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Soziale Milieus - eine praxisorientierte Forschungsperspektive

Stefan Hradil

/ 16 Minuten zu lesen

Unter "sozialen Milieus" werden Gruppierungen jeweils ähnlicher Mentalitäten verstanden. Die Erforschung sozialer Milieuunterschiede ist vor allem in der angewandten Sozialforschung, vor allem im Marketing, weit verbreitet und lässt mittlerweile auch internationale Vergleiche zu.

Einleitung

Von "sozialen Milieus" spricht man nicht nur in den Sozialwissenschaften. Auch im Alltag wird eine Gruppierung von Menschen, die in ähnlichen Umständen leben, ähnlich denken und so das Verhalten der Einzelnen in ähnlicher Weise prägen, als "soziales Milieu" bezeichnet. Besonders häufig wird der Milieubegriff dann benutzt, wenn - etwa bei "bildungsfernen Milieus" - auf soziale Vor- oder Nachteile und zugleich auf kulturelle Unterschiede zwischen solchen Gruppierungen aufmerksam gemacht werden soll. Diese alltagssprachliche Verwendungsweise des Milieubegriffs kommt den sozialwissenschaftlichen Definitionen recht nahe.


Die Entstehung der Milieuperspektive

Das Milieukonzept hat eine Tradition, die bis weit vor die Etablierung der Soziologie als eigenständige Disziplin zurückreicht. Schon in der französischen Aufklärung, als man sich nach dem Vorbild der Naturwissenschaften bemühte, die wesentlichen Einwirkungskräfte auf die menschliche Existenz rational zu erfassen, gingen viele Überlegungen davon aus, dass nicht nur in ererbten Anlagen, sondern auch in äußeren Einflüssen wesentliche Prägekräfte des menschlichen Daseins zu suchen seien.

Als eigentlicher Begründer des sozialwissenschaftlichen Milieubegriffs gilt Hippolyte Taine (1823 - 1893). Bei ihm findet sich das erste Milieukonzept, das eine Verschmelzung zahlreicher sachlicher und menschlicher, äußerer Wirkungsfaktoren als ursächlich für alltägliche Lebensweisen der Menschen vorsieht.

Der Milieubegriff wurde im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts häufig verwendet. Unter "Milieus" verstand man damals neben den sachlichen Gegebenheiten immer mehr auch die jeweiligen Mitmenschen und sogar die eigenen Sichtweisen der Menschen selbst. So stellte für Max Scheler (1874 - 1928) ein Milieu "das Insgesamt dessen dar, was vom Einzelwesen als auf es wirksam erlebt wird". Diese Ausweitung im Sinne einer Soziologisierung und Subjektivierung des Milieubegriffs folgte dem Vordringen von Modernisierung und Industrialisierung in traditionale Lebenswelten. Das Erleben und das Umgehen mit der neuen Industriewelt gestalteten sich sehr unterschiedlich, je nachdem welcher Arbeitswelt, Wohnumgebung, Konfession, Region etc. die Menschen angehörten.

Typisch hierfür ist das berühmte Milieuverständnis von M. Rainer Lepsius. Er wies darauf hin, dass Parteiorganisation und parteipolitische Konflikte in Deutschland noch bis in die zwanziger Jahre hinein von vier "sozialmoralischen Milieus" geprägt waren: vom Katholischen Milieu (Zentrum), vom protestantisch-liberalen Milieu, vom protestantisch-konservativen Milieu sowie vom Arbeitermilieu (Sozialdemokratie).

Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet der Milieubegriff mit der vollen Durchsetzung der Industriegesellschaft in den Hintergrund. Es wurde mehr und mehr unterstellt, dass vor allem anderen die moderne Erwerbssphäre und die industrielle Arbeitswelt (und damit die Klassen- und Schichtzugehörigkeit) die Lage und das Leben der Menschen prägten. In den sechziger und siebziger Jahren gingen Sozialwissenschaftler davon aus, dass Denken und Verhalten der Menschen von ihrer Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit geprägt seien. In Soziologie, Politikwissenschaft, Publizistik etc. war dies die Zeit der "schichtspezifischen" Sozialisation, Sprache usw. Milieubegriffe "passten" nicht gut in die Realität und noch weniger in die damaligen Vorstellungen, die eine ökonomisierte, standardisierte, materiell determinierte Industriegesellschaft zu erkennen glaubten. So wurde der Milieubegriff von der Nachkriegszeit bis in die siebziger Jahre hinein wenig benutzt.

Im Laufe der achtziger Jahre kamen dann, angestoßen von Praktikern aus Schule, Marketing und Politik, immer mehr Zweifel an dieser Vorstellung auf. Mit Wohlstand, Bildung und sozialer Sicherheit schienen auch die Freiheiten und die Unterschiede der Lebensgestaltung gewachsen zu sein. Das Denken und das Verhalten der Menschen wurden nicht (mehr) so weitgehend als Folge der Schichtzugehörigkeit - und damit der Berufsstellung, der Einkommensstufe und des Bildungsgrads - angesehen wie bisher. Damit schienen auch die gesellschaftlichen Unterschiede im Denken und Verhalten nicht (mehr) vorrangig vertikal gegliedert zu sein. Vor dem Hintergrund dieser Eindrücke kam es zu einem Boom von Milieu-(und Lebensstil)studien. Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich hierbei auf Freizeit und Konsum, das heißt, auf Muster des Denkens und Verhaltens, die der Erwerbsarbeit eher fern stehen. Thesen einer "Entkoppelung" des Denkens und Verhaltens von der Schichtzugehörigkeit wurden zum Teil so weit getrieben, dass Bildung, Beruf und Einkommen kaum noch Einfluss auf Mentalität und Lebensführung der Einzelnen zugesprochen wurde. Die sozialen Milieus und Lebensstilgruppierungen - weniger die Klassen und Schichten, denen die Menschen angehörten - wurden zur Erklärung für Konsum, Wahlentscheidungen, Jugendproteste, Sozialisation von Kindern, Mediennutzung etc. herangezogen.

Der Aufschwung (und der Überschwang) der Milieuperspektive in den achtziger Jahren wird verständlich durch die lange anhaltende Wohlstandsmehrung in Deutschland und die weit verbreitete Illusion "immerwährender Prosperität".

Im Laufe der neunziger Jahre wurden die Einschätzungen wieder realistischer. Die Ergebnisse zahlreicher empirischer Studien zeigten, dass soziale Milieus nur teilweise unabhängig, ein gutes Stück aber doch abhängig von der Berufs-, Einkommens- und Bildungshierarchie bestehen und nur dementsprechende Erklärungen des alltäglichen Verhaltens der Menschen leisten können. Diese realistischeren Einschätzungen vollzogen sich vor dem Hintergrund der ökonomischen Stagnation in Deutschland. Wie immer in Zeiten der Rezession rückten wirtschaftliche Umstände als Prägefaktoren der Mentalität in den Vordergrund. In der "Modernisierungspause" bzw. in der "Modernisierung im Zeitlupentempo" erwies es sich, dass es voreilig war, die berufliche Stellung, das Einkommen und den Bildungsgrad als Prägefaktoren für das Alltagsleben der Menschen aufs Abstellgleis zu schieben.

Was sind soziale Milieus?

In der neueren Forschung werden unter "sozialen Milieus" üblicherweise Gruppen Gleichgesinnter verstanden, die jeweils ähnliche Werthaltungen, Prinzipien der Lebensgestaltung, Beziehungen zu Mitmenschen und Mentalitäten aufweisen. Im Kern werden sie also durch "psychologisch tief sitzende" psychische Dispositionen definiert. Diejenigen, die dem gleichen sozialen Milieu angehören, interpretieren und gestalten ihre Umwelt folglich in ähnlicher Weise und unterscheiden sich dadurch von anderen sozialen Milieus.

Kleinere Milieus, zum Beispiel Organisations-, Stadtviertel- oder Berufsmilieus (wie das Journalistenmilieu) weisen darüber hinaus häufig einen inneren Zusammenhang auf, der sich in einem gewissen Wir-Gefühl und in verstärkten Binnenkontakten äußert.

Gelegentlich wird neben Mentalitäten auch das typische Umfeld (Beruf, Wohnen, Einkommen etc.) als Definitionsmerkmal sozialer Milieus herangezogen. In manchen Milieudefinitionen ist zusätzlich das Alltagsverhalten der Menschen eingeschlossen, insoweit es Folge milieuspezifischer Mentalitäten ist. Es lassen sich also mehr oder minder komplexe Definitionen des Milieubegriffes unterscheiden.

Wie sie auch immer definiert sind: Milieubegriffe weisen Eigenschaften auf, die sie von Schichtbegriffen klar unterscheiden. Milieubegriffe betonen erstens die "subjektive" Seite der Gesellschaft. Sie bezeichnen Gruppierungen gleicher Mentalitäten. Schichtbegriffe konzentrieren sich dagegen auf die "objektiven" Faktoren der Berufsstellung, des Einkommens und des Bildungsabschlusses. Zweitens lässt das Milieukonzept die Entstehung von Mentalitäten bewusst offen. Sie können berufliche, religiöse, regionale, lebensweisebedingte, politische, moralische etc. Ursachen haben. Das Schichtkonzept geht hingegen davon aus, dass mit dem Berufs-, Einkommens- und Bildungsstatus bestimmte, schichtspezifische Mentalitäten einhergehen. Schließlich ist drittens das Milieukonzept synthetisch angelegt. Es bündelt zahlreiche Dimensionen und Aspekte. Dies führt in der empirischen Forschungspraxis zu erheblichem Aufwand. Das Schichtkonzept verfährt analytischer und ist in empirischen Studien einfacher umzusetzen.

Sucht man in der Literatur nach den Unterschieden zwischen dem Milieu- und dem Lebensstilbegriff, so wird man feststellen, dass sich die einschlägigen Definitionen nicht selten überschneiden und dass sie manchmal sogar fast deckungsgleich sind. Dennoch setzt der Milieubegriff andere Schwerpunkte als der Lebensstilbegriff. Hebt Ersterer hauptsächlich auf die relativ "tief" verankerten und vergleichsweise beständigen Werthaltungen und Grundeinstellungen von Menschen ab, bezieht sich der Lebensstilbegriff vor allem auf die äußerlich beobachtbaren Verhaltensroutinen der Menschen.

Die oben angeführte Definition impliziert, dass soziale Milieus nicht einfach gewechselt werden können. Werthaltungen, Grundeinstellungen und diesbezügliche Milieueinbindungen lassen sich gewöhnlich nur im Falle massiver Lebenskrisen und völlig neuer Einflüsse verändern. Dagegen können sich Verhaltensroutinen (wie etwa Mediennutzung, Freizeitbetätigung, Kleidungsstil) und entsprechende Lebensstile schon dann ändern, wenn neue Kontakte geknüpft werden, wenn eine Familie gegründet wird oder wenn Menschen älter werden.

Wieso entstehen soziale Milieus?

Wieso entstehen, bestehen und vergehen soziale Milieus? Mehrere Theorien versuchen, diese Frage zu beantworten. Sie enthalten "Antwortvermutungen". Nur durch empirische Überprüfung lässt sich entscheiden, inwieweit diese zutreffen.

Generell besagen Theorien sozialer Milieus, dass das Denken und Verhalten der Menschen weder ausschließlich von äußeren Daseinsbedingungen abhängt noch völlig in das Belieben der Menschen gestellt ist. Milieutheorien sind weder deterministisch noch intentional. Soziale Milieus werden vielmehr als Gruppierungen handlungsfähiger Menschen gesehen, die in der praktischen Auseinandersetzung mit aktuellen Lebensbedingungen und historischen Hinterlassenschaften bestimmte gemeinsame Mentalitäten entwickeln. Freilich stehen die einzelnen Milieutheorien den beiden Polen des (unbewussten) Determinismus und der (bewussten) Intentionalität unterschiedlich nahe. Dies zeigen auch die im Folgenden skizzierten Erklärungsansätze.

Besonders häufig liegt Milieustudien die Habitustheorie Pierre Bourdieus zu Grunde. Diese besagt im Kern, dass soziale Milieus durch Anpassungsprozesse an die Lebensbedingungen sozialer Klassen und Klassenfraktionen zustande kommen. Bourdieu geht von der ungleichen Verteilung dreier Ressourcenarten aus: dem ökonomischen Kapital, dem Bildungskapital und dem "sozialen Kapital" (in Gestalt sozialer Beziehungen). Je nach Ausmaß ihres Kapitalbesitzes insgesamt gehören die Menschen der Arbeiterklasse, dem Kleinbürgertum oder der Bourgeoisie an (vertikaler Aspekt). Und je nach Zusammensetzung bzw. Zukunftsaussichten ihres Kapitalbesitzes werden sie den Klassenfraktionen der Besitz- oder der Bildungsbourgeoisie sowie dem alten, dem neuen oder dem "exekutiven" Kleinbürgertum zugerechnet (horizontaler Aspekt).

Wenn Menschen innerhalb der jeweiligen Lebensbedingungen ihrer sozialen Klasse aufwachsen, entstehen nach Bourdieu weitgehend unbewusst klassenspezifische Habitusformen. Hierunter versteht er latente Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster, die einerseits die Möglichkeiten alltäglichen Handelns begrenzen, andererseits Handlungen hervorbringen. So entstehe der Habitus der Arbeiterklasse in einer Lage harter Notwendigkeiten, die Nützlichkeitsdenken und eine "Kultur des Mangels" nach sich ziehe. Käufe werden nicht nach ästhetischen Gesichtspunkten, sondern nach Preis und Haltbarkeit vorgenommen. Während also der Habitus der Arbeiterklasse ein "Sich-Einrichten" in gegebenen Verhältnissen nahe lege, sei der Habitus des Kleinbürgertums - seiner Mittellage entsprechend - auf sozialen Aufstieg, auf die ehrgeizige, teils ängstliche, teils plakative Erfüllung vorgegebener kultureller Normen ausgerichtet, auch in Fragen der Bildung und des Geschmacks. Der Habitus des Kleinbürgertums bedeute angestrengtes Bemühen, das "Richtige" zu tun. Der Habitus der Bourgeoisie hingegen ermögliche es, sich in Kenntnis der "richtigen" Standards über diese zu erheben, einen eigenen Stil zu entwickeln, diesen unter Umständen als gesellschaftliche Norm zu propagieren und durchzusetzen. Das Kleinbürgertum sei wiederum darauf angewiesen, dieser neuen "Orthodoxie" gerecht zu werden. Die Arbeiterklasse verharre in ihrer Kultur des Mangels. Somit reproduziere sich die Herrschaft der Bourgeoisie auf kulturelle Weise.

Die Konsequenzen dieser Habitusformen zeigen sich Bourdieu zufolge in unterschiedlichen alltäglichen Lebensstilen der Menschen. Zu diesen gehören die jeweils bevorzugten Wohnungseinrichtungen und Speisen, Sänger und Musikwerke, Maler, Museen und Komponisten. Hierbei stellt Bourdieu eine hohe Übereinstimmung von Klassen(fraktions)zugehörigkeit, Habitusform und praktischen Verhaltensweisen fest.

Identitätstheorien betonen dagegen, dass soziale Milieus durch das Bemühen zustande kommen, die eigene soziale Identität zu entwickeln und zu dokumentieren. Mittels Stilisierung der eigenen Wertehaltungen und Lebensweisen werden einerseits Selbstzuordnung und Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppierung möglich gemacht, andererseits Absetzung und Distanz zu anderen Gruppierungen sichergestellt. Identitätstheorien finden sich in unterschiedlichen Varianten. Von einigen Autoren wird die Entstehung von sozialen Milieus und Lebensstilgruppierungen primär aus den Integrationsbemühungen von Menschen erklärt. Andere sehen die Erklärung eher in Konflikten, in der Herstellung von Differenzen und in Abgrenzungsprozessen von sozialen "Territorien".

Die Individualisierungstheorie geht davon aus, dass Modernisierung einhergeht mit der Zunahme persönlicher Ressourcen, Freiheiten und Sicherheiten. Damit verbunden ist eine Herauslösung der Einzelnen aus vielfältigen kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Bindungen. Dies bedeutet für die Menschen Verluste von Vertrautheit und Sicherheit in Gemeinschaften einerseits, Gewinne an individueller Handlungsfähigkeit und Entfaltungsmöglichkeit andererseits.

Allerdings hatte sich, Ulrich Beck zufolge, bis zum Beginn der sechziger Jahre in Deutschland die Modernisierung und Individualisierung erst unvollkommen durchgesetzt. Zwar waren traditionale Bindungen, etwa der Dorfgemeinschaft und der Religion, schwächer geworden. Aber in der emotionalisierten Kleinfamilie verstärkten sich gemeinschaftliche Bindungen noch, vor allem für Frauen. Und in die industriegesellschaftlichen Schichten waren Männer unvermindert eingebunden.

Spätestens seit Beginn der sechziger Jahre vollzieht sich nach Ansicht Becks eine zweite Stufe gesellschaftlicher Modernisierung und Individualisierung. Sie steht vor allem im Zusammenhang mit verschärfter Arbeitsmarktkonkurrenz und Mobilität, aber auch mit gesteigertem Wohlstand, höherem Bildungsniveau auch der Frauen, besserer sozialer Absicherung, Ausweitung der Freizeit etc. Im Rahmen dieses erneuten Individualisierungsschubs lösen sich die Individuen aus ihrer Einbindung in Klassen und Schichten und aus "Familienbanden". Dies gilt auch und gerade für Frauen. Die Menschen sind nun in der Lage, aber auch darauf angewiesen, Zuschnitt und Verlauf ihres Lebens selbst zu entwickeln. Allgemeingültige Vorbilder hierfür gibt es immer weniger. Gerade deswegen schließen sie sich an soziale Milieus an, freilich im Unterschied zu den lebenslangen traditionalen Milieus (beispielsweise der Arbeiterschaft oder des Katholizismus) freiwillig, auf Zeit und auf Widerruf.

Struktur sozialer Milieus in Deutschland

Die verfügbaren empirischen Befunde zeigen, dass das Gefüge sozialer Milieus in Deutschland zu einem guten Teil von der Schichtstruktur abhängig ist. Es gibt typische Unterschicht-, Mittelschicht- und Oberschicht- Milieus. Welche Werthaltungen und Mentalitäten ein Mensch aufweist, ist also auch eine Frage seiner Einkommenshöhe, seines Bildungsgrades und seiner beruflichen Stellung. Hierbei können Milieuunterschiede Schichten im Alltag trennen. "Die Grenze der Distinktion trennt die oberen von den mittleren Milieus. Die Grenze der Respektabilität trennt die mittleren von den unteren."

Aber die Schichtzugehörigkeit gibt keineswegs zureichend über die Milieuzugehörigkeit Auskunft. In der Regel finden sich innerhalb der einzelnen Schichten mehrere Milieus "nebeneinander". Bestimmte soziale Milieus erstrecken sich auch "senkrecht" über Schichtgrenzen hinweg.

Neben der Schichtzugehörigkeit lenkt u.a. auch die Kohortenzugehörigkeit die Menschen in bestimmte Milieus: Ältere Menschen, die in Zeiten des materiellen Mangels und autoritärer Ordnung aufgewachsen sind, haben sich meist andere Mentalitäten bewahrt als Menschen im mittleren Alter, die im Wohlstand und in der 1968er Zeit ihre wichtigsten Prägungen erfahren haben.

"Horizontal" unterscheiden sich soziale Milieus vor allem nach dem Grade ihrer Traditionsverhaftung bzw. ihrer Modernität. Denn die einzelnen Milieus sind in unterschiedlichem Maße vom Wertewandel erfasst (weg von "alten" Pflicht-, hin zu "neuen" Selbstentfaltungswerten). So weisen die Angehörigen des "Traditionsverwurzelten", des "DDR-nostalgischen" und des "Konservativen" Milieus Mentalitäten auf, die dem Bewahren, den Pflichten der Menschen und ihrer Eingebundenheit in Regeln großes Gewicht geben. Auf der anderen Seite stehen die "modernen" Milieus der "Hedonisten", der "Experimentalisten" und "modernen Performer", in denen die Menschen dem jeweils Neuen nachstreben und sich als Einzelne relativ losgelöst von Bindungen und Zugehörigkeiten empfinden. In diesen Milieus finden sich zwar Gemeinsamkeiten des individuellen Bewusstseins und Verhaltens, aber kaum das Bewusstsein der Gemeinsamkeit mit anderen Milieuzugehörigen.

In Wirklichkeit sind die Grenzen zwischen sozialen Milieus fließend. Viele Menschen stehen am Rand eines Milieus, zwischen Milieus bzw. sind zwei oder mehr Milieus zugleich zuzuordnen. Denn soziale Milieus stellen zwar relativ kohärente Binnenkulturen einer Gesellschaft, aber keine gesellschaftlichen Gruppen mit allgemein bekannten Namen und symbolisch klar verdeutlichten Grenzen dar. Es handelt sich vielmehr um von Sozialwissenschaftlern "künstlich" abgegrenzte und benannte Gruppierungen. Dies ist notwendig in modernen Gesellschaften, in deren Sozialstruktur kaum noch klar definierte Gruppierungen existieren, wie dies früher einmal der Adel, das Großbürgertum und in Teilen auch die Industriearbeiterschaft waren.

Soziale Milieus verändern sich im Laufe der Zeit. Sie werden größer oder kleiner. Neue Milieus bilden sich heraus, alte verschwinden oder teilen sich. Allein seit den achtziger Jahren hat sich der Bevölkerungsanteil traditioneller Milieus fast halbiert. Dies geschah wohl seltener, weil Menschen ihre Milieuzugehörigkeit wechselten. Vielmehr sind die Menschen in den genannten Milieus häufig schon alt. Diese Milieus sterben langsam aus.

Wozu dienen Milieustudien?

Vieles spricht dafür, dass sich die Mitglieder moderner Dienstleistungsgesellschaften nicht mehr so vorrangig wie die Menschen in typischen Industriegesellschaften in Abhängigkeit ihrer Berufs- und Schichtzugehörigkeit definieren. Vielmehr bestimmen die Angehörigen postindustrieller Gesellschaften ihren gesellschaftlichen Ort nicht zuletzt auch durch ihre Milieuzugehörigkeit und ihren Lebensstil. Oft symbolisieren sie dies mit Kleidung, Musikgeschmack etc. und tragen so ihre Zugehörigkeit nach außen.

Die Menschen, die einem bestimmten sozialen Milieu angehören, denken und verhalten sich in der Praxis relativ ähnlich; Menschen die verschiedenen sozialen Milieus angehören, denken und handeln oft unterschiedlich - und sie tun dies in weiten Bereichen: Sie kaufen gleichartige bzw. andersartige Konsumgüter, wählen ähnliche bzw. verschiedene Parteien, erziehen ihre Kinder gleich bzw. anders usw. Milieugliederungen dienen daher Marketinganalysten, um Zielgruppen zu definieren, Wahlkampfstrategen, um Wählerpotenziale zu erschließen, Sozialisationsforschern, um typische Lernstrategien zu lokalisieren und zu erklären.

Weil die Zugehörigkeit zu sozialen Milieus die jeweilige Selbstdefinition und Alltagspraxis der Menschen beeinflusst, wurden Milieustudien in den letzten beiden Jahrzehnten in zunehmendem Maße zur Erklärung von Verhaltensunterschieden und so auch zur Lösung praktischer Probleme eingesetzt. Dies geschah im Rahmen der akademischen Forschung (vor allem in der soziologischen Sozialstrukturanalyse, der politischen Soziologie, der Jugend- und Sozialisationsforschung), mehr aber noch in Bereich der angewandten Sozialforschung. Vor allem im Marketing haben Milieuansätze (und Lebensstilstudien) die herkömmlichen sozioökonomischen bzw. soziodemographischen Ansätze ein gutes Stück weit verdrängt.

Die folgende, durchaus unvollständige Aufzählung soll verdeutlichen, wie viele alltägliche Verhaltensunterschiede und praktische Problemstellungen allein in den letzten Jahren in Forschungsprojekten in Verbindung mit der Milieuzugehörigkeit der Menschen gebracht wurden: Soziale Milieus sollten Aufschluss geben über Unterschiede des Ressourcenverbrauchs und des ökologischen Bewusstseins; der Vorstellungen über die Kirchen und der Kirchenmitgliedschaft; in der Altenpflege in der Familie; des Umgangs mit Geld; des Informationsverhaltens und der Zeitschriftenwahl; der gewerkschaftlichen Arbeit; des Wahlverhaltens; der Erwachsenen- und der Weiterbildung; des Studierendenverhaltens; der Bildungschancen; der Elitenrekrutierung; der journalistischen Arbeit; usw.

Milieustudien versuchen die Nutzung bestimmter Medien, den Kauf bestimmter Konsumgüter, die Neigung zu bestimmten Parteien etc. primär auf Grund der Werthaltungen und Zielsetzungen von Menschen zu erklären. Ist die Milieuzugehörigkeit eines Menschen bekannt, so weiß man viel darüber, welche Sehnsüchte, welche Interpretationen, Motive und Nutzenerwartungen er aufweisen wird. Auf diese Weise hofft man voraussagen zu können, warum eine bestimmte Person eine bestimmte Zeitschrift lesen, eher eine bestimmte Partei wählen oder auf eine bestimmte Art studieren wird. Und umgekehrt will man so aufzeigen, welche Inhalte Zeitschriftenartikel, Werbebotschaften oder Parteiprogramme etc. aufweisen müssen, um den Motiven und Werthaltungen bestimmter Menschen zu entsprechen.

Sozioökonomischen Schichtungsansätzen ist eine andere Erklärungsstrategie zu Eigen. Die jeweilige Mediennutzung, Konsumentscheidung etc. soll durch die Ressourcen erklärt werden, die den Einzelnen zur Verfügung stehen, um ihre Ziele zu erreichen und ihren Werthaltungen zu genügen.

Milieustudien sind mittlerweile weit verbreitet, vor allem in der angewandten Sozialforschung. Angesichts der Tatsache, dass diese auf praktische Bewährung unmittelbarer angewiesen ist als die akademische Forschung, erstaunt es, dass exakte soziologische Prüfungen zum Ergebnis kamen, dass sich die empirisch nachweisbare Erklärungskraft so mancher Milieuuntersuchung in Grenzen hält. So ermittelte etwa Gunnar Otte, dass nach Kontrolle anderer relevanter Variablen die Milieuzugehörigkeit fast nichts zur Erklärung konkreter Wahlentscheidungen beiträgt.

Wohl aber gibt die Milieuzugehörigkeit Auskunft über Unterschiede der generellen politischen Einstellung und Parteineigung. Milieustudien eignen sich daher mehr zur Abschätzung von Wählerpotenzialen als für Wahlprognosen.

Soziale Milieus im internationalen Vergleich

Die immer stärkere Vernetzung der Welt durch Handelsströme, Kapitalverkehr, Arbeitsmigration, Urlaubsreisen und alltägliche Kommunikation macht Milieustudien, die sich nur auf Deutschland beziehen, immer weniger sinnvoll. Selbstverständlich führt es in die Irre, die deutsche Milieugliederung unbesehen etwa auf Russland oder die USA zu übertragen. Dazu sind die historischen, politischen und konfessionellen etc. Unterschiede zwischen den Ländern viel zu groß. Deswegen wurden mit gleicher Methode Milieustudien in fast allen Ländern Europas und den USA durchgeführt. Das ermöglichte internationale Vergleiche. Als Beispiel seien die Milieugliederungen Russlands aus dem Jahre 1999 und der USA aus 2004 (Abbildungen 1 und 2) angeführt.

Im Rahmen der internationalen Milieuvergleiche stellte sich heraus, dass sich die Mentalitäten bestimmter Milieus über Ländergrenzen hinweg nur wenig unterscheiden. Innerhalb eines Landes waren die Unterschiede zwischen diesen Milieus und anderen wesentlich größer. Daher hat man transnationale "Meta-Milieus" herauspräpariert, die sich in ähnlicher Form in vielen Ländern finden (Abbildung3). Abbildung 1: Sinus-Milieus in Russland Quelle: Sinus Sociovision, Sinus-Milieus in Russia, Heidelberg 2005 (Manuskript). Abbildung 2: Sinus-Milieus in den USA Quelle: Sinus Sociovision, The Sinus Milieus International/Meta Milieus, Heidelberg 2006 (Manuskript). So verstehen sich etwa die Mitglieder der "Traditionellen Milieus" mit ihrer Sicherheits- und Statusorientierung und ihren fest gefügten traditionellen Werthaltungen (z.B. Pflicht, Ordnung); der "Etablierten Milieus" in ihrem Streben nach Leistung und Führerschaft, ihrem Statusbewusstsein und ihrem exklusiven Geschmack sowie der "Intellektuellen Milieus" mit ihren kulturellen und intellektuellen Interessen sowie ihrer Suche nach Selbstverwirklichung und persönlicher Entwicklung jeweils relativ gut miteinander, einerlei, ob sie aus Spanien, den USA oder aus Deutschland kommen. Abbildung 3: Meta-Milieus in Westeuropa und Nordamerika Quelle: Sinus Sociovision, The Sinus Milieus International/Meta Milieus, Heidelberg 2006 (Manuskript); Übersetzung des Verfassers.

Fazit

Postindustrielle Gesellschaften zeichnen sich in Zeiten der Globalisierung und der neuen Informationstechnologien einerseits durch die Universalisierung von Normen (etwa was die Stellung von Frauen betrifft), andererseits durch die Pluralisierung von Denk- und Lebensweisen aus. Die Mentalitäten der Menschen gehen weit auseinander. Die Milieuforschung zeichnet diesen (keineswegs konfliktfreien) Pluralismus nach und versucht, Verhaltensdifferenzierungen hieraus zu erklären. Sie legt in diesem Zusammenhang auch transnationale Sozialstrukturen offen. Dies geschieht in den Sozialwissenschaften noch eher selten. Allerdings vollzieht sich die Milieuforschung bislang zum guten Teil im Rahmen der angewandten Sozialwissenschaften. Von hier aus gelangen genaue Konzept- und Methodeninformationen bisher eher selten in die akademischen Sozialwissenschaften.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ronald Hitzler/Anne Honer, Lebenswelt - Milieu - Situation. Terminologische Vorschläge zur theoretischen Verständigung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 36 (1984), S. 61.

  2. Vgl. M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur: Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Wilhelm Abel u.a. (Hrsg.), Wirtschaft, Gesellschaft und Wirtschaftsgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Friedrich Lütge, Stuttgart 1966, S. 371 - 393.

  3. Vgl. Burkart Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität, Frankfurt/M. 1989.

  4. Vgl. Stefan Hradil, Die "objektive" und die "subjektive" Modernisierung. Der Wandel der westdeutschen Sozialstruktur und die Wiedervereinigung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), (1992) 29 - 30, S. 3 - 14.

  5. Vgl. ders., Zur Sozialstrukturentwicklung der neunziger Jahre, in: Werner Süß (Hrsg.), Deutschland in den neunziger Jahren. Politik und Gesellschaft zwischen Wiedervereinigung und Globalisierung, Opladen 2002, S. 227 - 250.

  6. Vgl. ders., Die Sozialstruktur Deutschland im internationalen Vergleich, Wiesbaden 2006(2), S. 278.

  7. Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M.-New York 1992, S. 746.

  8. Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1982.

  9. Vgl. Karl H. Hörning/Matthias Michailow, Lebensstil als Vergesellschaftungsform. Zum Wandel von Sozialstruktur und sozialer Integration, in: Peter A. Berger/Stefan Hradil (Hrsg.), Lebenslagen, Lebensstile, Lebensläufe. Sonderband 7 der Zeitschrift SOZIALE WELT, Göttingen 1990, S. 502.

  10. Vgl. ebd., S. 501 - 521.

  11. Vgl. Helmuth Berking/Sighard Neckel, Die Politik der Lebensstile in einem Berliner Bezirk, in: P. A. Berger/St. Hradil (Anm. 9), S. 481 - 500.

  12. Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986.

  13. Michael Vester u.a., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Frankfurt/M. 2001, S. 26. Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag des Autors in dieser Ausgabe.

  14. Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, Frankfurt/M.-New York 1992.

  15. Redaktionelle Anmerkung: Das Modell der Sozialen Milieus in Deutschland 2006 ist zu finden unter www.sinus-sociovision.de (15.8. 2006)

  16. Vgl. Stefan Hradil, Soziale Ungleichheit in Deutschland, Opladen 20018, S. 434; vgl. M. Vester u.a. (Anm. 13), S. 48f.

  17. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch den Beitrag von Carsten Ascheberg in dieser Ausgabe.

  18. Vgl. Gunnar Otte, Sozialstrukturanalysen mit Lebensstilen, Wiesbaden 2004, S. 344ff.

Dr. phil., Dr. sc. oec. h.c., geb. 1946; Professor für Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 55099 Mainz.
E-Mail: E-Mail Link: stefan.hradil@uni-mainz.de Internet: www.staff.uni-mainz.de/hradil/