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Von der beschränkten zur vollen Souveränität Deutschlands | 50 Jahre Souveränität | bpb.de

50 Jahre Souveränität Editorial Von der beschränkten zur vollen Souveränität Deutschlands Pariser Verträge - Besiegelung deutscher Zweistaatlichkeit Die Hallstein-Doktrin: Ein souveräner Fehlgriff? Bundesdeutsche Souveränität und die Rückgabe der diplomatischen Akten

Von der beschränkten zur vollen Souveränität Deutschlands

Hanns Jürgen Küsters

/ 17 Minuten zu lesen

Die Pariser Verträge vom 23. Oktober 1954 beseitigten das Besatzungsregime der Westmächte, gaben der Bundesrepublik die volle Macht eines souveränen Staaten und besiegelten den NATO-Beitritt Deutschlands.

Einleitung

Als die Pariser Verträge am 5. Mai 1955 in Kraft traten, markierten sie die erste große Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zehn Jahre waren vergangen seit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht und der Übernahme der obersten Gewalt in Deutschland durch die vier alliierten Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkriegs.

"Wir sind ein freier und unabhängiger Staat", der "jetzt die Souveränität und damit die Freiheit zurückgewonnen" hat, verkündete Bundeskanzler Konrad Adenauer stolz und stärkte damit das Selbstbewusstsein der jungen Bundesrepublik. Doch wusste er genau: Ihre Souveränität war politisch definiert und unterlag unüberwindbaren Beschränkungen, solange Deutschland geteilt war und keine Friedensregelung mit allen Vier Mächten existierte.

Absicht der Verträge

Seit Gründung der Bundesrepublik im Herbst 1949 war Adenauer bestrebt, die drei Westmächte möglichst schnell zur Beendigung des Besatzungsregimes zu bewegen. Sein Angebot eines deutschen Verteidigungsbeitrags bot dazu den Hebel. Mit seiner Politik der Westbindung wollte er vier Ziele erreichen: für die Bundesrepublik Handlungsfreiheit herstellen, Sicherheit und Schutz vor einem Angriff der Sowjetunion erlangen, die Westmächte verpflichten, das Ziel der Wiedervereinigung zu unterstützen, und ihren Schutz für West-Berlin gewährleisten.

Aus dem ursprünglichen Gedanken, das seit dem 21. September 1949 geltende Besatzungsstatut durch einen Sicherheitspakt zu ersetzen, entwickelte sich bald ein System von Verträgen. Eckpfeiler waren der Deutschland-Vertrag vom 26. Mai 1952 und der Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die als Rahmen für den deutschen Verteidigungsbeitrag dienen sollte. Das Mehrheitsvotum der französischen Nationalversammlung am 30. August 1954 gegen die Aufnahme der Ratifizierungsdebatte stürzte die Westintegrationspolitik in ihre größte Krise. Adenauer lehnte das Angebot der Drei Mächte ab, den Deutschland-Vertrag, der weitgehende Beschränkungen der Souveränität enthielt, in Kraft zu setzen. Ein halbes Jahr zuvor hatte die Sowjetunion in einer einseitigen Erklärung vom 25. März 1954 mit der DDR "gleiche Beziehungen wie mit anderen souveränen Staaten" aufgenommen und ihr formal bescheinigt, "nach eigenem Ermessen über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten einschließlich der Fragen der Beziehungen zu Westdeutschland zu entscheiden".

Auf den Außenministerkonferenzen in London und Paris Ende September und im Oktober 1954 rang Adenauer den drei Westmächten das Zugeständnis ab, den Deutschland-Vertrag zu modifizieren und das Besatzungsstatut aufzuheben. Die Bundesrepublik Deutschland besaß demnach "die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten". Im Gegenzug zur Verzichtserklärung der Bundesregierung, die Einheit Deutschlands gewaltsam wiederherzustellen, verpflichteten sich die Drei Mächte vertraglich, die Bundesrepublik bei der friedlichen Erreichung dieses Ziel zu unterstützen. Zunächst blieben die alliierten Notstandsrechte bestehen, bis die Bundesrepublik eine deutsche Notstandsgesetzgebung verabschiedete. Dass diese erst nach heftigen innenpolitischen Kontroversen 1968 zustande kam, ahnte niemand.

Voraussetzung für den deutschen Verteidigungsbeitrag war die Aufnahme der Bundesrepublik als gleichberechtigtes Mitglied in die nordatlantische Allianz. Fortan stand die Bundesrepublik unter dem kollektiven Sicherheitsschutz der NATO. Sämtliche aufzustellenden deutschen Streitkräfte im Umfang von zwölf Divisionen wurden dem NATO-Oberkommando assigniert. Für Adenauers erneute Verzichtserklärung auf die Herstellung von ABC-Waffen sagten die Bündnismächte zu, die Stationierung ausländischer Truppen in der Bundesrepublik nach dem NATO-Truppenstatut zu regeln. Damit wurde das Stationierungsrecht ausländischer Streitkräfte auf bundesdeutschem Gebiet den alliierten Vorbehaltsrechten entzogen und auf eine Vertragsgrundlage gestellt.

Doch bis zur Ablösung des Truppenvertrags durch das NATO-Truppenstatut im Jahre 1963 behielten die Alliierten Rechte und Privilegien. Die Kontrolle der deutschen Aufrüstung übernahm die Westeuropäische Union (WEU). Sie entstand aus dem 1948 gegen eine erneute Aggression Deutschlands gegründeten Brüsseler Pakt unter Aufnahme der Bundesrepublik und Italiens. Den Weg zur Vertragsunterzeichnung am 23. Oktober 1954 in Paris ebneten drei deutsch-französische Vereinbarungen: die Abhaltung einer Volksabstimmung im Saarland über das vorgesehene Saar-Statut und zwei Abkommen über Wirtschafts- und Rüstungskooperation.

In der Folgezeit behauptete jede Bundesregierung gleich welcher parteipolitischen Couleur, die Bundesrepublik Deutschland sei aufgrund der Pariser Verträge souverän. Damit war aber allenfalls ihre politische Souveränität gemeint. Denn die Bundesregierung befand sich in einem Dilemma. Sie wollte ihren Grundgesetzauftrag erfüllen, die Einheit des deutschen Volkes herbeizuführen, durfte aber deutschlandpolitische Rechtspositionen der Vier Mächte nicht in Frage stellen. Ansonsten wäre der Viermächte-Verantwortung sowie den Forderungen Bonns nach Gewährung des Selbstbestimmungsrecht für alle Deutschen und nach Abschluss einer friedensvertraglichen Regelung die Grundlage entzogen worden.

Im Wesentlichen setzte sich die von Wilhelm G. Grewe, Völkerrechtsprofessor und Adenauers maßgeblicher Berater in diesen Rechtsfragen, entwickelte Philosophie durch, alliierte Vorbehaltsrechte mit souveränen Rechten für die Bundesrepublik zu vereinbaren. Demnach sollten die drei Westmächte die oberste Gewalt in Deutschland beibehalten, jedoch auf die Ausübung der Hoheitsrechte verzichten, mit Ausnahme ihrer am 5. Juni 1945 gemeinsam mit der Sowjetunion übernommenen Verantwortung für Deutschland als Ganzes. Der Bundesrepublik volle Souveränität zu gewähren hätte die Festschreibung der völkerrechtlichen Teilung Deutschlands bedeutet. Die alliierten Vorbehaltsrechte bildeten somit eine wichtige völkerrechtliche Klammer für den Fortbestand Deutschlands als Ganzes. Washington, London und Paris waren sich stillschweigend darüber einig. Sie respektierten die Bundesrepublik trotz dieser Einschränkungen de facto als politisch gleichberechtigte Macht im westlichen Bündnis. De jure aber blieb die Bundesrepublik Deutschland 1955 ein Staat mit beschränkter Souveränität.

Innenpolitische Auseinandersetzungen

Im Deutschen Bundestag war die Ratifizierung der Pariser Verträge heftig umstritten, genauso wie die Ostverträge der Regierung Brandt/Scheel Anfang der siebziger Jahre. Anknüpfend an die "Ohne-mich-Bewegung" im Jahre 1951, mit der Sozialdemokraten, Gewerkschaftler, linke Katholiken und Vertreter der Evangelischen Kirche öffentlich gegen Pläne der Wiederbewaffnung protestiert hatten, stellten sich SPD und DGB am 29. Januar 1955 an die Spitze einer Protestkundgebung in der Frankfurter Paulskirche und verabschiedeten ein "Deutsches Manifest".

Die Gegner der Verträge und natürlich die Regierung in Ost-Berlin führten hauptsächlich drei Argumente ins Feld. Zum einen: Die Aufstellung deutscher Soldaten und ihre Eingliederung in die NATO werde die Teilung Deutschlands besiegeln. Angesichts des Ost-West-Konflikts wachse die Gefahr, dass Deutschland erneut zum Schlachtfeldeiner militärischen Auseinandersetzung werde, möglicherweise sogar eines Atomkrieges. Zum anderen: Der Fortbestand alliierter Vorbehaltsrechte beweise den Mangel an Souveränität der Bundesrepublik. Die Notstandsrechte würden es den Drei Mächten jederzeit erlauben, die oberste Gewalt wieder an sich zu ziehen. Und zudem: Der Deutschland-Vertrag leiste ihnen Vorschub, nichts für die Wiedervereinigung tun zu müssen. Sie würden die Oder-Neiße-Linie als endgültig betrachten und sich mit der Teilung zufrieden geben.

Dieser Kritik begegnete die Bundesregierung mit dem Hinweis auf die Gleichstellung der deutschen Soldaten in der NATO und den kollektiven Schutz, den die Bundesrepublik bei einem Angriff auf ihr Territorium genieße. Vollständige völkerrechtliche Souveränität bedeute die endgültige Anerkennung der Spaltung. Um dieser Entwicklung vorzubeugen, seien die Westmächte im Deutschland-Vertrag nunmehr rechtlich zur Unterstützung der Wiedervereinigung verpflichtet.

Hinter diesen Auseinandersetzungen stand die Furcht, nach Ratifikation der Verträge könnten alle Verhandlungen mit der Sowjetunion über die Wiedervereinigung endgültig gescheitert sein. Im Kern ging es um die politische Frage: Hat die Bundesrepublik mittels Westintegration und Wiederbewaffnung den richtigen Weg zur Wiedervereinigung beschritten, oder hat sie mit der Anerkennung machtpolitischer Realitäten Chancen vergeben? Und es ging um die moralische Frage: Hätte sie nicht aus Verantwortung für das ganze Deutschland auf die Westintegration zugunsten einer unbestimmten Wiedervereinigungsoption verzichten müssen?

Nach Ratifizierung der Verträge im März 1955 schwelte dieser Streit vor allem zwischen Adenauer und dem FDP-Vorsitzenden Thomas Dehler weiter und führte am Jahresende zum Bruch der Regierungskoalition. Die Debatte flammte im April 1957 wieder auf, als die Absicht der Regierung Adenauer bekannt wurde, die Bundeswehr mit nuklearwaffenfähigen Trägersystemen auszurüsten. Unter dem Motto "Kampf dem Atomtod" unterstützte die SPD zunächst lauthals die Warnung von 18 deutschen Atomwissenschaftlern. Nach Chruschtschows Berlin-Ultimatum im November 1958 gab die SPD ihren Widerstand jedoch allmählich auf, weil sie bei den Wählern ihre potenzielle Regierungsfähigkeit nicht gefährdet sehen wollte.

Beschlüsse des Godesberger SPD-Parteitags im November 1959 und die Feststellung ihres Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner am 30. Juni 1960 im Bundestag, "wir bejahen die Landesverteidigung", signalisierten die Anerkennung der Bundeswehr und der Pariser Verträge. Die Sozialdemokraten akzeptierten Adenauers Westintegrationspolitik als Fundament bundesdeutscher Außenpolitik. Dieser überparteiliche Konsens geriet erst Anfang der achtziger Jahre wieder ins Wanken, als SPD-Linke im Zuge der neuen Friedensbewegung und heftiger Demonstrationen gegen den NATO-Doppelbeschluss den Austritt der Bundesrepublik aus dem westlichen Bündnis forderten.

Haben die Pariser Verträge sich bewährt?

Das In-Kraft-Treten der Verträge von Paris und der NATO-Beitritt der Bundesrepublik hatten grundlegende Folgen. Erstens, die Westbindung der Bundesrepublik begründete eine neue Tradition deutscher Außenpolitik. Durch die Verträge erhielt sie jenen Handlungsspielraum, der ihr bis heute eine führende Rolle in der atlantischen Allianz ermöglicht.

Zweitens, die Sowjetunion reagierte am 14. Mai 1955 mit der Gründung des Warschauer Pakts unter Einbeziehung der DDR. Mit Billigung Moskaus proklamierte Ministerpräsident Otto Grotewohl für die DDR ebenfalls einen Wiedervereinigungsvorbehalt, der damals allerdings nicht im genauen Wortlaut, sondern nur sinnentstellt veröffentlicht wurde. Das vereinte Deutschland sollte volle Entscheidungsfreiheit besitzen und nicht im Vorhinein auf die Zugehörigkeit zu einem Bündnis verpflichtet werden.

Drittens, die Teilung Deutschlands verfestigte sich weiter. Aufkeimende Hoffnungen bei dem Genfer Gipfeltreffen der Vier Mächte im Juli 1955, es komme zu einer Entspannung im Ost-West-Verhältnis ("Geist von Genf"), die Chancen auf einvernehmliche Lösungen über die Wiedervereinigung und den Abschluss eines deutschen Friedensvertrages eröffnen könnten, verflogen schnell. Der Kreml erklärte am 20. September 1955 die DDR für souverän. Sie besaß nun wie die Bundesrepublik formal die "volle Macht über die inneren und äußeren Angelegenheiten" und hatte Verpflichtungen aus dem Aufenthalt sowjetischer Truppen auf ihrem Gebiet einzuhalten. Die Viermächterechte wurden davon nicht berührt.

Viertens, trotz der Blockbildung in Europa blieben prinzipielle Optionen für die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands offen: aus Sicht der DDR und der Sowjetunion unter kommunistischen Vorzeichen oder auf der Basis militärischer Neutralität, aus Sicht der Bundesrepublik und der Westmächte zur Einbindung des wiedervereinten Deutschlands in das westliche Bündnis.

Fünftens, mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion im September 1955 demonstrierte Adenauer den gewachsenen Handlungsspielraum der Bundesrepublik. Dieser Schritt war eine logische Folge der politischen Souveränitätserklärung der Pariser Verträge. Doch befand sich die Bundesregierung erneut in einer Zwangslage. Sie musste sich gegenüber den Westmächten als verlässlicher Partner profilieren und zugleich international ihren Alleinvertretungsanspruch behaupten. Mit Verkündung der Hallstein-Doktrin 1955 verhinderte sie über ein Jahrzehnt lang die weltweite Anerkennung der DDR. Zwar drohte Chruschtschow zeitweise, mit der DDR einen separaten Friedensvertrag abzuschließen. Doch zu Ulbrichts Enttäuschung riskierte er einen solchen Schritt nicht, der die Viermächte-Verantwortung aufgekündigt hätte.

Wie nützlich die alliierten Vorbehaltsrechte waren, stellte sich in Zeiten der Entspannungspolitik Anfang der siebziger Jahre heraus. Sowjetische Regierung und SED-Führung machten im Gleichklang unverändert die Pariser Verträge, den NATO-Beitritt der Bundesrepublik und die Wiederbewaffnung für die Zementierung der nationalen Spaltung und den fehlgeschlagenen Friedensvertrag verantwortlich. Dieser Vorwürfe konnte sich die sozialliberale Regierung Brandt/Scheel in den Verhandlungen über den Moskauer Vertrag von 1970 und über den Grundlagenvertrag von 1972 stets mit dem Hinweis auf die Verantwortung der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes erwehren. Im "Brief zur deutschen Einheit", den die Bundesregierung bei Unterzeichnung des Vertrags von Moskau übergab, formulierte sie nochmals ihr Ziel: "auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt". Eine Wiedervereinigung kam nur nach Erlangung der Freiheit für die Menschen in der DDR und nach Gewährung des Selbstbestimmungsrechts in Form freier Wahlen in Betracht.

Dieser Grundsatz blieb auch bei Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte am 1. August 1975 in Helsinki gewahrt. Die Regierung Schmidt/Genscher folgte der Position, die Brandt im Herbst 1969 eingenommen hatte: Die DDR wird de facto als Staat anerkannt, die De-jure-Anerkennung wird ihr aber verweigert. Der vereinbarte Modus Vivendi in Europa und Deutschland basierte hauptsächlich auf vier Grundsätzen: Erstens, die Sowjetunion war bereit, die Präsenz amerikanischer Truppen auf dem europäischen Kontinent als Stabilitätsfaktor anzuerkennen. Zweitens, die Lösung der deutschen Frage stand unverändert in direktem Zusammenhang mit der Frage der langfristigen Sicherheitsbeziehungen zwischen den beiden Blocksystemen. Drittens, ohne Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der europäischen Staaten war die Teilung Deutschlands nicht zu überwinden. Viertens, die friedliche Änderung von Grenzen und politischen Systemen wahrte die Möglichkeit einer friedlichen Wiederherstellung der deutschen Einheit und erlaubte es, den europäischen Integrationsprozess fortzusetzen. Paradoxerweise schuf die Anerkennung des Status quo zugleich die Voraussetzung für dessen Überwindung. Der vereinbarte Modus war aber nur von begrenztem Nutzen, weil er keine dauerhafte Lösung des Rechts aller Deutschen auf Freiheit und Selbstbestimmung implizierte, solange die endgültige politische und völkerrechtliche Regelung der deutschen Frage weiter ungeklärt blieb.

Auf der Grundlage der West- und der Ostverträge sowie der KSZE setzte die christdemokratisch-liberale Regierung Kohl/Genscher ab Oktober 1982 die Politik der schrittweisen Verbesserung der Zusammenarbeit fort, besonders im Verhältnis zu Ost-Berlin und Moskau. Bei aller Entspannungsbereitschaft schienen die Auffassungen zwischen Bonn und Moskau in zwei Punkten jedoch unüberbrückbar zu sein: Die Sowjetunion strebte nach wie vor eine uneingeschränkte Anerkennung des territorialen und politischen Status quo in Mitteleuropa seitens der Bundesregierung an. Und: Sie enthielt den Deutschen das Recht auf Selbstbestimmung vor. Für die Bundesregierung stellte die Überwindung der Teilung stets ein legitimes Interesse dar, das mit dem legitimen Interesse der Nachbarstaaten, in sicheren Grenzen zu leben, in Einklang gebracht werden musste. Diesbezüglich gelang mit Unterzeichnung der gemeinsamen deutsch-sowjetischen Erklärung vom 13. Juni 1989 bei Gorbatschows Besuch in Bonn ein wichtiger Durchbruch. Zum ersten Mal nach dem Kriege erkannte ein sowjetischer Führer das Recht der Deutschen auf Selbstbestimmung an.

Wenige Monate später, nach dem Fall derMauer, zahlte sich das jahrelange Festhalten der Bundesregierung an deutschlandpolitischen Rechtspositionen aus. Ohne die Rechtsverpflichtung der Westmächte zur Unterstützung der Wiedervereinigung und ohne die Verantwortung der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes wären im Februar 1990 die Zwei-plus-Vier-Verhandlungenwohl kaum zustande gekommen.

Volle Souveränität im 2 + 4-Vertrag

Die Trennung, im Kreise der beiden deutschen Staaten und der Vier Mächte über die endgültige Beendigung der 1945 einseitig von den Alliierten übernommenen Rechte zu verhandeln und die Beratungen über Fragen der inneren Wiedervereinigung den Deutschen zu überlassen, beschleunigte den Vereinigungsprozess und setzte die Sowjetunion unter Zugzwang. Unmittelbar nach den ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 handelten Bonn und Ost-Berlin den Vertrag über die deutsch-deutsche Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion aus, der am 1. Juli 1990 in Kraft trat. Er diente als eine Art Zugpferd für die anschließenden Verhandlungen über den Einigungsvertrag, doch mehr noch für die Regelung der äußeren Aspekte der Wiedervereinigung. Hier galt es vier Fragen zu klären, die seit den fünfziger Jahren eine zentrale Rolle spielten: die Bündniszugehörigkeit des vereinten Deutschland einschließlich der Gesamtstärke seiner Streitkräfte, Sicherheitsgarantien für die Alliierten, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze bzw. der endgültige Verzicht Deutschlands auf ein Drittel seines ehemaligen Territoriums und die Aufgabe alliierter Vorbehaltsrechte, durch die Deutschland seine Souveränität erlangte.

Was wollte die Bundesregierung in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen erreichen? Vorrangiges Ziel war die Wiederherstellung der Einheit und Souveränität Deutschlands. Dabei sollten die Bindungen an NATO, EG und WEU erhalten bleiben. Bundeskanzler Kohl wollte die Sowjetunion so schnell wie möglich zum Abzug ihrer Truppen aus dem dann östlichen Teil des vereinten Deutschland bewegen und zugleich die Präsenz der Alliierten in Berlin im Einvernehmen mit allen Beteiligten beenden. Darüber hinaus sollte das politische System der Bundesrepublik auf die DDR ausgeweitet, der Kernstaat Bundesrepublik um das Beitrittsgebiet DDR zum Grundgesetz erweitert werden. Bei den Sechsmächte-Verhandlungen sollte es lediglich um eine vertragliche Regelung gehen, aufgrund deren bestehende Rechte der Alliierten obsolet würden. Das Interesse der Bundesregierung an einem Friedensvertrag war äußerst gering. Ein Diktatfriede à la Versailles 1919 war ebenso wenig akzeptabel wie ein Sonderstatus, der Deutschland singularisieren und diskriminieren würde. Angesichts möglicher materieller Forderungen der Vielzahl ehemaliger Kriegsgegner war es ratsam, auf eine Friedenskonferenz zu verzichten. Die Deutschen wollten nicht mehr Angeklagte sein.

Einen Tag bevor Bundeskanzler Kohl am 10. Februar 1990 nach Moskau reiste und Gorbatschow seine Einwände gegen das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in der DDR aufhob, ließ US-Präsident George Bush den Kanzler wissen, dass Washington der Einheit nur zustimme, wenn das vereinte Deutschland in der westlichen Allianz verankert sei. Wiedervereinigung ohne Westbindung war für Kohl keine Option. Zur Erlangung der Souveränität Deutschlands und des sowjetischen Einverständnis mit dessen NATO-Mitgliedschaft bot der Kanzler drei Zugeständnisse an: Erstens, die Respektierung der Sicherheitsinteressen aller Nachbarstaaten durch Verzicht auf ABC-Waffen. Dieses Angebot entsprach der Verzichtserklärung, mit der Adenauer 1954 auf der Londoner Neunmächte-Konferenz den Gordischen Knoten bei der Aushandlung der Pariser Verträge durchschlug.

Kohl wiederholte diese Erklärung gegenüber Frankreichs Staatspräsidenten François Mitterrand in Paris und Bush in Camp David. Zweitens stimmte Kohl der Begrenzung der staatlichen Einheit Deutschlands auf die Territorien der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und Berlins zu. Damit bezog er dieselbe Position, der auch Adenauer nach den Verhandlungen über den Deutschland-Vertrag im Juni 1952 nicht widersprochen hatte. Drittens war Kohl zu einer endgültigen vertraglichen Bestätigung des Verzichts auf die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie und des 1945 sowjetischer bzw. polnischer Verwaltung unterstellten Territoriums Ostpreußens bereit. Er bestätigte das, was in den Verträgen von Moskau und Warschau 1970 bereits geregelt worden war. Für den endgültigen Territorialverzicht erwartete er die Aufgabe aller Reparationsansprüche.

Nach Auffassung der Westmächte waren für die Wiederherstellung der deutschen Einheit und der vollständigen Souveränität vier wichtige Grundvoraussetzungen erfüllt. Zum einen war die Deutschland repräsentierende Regierung allseits anerkannter Partner, das hieß, sie betrieb keine Wiedervereinigungspolitik gegen die Interessen der alliierten Mächte und deren Verbündete in Europa. Zum anderen befand sich Deutschland nach dem erneuten ABC-Waffenverzicht und der Reduzierung konventioneller Streitkräfte praktisch im Status der Nichtangriffsfähigkeit und unterlag weiterhin der direkten Kontrolle durch das westliche Bündnissystem. Darüberhinaus sicherte die föderale politische Ordnung in Deutschland eine ausreichende Machtdezentralisierung. Und schließlich hatten die Deutschen längst die Mentalität westlicher Demokratien adaptiert und ihre politische Reife unter Beweis gestellt.

Das Erfolgsgeheimnis der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen lag in der Gesichtswahrung aller Beteiligten. Gemeinsam mit den Westmächten war die Bundesregierung bemüht, die Sowjetunion nicht als Verlierer des Kalten Krieges dastehen zu lassen. In dem Verhandlungsergebnis konnte jede Partei für sich einen Erfolg verbuchen. Bonn und Washington hatten ihr Hauptziel - Wiedervereinigung zur Maximalbedingung der Westbindung - erreicht. Gorbatschow hegte für kurze Zeit die Hoffnung, mit deutschen Finanzhilfen akute Wirtschaftsprobleme im eigenen Land lösen und damit die Macht des Sowjetimperiums sichern zu können. Sein Nachgeben inder Frage der Bündniszugehörigkeit Deutschlands bürdete den Westmächten die alleinige Last der Allianzkontrolle über die Deutschen auf. Voraussetzung dafür war die weitere Präsenz amerikanischer Truppen in Europa. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher konnte mit der anhaltenden Bindung Deutschlands an die NATO leben. Mitterrand und die übrigen westlichen Partner hatten mit dem ebenfalls am 1. Juli 1990 beginnenden Stufenplan für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion eine engere Bindung der deutschen Währung und Wirtschaftskraft an die EG in Aussicht.

Der am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnete Zwei-plus-Vier-Vertrag regelte nur die klärungsbedürftigen Fragen. So wurde das Territorium des neuen Deutschland definiert und der noch abzuschließende deutsch-polnische Grenzvertrag sowie der Verzicht auf weitere Gebietsansprüche und auf ABC-Waffen bestätigt. Dazu wurde die vor der KSE-Konferenz in Wien von beiden deutschen Staaten abgegebene Erklärung zur Höchststärke der gesamtdeutschen Streitkräfte mit 370 000 Mann wiederholt. Wichtig aus deutscher Sicht war die Festlegung des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte bis Ende des Jahres 1994 und die zwischen Kohl und Gorbatschow vereinbarte Regelung der Stationierung deutscher Streitkräfte auf dem Gebiet der ehemaligen DDR bzw. das Verbot der Stationierung von Kernwaffenträgern dort. Bestätigt wurden zudem die Freiheit derBündniswahl des vereinten Deutschland sowie die Beendigung der seit dem 5. Juni 1945 von den Vier Mächten beanspruchten Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes. Dass Deutschland die volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten besitzt, wurde als Faktum festgestellt.

Obwohl die Bundesrepublik Deutschland seit dem In-Kraft-Treten des Zwei-plus-Vier-Vertrages am 15. März 1991 auch völkerrechtlich ein souveräner Staat ist, sind heutzutage noch nicht alle Reste der Kriegsfolgen beseitigt. Artikel 53 und 107 der UNO-Charta (so genannte Feindstaatenklausel) erlauben ohne Beschlüsse des Sicherheitsrates Zwangsmaßnahmen gegen solche Staaten, die im Zweiten Weltkrieg gegen einen der Unterzeichnerstaaten der Charta Krieg führten und erneut den Frieden bedrohen. Nicht zufällig waren sich Bundeskanzler Gerhard Schröder und der japanische Ministerpräsident Junichiro Koizumi bei ihrem Treffen am 9. Dezember 2004 in Tokio über die Notwendigkeit der Streichung der Feindstaatenklausel einig.

Politisch gesehen, besitzen die Vier Mächte gegenüber Deutschland unverändert zwei Präs: Sie sind allesamt ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates und verfügen jede über ein Vetorecht. Entsprechend der gewachsenen internationalen Verantwortung hat die Bundesregierung seit September 2004 im Zuge der UNO-Reform den Anspruch Deutschlands auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat geltend gemacht und in der brasilianisch-deutsch-japanisch-indischen Erklärung unterstrichen. Und wenn es eines fernen Tages im Rahmen der gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu einer Regelung des Einsatzes von Nuklearwaffen in der Europäischen Union kommt, so wird vielleicht der ABC-Waffenverzicht Deutschlands ebenso als veraltet angesehen werden wie das Souveränitätsdenken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Ansprache Adenauers über den Sender Freies Berlin vom 5. 5. 1955, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 85 vom 6. 5. 1955, S. 701f.

  2. Vgl. Erklärung der Regierung der UdSSR vom 25. 3. 1954, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion, Bd. I, hrsg. vom Deutschen Institut für Zeitgeschichte, Berlin (Ost) 1957, S. 501f.

  3. Vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik (DzD), II. Reihe/Bd. 4 Die Außenminister-Konferenzen von Brüssel, London-Paris, 8. August bis 23. Oktober 1954, hrsg. vom Bundesministerium des Innern/Bundesarchiv, bearb. vom Verfasser, München 2003.

  4. Vgl. Wilhelm Grewe, Der Deutschland-Vertrag nach zwanzig Jahren, in: Dieter Blumenwitz u.a. (Hrsg.), Konrad Adenauer und seine Zeit. Politik und Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers. Beiträge von Weg- und Zeitgenossen, Stuttgart 1976, S. 698 - 718.

  5. Wortlaut in: Europa-Archiv, 10 (1955) 4, S. 7350.

  6. Vgl. Regierungserklärung Grotewohls vom 19. 11. 1954, in: Dokumentation der Zeit, hrsg. vom Deutschen Institut für Zeitgeschichte Berlin (Ost), (1954) 84, S. 6076 - 6097.

  7. Grotewohl erklärte laut Schlusskommuniqué der Warschauer Konferenz europäischer Staaten zur Gewährleistung des Friedens und der Sicherheit in Europa bei Vertragsunterzeichnung am 14. 5. 1955 (Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin, Nachlass Grotewohl NY 4090/461, Bl. 231f.), dass "das vereinigte Deutschland (...) von den Verpflichtungen, die von diesem oder jenem Teil Deutschlands entsprechend den militärisch-politischen Verträgen und Vereinbarungen, die vor seiner Vereinigung geschlossen und getroffen wurden, frei sein wird". In der veröffentlichten Fassung dieser Erklärung war nur von einem Teil Deutschlands die Rede. Damit wurde der Eindruck erweckt, es sei der Beitritt der Bundesrepublik zur NATO gemeint. Der Hinweis auf "diesen oder jenen Teil Deutschlands", der die DDR einschloss, blieb unerwähnt (Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. II, Berlin [Ost] 1955, S.231).

  8. Vgl. Vertrag über die Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR vom 20. 9. 1955, in: DzD, III. Reihe/Bd. 1, 5. Mai bis 31. Dezember 1955, hrsg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, bearb. von Ernst Deuerlein/Hansjörg Schierbaum, Bonn-Berlin 1961, S. 371 - 374.

  9. Vgl. Pressekonferenz Ulbrichts in Berlin vom 19. 1. 1970, in: Dokumentation der Zeit, (1970) 7, S. 19 - 32. Erklärung Stophs, Erfurt vom 20. 3. 1970, in: DzD, VI. Reihe/Bd. 1, 21. Oktober 1969 bis 31. Dezember 1970, hrsg. vom Bundesministerium des Innern/Bundesarchiv, bearb. von Daniel Hofmann, München 2003, S. 398 - 435, hier S. 404.

  10. Vgl. Brief zur deutschen Einheit, 12. 8. 1970, in: Bulletin, Nr. 107 vom 12. 8. 1970, S. 1058.

  11. Vgl. Gemeinsame Erklärung vom 13. 6. 1989, in: Bulletin, Nr. 61 vom 15. 6. 1989, S. 542 - 544.

  12. Vgl. Sitzung Kabinettausschuss Deutsche Einheit in Bonn vom 14. 2. 1990, in: DzD, Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, hrsg. vom Bundesministerium des Innern unter Mitw. des Bundesarchivs, bearb. vom Verfasser/Daniel Hofmann, München 1998, S. 830f.

  13. Vgl. Schreiben Bush an Kohl vom 9. 2. 1990, ebd., S. 785; dazu auch: Philip Zelikow/Condoleezza Rice, Germany Unified and Europe Transformed. A Study in Statecraft, Cambridge (Massachusetts)-London 1995, S. 185f., 422.

  14. Vgl. Gespräch Kohl - Mitterrand in Paris vom 15. 2. 1990, in: DzD, Deutsche Einheit, S. 842 - 852, hier S. 847; Gespräch Kohl - Bush in Camp David vom 24. 2. 1990, ebd., S. 860 - 873, hier S. 865.

  15. Vgl. dazu die Studie des Verfassers, Der Integrationsfriede. Viermächte-Verhandlungen über die Friedensregelung mit Deutschland 1945 - 1990, München 2000, S. 610f.

  16. Vgl. Georg Ress, Artikel 53 und Artikel 107, in: Bruno Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen. Kommentar, München 1991, S. 679, 1104f.

  17. Vgl. Deutsch-Japanisches Gipfeltreffen, Umriss und Bewertung, Pressemitteilung der Botschaft von Japan in Deutschland, 13. 12. 2004 (http://www.bot schaft - japan.de / presse /pm_041209_gipfel04_02. html, 27. 1. 2005).

  18. Vgl. Stellungnahme Schröders in der ARD-Nachrichtensendung "Tagesthemen" vom 22. 9. 2004 (http://www.bundesregierung.de/artikel -,413.718482/Staendiger-Sitz-fuer-Deutschla.htm, 27. 1. 2005) und brasilianisch-deutsch-japanisch-indische Erklärung vom 21. 9. 2004 (http://www.auswaertiges-amt.de/ www/de/aussenpolitik/vn/vereinte_nationen/d_im sicherheitsrat/vier_html, 27. 1. 2005).

Dr. rer. pol., geb. 1952; Privatdozent für Wissenschaft von der Politik und Zeitgeschichte an der Rheinischen Friedrich- Wilhelms-Universität Bonn und Leiter der Edition Dokumente zur Deutschlandpolitik, Bundesarchiv. Bundesgrenzschutzstraße 100, 53757 Sankt Augustin.
E-Mail: E-Mail Link: h.kuesters@barch.bund.de