seine Seele. Das Gehirn von Paris, dieses glorreiche Produkt westlicher Zivilisation, hörte auf zu funktionieren. Die Nerven von Paris schrillten misstönend durch die Luft." Schon bald empfand er die Größe der Stadt, die Theater, Konzerte und Museen, den Verkehr und ein hoch nervöses Publikum als Hindernis für die notwendige Konzentration, die doch alle brauchten, um sich der Architektur des Friedens widmen zu können: "Wir kamen uns vor wie Chirurgen, die eine Operation mitten im Ballsaal vornehmen sollten, mit allen Tanten und Anverwandten des Patienten ringsherum."[1]Das lang ersehnte Ende des Krieges schlug sich in hohen Erwartungen für die auszuhandelnde Friedensordnung nieder, die nicht nur europäische Gesellschaften prägten, sondern auch weltweit vernehmbar waren. Zugleich erschienen die ungeheuren Aufgaben der Friedenskonferenz nach dem Ende der multiethnischen Imperien der Habsburger, Romanows und Osmanen als eine fast übermächtige Herausforderung, in der sich bereits eine strukturelle Überforderung andeutete. Auch der aus Irland stammende Korrespondent des "Daily Telegraph", Emile Joseph Dillon, empfand die Stimmung in der französischen Hauptstadt als widersprüchlich. So sehr ihn die Versammlung der ganzen Welt in der Metropole faszinierte, so aufmerksam registrierte er auch die Kluft zwischen den Abendgesellschaften und Konzerten der Politiker und Diplomaten sowie den Einwohnern von Paris, die wenige Wochen nach dem Ende des Krieges mühsam den Alltag meisterten.[2]