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Eingeschränkte Entscheidungsfreiheit | Abtreibung | bpb.de

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Eingeschränkte Entscheidungsfreiheit

Kirsten Achtelik

/ 5 Minuten zu lesen

Schwangere Personen müssen selbst entscheiden können, ob sie ein Kind bekommen wollen oder nicht, das ist eine alte und immer noch aktuelle feministische Forderung, die auch aus menschenrechtlicher und gesundheitspolitscher Perspektive unterstützt wird. In Deutschland wird eine selbstbestimme Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch weiterhin erschwert, da dieser im Strafgesetzbuch im Abschnitt der Straftaten gegen das Leben verhandelt wird. Dies hat negative Folgen: Beispielsweise sind Abtreibungen kein regulärer Teil ärztlicher Lehrpläne, Mediziner*innen durften bis vor Kurzem noch nicht einmal öffentlich darauf hinweisen, dass sie Abbrüche vornehmen, und obwohl weltweit jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens eine Abtreibung hatte, ist das Thema tabuisiert und schambesetzt. Restriktive Gesetze, religiöse Traditionen und Stigmatisierung veranlassen jedes Jahr weltweit Frauen und Mädchen zu unsachgemäßen und gefährlichen Schwangerschaftsabbrüchen, rund sieben Millionen Patientinnen werden laut Ärzte ohne Grenzen jährlich weltweit aufgrund von daraus resultierenden Komplikationen in Krankenhäuser eingeliefert. Selbsternannte Lebensschützer sorgen dafür, dass dies so bleibt.

Aber was ist, wenn die Entscheidung, die Schwangerschaft auszutragen, bereits getroffen wurde, und die schwangere Person sich entschieden hat, aus dem Fötus ein Kind werden zu lassen? Dann gibt es – normalisiert und als Teil der Schwangerschaftsvorsorge wahrgenommen – viele Untersuchungen, die scheinbar sicherstellen sollen, dass mit dem werdenden Kind "alles in Ordnung" ist. Wenn das nicht der Fall ist, wenn eine Normabweichung oder Beeinträchtigung festgestellt wird, dann wird diese Entscheidung häufig revidiert und eine Abtreibung vorgenommen. Auch solche Entschlüsse müssen Frauen treffen können, allerdings spielen die gesellschaftliche Behindertenfeindlichkeit, fehlende sozialstaatliche Absicherungen und ableistische Annahmen über Behinderung bei diesen Entscheidungen oft eine so große Rolle, dass sie schwerlich als selbstbestimmt zu qualifizieren sind.

Wenn eine Abtreibung wegen einer erwarteten Beeinträchtigung des werdenden Kindes erwägt wird, ist das in vielen Ländern nach "embryopathischer Indikation" legal. In Deutschland wurde diese Sonderregel mit der letzten Reform des in §§218ff. geregelten Abtreibungsrechts Mitte der 1990er Jahre abgeschafft. Dies war ein Erfolg der Behindertenverbände, die eine Sondergesetzgebung als diskriminierend kritisierten. Die Abschaffung dieser Indikation bedeutet allerdings nicht, dass Abtreibungen nach pränataler Beeinträchtigungsdiagnose nicht mehr möglich sind. Solche Fälle sollten künftig von der medizinischen Indikation aufgefangen werden, vermerkt der Kommentar zum Gesetzentwurf: Die medizinische Indikation erlaubt Schwangerschaftsabbrüche, wenn durch die Schwangerschaft das Leben oder die Gesundheit der Frau gefährdet werden. Durch die Integration der embryopathischen in die medizinische Indikation wird den indikationsausstellenden Ärzt*innen die Annahme nahegelegt, dass das Austragen der Schwangerschaft und das Leben mit einem behinderten Kind die psychische Gesundheit der Frau gefährden könnten und ihr deswegen nicht zugemutet werden kann.

In dieser Annahme der Unzumutbarkeit steckt ein großes Problem, da sie an das gesellschaftlich dominante Bild von Behinderung andockt, das körperliche, geistige und seelische Beeinträchtigungen mit Leiden, Schmerzen und Autonomieverlust gleichsetzt. Diese Meinung ist so omnipräsent, dass es schwerfällt, sie als behindertenfeindliches und ableistisches Vorurteil wahrzunehmen – Ableism bezeichnet die Abwertung von Menschen aufgrund ihrer angenommenen unterdurchschnittlichen Fähigkeiten, mit dem Begriff sind gesellschaftliche Dimensionen besser zu erfassen als mit dem älteren Begriff der Behindertenfeindlichkeit. Menschen mit Behinderung kämpfen jedoch schon seit Jahrzehnten gegen die Vorstellung, dass ihre Lebensqualität durchweg schlechter wäre als die von Menschen ohne Beeinträchtigungen. Die Fokussierung auf das vermeintliche Defizit und die unterschiedliche Bewertung von Menschen aufgrund von angenommener geringerer Funktions- und Leistungsfähigkeit lässt ein Leben mit Behinderung als reduzierten menschlichen Zustand erscheinen und ist daher diskriminierend.

Diese Denkweise findet sich eben auch in der pränatalen Diagnostik: Das werdende Kind wird mit dem Defizit identifiziert und unzumutbar – in der Vorstellung der werdenden Eltern wegen der Gleichsetzung von Behinderung und Leiden auch für das werdende Kind selbst. Die normalisierte defizitorientierte Pränataldiagnostik wiederholt und verstärkt also das ableistische Vorurteil und damit die Diskriminierung behinderter Menschen.

Die Kritik an der strukturellen Behindertenfeindlichkeit der pränatalen Suche nach Normabweichungen und Beeinträchtigungen richtet sich nicht gegen die einzelne Frau oder die Abbruchsentscheidung. Sie richtet sich gegen ein Gesundheits- und Sozialsystem, das die Angst vor einer möglichen Behinderung mit immer mehr und genaueren Tests zu bekämpfen vorgibt, statt das Leben mit Behinderung und das Leben mit einem behinderten Kind zu unterstützen und zu erleichtern. In einer behindertenfeindlichen Gesellschaft, in der Inklusion als Kosten- und Störfaktor statt als Menschenrecht wahrgenommen wird, ist die Sorge darum, was eine mögliche Behinderung des späteren Kindes für das Kind und die Familie bedeuten könnte, verständlich. Das ist allerdings kaum als ein gesundheitliches Problem zu sehen, das mit pränatalen Untersuchungen und einem Schwangerschaftsabbruch "behandelt" werden kann, sondern eher als gesellschaftliches Problem, dem mit gesellschaftlicher Normalisierung eines Lebens mit Behinderung begegnet werden sollte.

Der defizitorientierte Blick auf Behinderung hat nicht nur negative Auswirkungen auf behinderte Menschen, sondern schränkt auch die Entscheidungsfreiheit von Schwangeren und werdenden Eltern ein: Eine Entscheidung, die aus Angst und in Unkenntnis ihrer möglichen Konsequenzen getroffen wird, ist nicht sonderlich selbstbestimmt. Die Angst-Kontroll-Spirale der pränatalen Untersuchungen lässt wenig Raum für die Frage, wozu das Wissen dient. In einer Dynamik, in der Frauen mit Kinderwunsch ihren Körper schon vor der Schwangerschaft optimieren, um dem späteren Kind die besten Startchancen zu bieten, kann es als Verantwortungslosigkeit wahrgenommen werden, nicht alle Untersuchungen in Anspruch genommen zu haben. Wenn die Untersuchungen von der Krankenkasse bezahlt werden und die Ärzt*innen dazu raten, dann sind sie scheinbar notwendig und medizinisch sinnvoll. Wenn die Schwangere dennoch Zweifel hat, können Nachfragen im Freundeskreis oder die in der ärztlichen Praxis geforderte Unterschrift, dass sie auf eigenes Risiko auf den Test verzichtet, als Druck wahrgenommen werden. Dazu kommt der Wunsch der Schwangeren selbst, zu wissen, ob "alles in Ordnung" ist.

Dass die meisten Tests und ihre Ergebnisse keine positive Auswirkung auf die Lebensqualität des späteren Kindes haben und nur die Entscheidung für oder gegen eine Abtreibung eröffnen, ist den wenigsten Schwangeren bewusst. Nur ein kleiner Teil der pränatalen Untersuchungen trägt zur Gesundheit des werdenden Kindes bei, kann als Geburtsvorbereitung lebensrettend sein oder eine pränatale Therapie des Fötus ermöglichen. Die meisten Tests suchen nach körperlichen und genetischen Abweichungen von einer gedachten und festgelegten Norm. Werden hierdurch Hinweise auf Beeinträchtigungen gefunden, folgen weitere Untersuchungen, um die Ursache zu finden und einen Schweregrad abschätzen zu können. In der Wartezeit auf die Ergebnisse erhöht sich die Angst der Schwangeren enorm. Bestätigt sich der Verdacht, gibt es für die meisten diagnostizieren Beeinträchtigungen keinen Behandlungsvorschlag. Schwangere stehen nach so einer Diagnose vor der Entscheidung, ob sie das werdende Kind, dessen Wohlergehen die Tests dienen sollten, unter diesen Umständen überhaupt noch bekommen wollen.

Statt diese fatale Dynamik weiter anzuheizen, ist es an der Zeit, die Ängste der Schwangeren statt mit Pränataldiagnostik mit einer inklusiven, geschlechtergerechten und behindertenfreundlichen Politik zu bekämpfen und so auch die Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Frauen zu vergrößern.

ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet beim Gen-ethischen Netzwerk e.V. in Berlin sowie als freie Journalistin und Autorin. Externer Link: http://www.kirsten-achtelik.net