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Die Suezkrise | Krisenjahr 1956 | bpb.de

Krisenjahr 1956 Editorial Die bedeutsamste Rede des Kommunismus - Ein Essay Die Internationale der Einäugigen - Essay Entstalinisierung und die Krisen im Ostblock Warschau-Budapest 1956 Reformdebatten in der DDR Die Suezkrise

Die Suezkrise

Ulrich Pfeil

/ 17 Minuten zu lesen

Im Schatten der Revolution in Ungarn machten Frankreich und Großbritannien am Suezkanal die Erfahrung, wie eng die Spielräume im Ost-West-Konflikt geworden waren.

Einleitung

Der Herbst 1956 war reich an einschneidenden politischen Ereignissen auf internationaler Ebene. Bundeskanzler Konrad Adenauer sprach in seiner Regierungserklärung vom 8. November zum einen von Entwicklungen, die Gegensätze überwinden halfen, um zu einem "gesunden Gleichgewicht" zu gelangen.

Zu ihnen zählte er insbesondere den Luxemburger Vertrag vom 27. Oktober 1956, in dem Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland die Rückgliederung des Saarlandes als Bundesland ab dem 1. Januar 1957 vereinbarten und damit einen "Zankapfel" aus dem Weg räumten, der die bilateralen Beziehungen immer wieder belastet hatte. Zum anderen sah er Spannungen und Konflikte, die in Teilen derWelt "in willkürlicher und unverantwortlicher Weise" die "Unordnung" gefördert hätten. Explizit nannte er die Volksaufstände in Polen und Ungarn, die er wie den 17. Juni 1953 in der DDR als "elementare Kundgebungen des Freiheitswillens der unterdrückten Völker gegen eine unerbittliche, unmenschliche und auf ausländische Machtmittel gestützte Diktatur" wertete.

Zurückhaltender war sein Urteil zu den Ereignissen während der Suezkrise, in die nicht nur die Verbündeten Frankreich und Großbritannien involviert waren, sondern zugleich auch Israel und Ägypten. Das besondere Verhältnis der Bundesrepublik zum jüdischen Staat erschwerte eine offene Verurteilung, doch konnte es sich der Kanzler nicht leisten, einseitig Partei für die westlichen Partner zu ergreifen, gehörte Ägypten doch zu den führenden blockfreien Nationen, um die beide deutsche Staaten warben.

Die Suezkrise von 1956 hat Jost Dülffer als "Initiative zu einer für die westliche Staatenwelt nach dem Zweiten Weltkrieg einzigartigen Verschwörung zum Krieg" bezeichnet. Die Unverhältnismäßigkeit der eingesetzten machtpolitischen Mittel spricht dafür, dass es sich bei der Militäraktion nicht alleine um den Versuch handelte, die Kontrolle über den Suezkanal zurückzugewinnen, nachdem der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser diesen nationalisiert hatte. Um den multiplen Dimensionen der Krise auf die Spur zu kommen, soll in einem ersten Schritt erklärt werden, welchen Verlauf die Krise nahm und wie es schließlich zu einem französisch-britischen Fiasko auf diplomatischer Ebene kam, um dieses Ereignis im Anschluss im Rahmen der Dekolonisation, des Ost-West-Konflikts und der deutsch-französischen Beziehungen zu verorten.

Die strategische Bedeutung des Suezkanals

Die große strategische Bedeutung einer künstlichen Wasserstraße zwischen dem Mittelmeer und dem Roten Meer hatte bereits der französische Diplomat und Ingenieur Ferdinand de Lesseps im 19. Jahrhundert entdeckt, ersparte er der Seefahrt doch auf dem Weg von Europa nach Asien die Umschiffung des Kaps der Guten Hoffnung an der Südspitze Afrikas. Unter der Leitung der französischen Suez-Kanal-Gesellschaft wurde der Bau des 163 Kilometer langen Kanals in Angriff genommen. Der künstliche Wasserweg wurde am 16. November 1869 für die Schifffahrt freigegeben. Nach seiner Inbetriebnahme wurde er von der Compagnie Universelle du Canal Maritime de Suez betrieben, die im Abkommen von 1888 eine Konzession auf 99 Jahre erhielt. An dieser Gesellschaft war Ägypten durch seinen Vize-König Muhammad Said in großem Umfang beteiligt worden, doch sein Nachfolger Ismail Pascha musste die Anteile aufgrund der hohen Staatsverschuldung an die Briten verkaufen, sodass Ägypten praktisch zum britischen Protektorat wurde. Auch nach der Rückgewinnung der Eigenständigkeit blieb die Gesellschaft von Franzosen und Briten dominiert und somit zugleich der Kanal mit einem breiten Uferstreifen komplett in ausländischer Hand. Seine strategische Rolle war durch die wachsende Bedeutung des Erdöls auf der arabischen Halbinsel nach dem Zweiten Weltkrieg weiter gestiegen.

Anfang der fünfziger Jahre begannen Diskussionen um seine Zukunft nach Ablauf der Konzession. Die Gesellschaft strebte nach einer nicht-ägyptischen Lösung, hielt sie das Land doch für unfähig, ein solches Geschäft in eigener Regie zu führen. Hinter dieser spätimperialistischen Haltung verbarg sich die Sorge, weiter an Einfluss in der Welt zu verlieren. Immer deutlicher hatte sich nach 1945 abgezeichnet, dass Großbritannien nicht über ausreichend Ressourcen verfügte, um das Empire zu konsolidieren. Vor dem Hintergrund der nationalistischen Bewegungen in der "Dritten Welt" kam Ägypten wachsende Bedeutung zu, verfügten die Briten in der Suezkanalzone doch über einen Militärstandort infolge eines 1936 ausgehandelten Vertrages.

Als die ägyptische Regierung unter König Faruk am 23. Juli 1952 durch einen Putsch von Offizieren abgelöst wurde, verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Ägypten und Großbritannien weiter. Nachdem die bisherige Führung kooperative Beziehungen mit den europäischen Mächten unterhalten hatte, verfolgte die neue Regierung einen eher nationalistischen, panarabischen und antiisraelischen Kurs, mit dem sie sich dem Ostblock annäherte. Dieser Richtungswechsel verschärfte zum einen die regionalen Konflikte im Nahen Osten, sah sich Israel doch nicht zuletzt durch einen von Nasser unterzeichneten Waffenlieferungsvertrag mit der Tschechoslowakei herausgefordert, der im Westen wiederum als Beginn der kommunistischen Unterwanderung Ägyptens interpretiert wurde. Ferner drohte ein Konflikt mit Großbritannien und Frankreich, die an der Kontrolle über den Suezkanal festhielten und Nassers Forderung nach einer nationalen Lösung für die Wasserstraße ablehnten, was Georges-Henri Soutou nicht alleine mit wirtschaftlichen und strategischen Interessen erklärt: "Neben den ökonomischen Interessen war der Kanal ein Symbol für die franko-britische Präsenz im Nahen Osten und für das ganze imperiale Zeitalter." Die Spannungen konnten vorläufig durch das Suez-Abkommen vom 19. Oktober 1954 beigelegt werden, in dem sich Großbritannien verpflichtete, innerhalb von 20 Monaten die eigenen Streitkräfte aus der Suezkanalzone abzuziehen. Ägypten garantierte im Gegenzug, die Militärstandorte zu erhalten und den Briten im Kriegsfall zur Verfügung zu stellen; gleichzeitig erkannte es das internationale Statut der Zone an. Im Juni 1956 waren die britischen Truppen abgezogen. Alles schien auf eine friedliche Lösung hinzudeuten.

Der Weg in die Krise

Überraschend verkündete Nasser am 26. Juli 1956 die Verstaatlichung des Suezkanals, um so den Bau eines Staudamms bei Assuan zu finanzieren, nachdem die Amerikaner ihr Kreditangebot zurückgezogen hatten. Mit seiner Entscheidung hatte er internationales Recht gebrochen, denn sie stellte das in den Statuten der Internationalen Kanal-Gesellschaft verankerte freie Durchfahrtsrecht in Frage. Obwohl er Garantien für die freie Fahrt durch den Kanal abgab und sich bereit erklärte, die Anteilseigner an der Gesellschaft zu entschädigen, an der Frankreich die Mehrheit hielt und britische Banken bzw. Unternehmen zu 45 Prozent beteiligt waren, beschwor er mit seiner Rede eine schwere Krise herauf.

Die Kolonialmächte sahen sich herausgefordert, umso mehr, als Frankreich seit 1954 gegen die algerische Unabhängigkeitsbewegung Krieg führte und sich gezwungen gesehen hatte, nach Marokko auch Tunesien unter der Führung von Habib Bourguiba in die Unabhängigkeit zu entlassen. Zwar billigten die USA auf drei internationalen Konferenzen die Nationalisierung des Kanals, doch weder Großbritannien noch Frankreich waren bereit, sich damit abzufinden. Zudem spitzte sich der arabisch-israelische Konflikt erneut zu, denn zum einen hatte Nasser, Symbolfigur des neuen arabischen Nationalismus, seit seinem Machtantritt nie einen Hehl aus seiner Feindschaft gegen Israel gemacht, zum anderen war das Land durch die Blockade der Straße von Tiran am Ausgang des Golfes von Akaba zum Roten Meer und der Sperrung des Suezkanals für israelische und nach Israel fahrende Schiffe von den asiatischen und afrikanischen Handelspartnern abgeschnitten. Hinzu kamen vermehrte Terrorattacken durch Palästinenser, die von Ägypten aus agierten. Die israelische Regierung hoffte, mit einer Besetzung des Sinai die Sicherheit des jüdischen Staates entscheidend zu verbessern.

Auch die französische Politik zielte nun auf Krieg. Paris unterstellte Nasser, die algerische Unabhängigkeitsbewegung zu unterstützen. Anders als in Frankreich war die öffentliche Meinung in Großbritannien einem solchen Abenteuer jedoch nicht gewogen. Premierminister Anthony Eden wollte als Gegner der Appeasement-Politik Chamberlains in der Zwischenkriegszeit seine Landsleute durch die Erinnerung an die Münchener Konferenz von 1938 umstimmen und verglich Nasser mit Hitler und Mussolini. Während Nasser heute als charismatischer Führer erscheint, "der durch außenpolitische Erfolge sein armes Land zum Fortschritt westlicher Prägung führen wollte", blieb das politische Denken von Eden ganz auf "München" fixiert.

Am Geheimplan zu einer Militäraktion waren zunächst nur Frankreich und Großbritannien beteiligt. Bei ersten Überlegungen im Juli 1956 gingen beide von einer gemeinsamen Operation gegen Ägypten aus, doch der Plan mündete in die Absicht, die bewaffnete Auseinandersetzung als pacification des Konflikts zwischen Israel und Ägypten zu verkaufen. Zu diesem Zweck kam es zu einem Geheimtreffen zwischen Frankreich, Großbritannien und Israel vom 22. bis 24. Oktober in Sèvres bei Paris, bei dem Guy Mollet, Christian Pineau, David Ben-Gurion, Schimon Peres, Mosche Dajan und Selwyn Lloyd ein machiavellistisches Szenario entwarfen: Die ägyptisch-jordanischen Kriegsvorbereitungen sollten Israel den Vorwand für einen Angriff gegen Ägypten liefern, auf den Paris und London mit einem Ultimatum an die kriegführenden Parteien reagieren wollten, in dem der Rückzug der Truppen aus der Kanalzone gefordert werden sollte. Die vorherzusehende Weigerung Kairos, sich diesem Ultimatum zu beugen, sollte der Vorwand für die französischen und britischen Militärs sein, den Kanal zu "befreien", Nasser zu stürzen und eine britisch-französische Streitmacht am Kanal um Port Said zu stationieren. Frankreich und Großbritannien erklärten sich zugleich zu Waffenlieferungen an Israel bereit; Paris sagte außerdem den Schutz des israelischen Luftraums und der Küste zu und wollte mit seinem Veto im UN-Sicherheitsrat eine gegen Israel gerichtete Resolution verhindern.

Von den Geheimplanungen war sowohl auf französischer als auch auf britischer Seite nur ein enger Kreis unterrichtet. Ebenso wenig wurde der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower in Kenntnis gesetzt, der sich in der heißen Phase des Präsidentschaftswahlkampfes befand. Briten und Franzosen wussten um dessen ablehnende Haltung, denn Eisenhower wollte seine Wiederwahl nicht durch einen Krieg gefährden und keine neuen Spannungen mit Moskau heraufbeschwören. Doch während Briten und Franzosen die Bedeutung des Kanals für Europa in den Vordergrund ihrer Überlegungen stellten, dominierte im amerikanischen politischen Denken die Ost-West-Auseinandersetzung. Die CIA war in der Entourage von Nasser gut vertreten, und auch die Eisenhower-Administration unterhielt enge Kontakte zu Nasser und wollte ihn nicht in die Arme der Sowjets treiben. Diese wechselseitigen Fehlperzeptionen und Kommunikationsprobleme innerhalb des westlichen Lagers deuteten auf ein gestörtes Vertrauensverhältnis in den transatlantischen Beziehungen hin, die sich während der Ereignisse am Suezkanal zu einer handfesten Krise ausweiteten.

Auf dem Höhepunkt der Krise

Die "Operation Musketier" begann am 29. Oktober 1956 mit dem Einmarsch israelischer Truppen in den Gazastreifen und auf die Sinai-Halbinsel. Rasch stießen die Israelis zum Kanal vor. Großbritannien und Frankreich forderten den Rückzug beider Seiten und drohten mit einer Intervention, um das Gebiet als Pufferzone zu besetzen und einen Waffenstillstand zu erzwingen. Nach Plan verlief auch die Ablehnung des Ultimatums durch Nasser, der sich bei dieser Entscheidung auf die Unterstützung seines Volkes stützen konnte, das die Verstaatlichung des Kanals bejubelt hatte. Daraufhin begannen Großbritannien und Frankreich am 31. Oktober mit der Bombardierung der Kanalzone und ägyptischer Flughäfen. Am 5. November landeten Fallschirmeinheiten am Flughafen Gamil. Einheiten der Royal Marines landeten am folgenden Tag an der ägyptischen Küste. Port Said wurde durch Brände fast vollständig zerstört. Briten und Franzosen waren dem militärischen Sieg nahe, doch hatten sie nicht mit dem Widerstand Eisenhowers gerechnet, der sich außenpolitisch trotz des Wahlkampfs handlungsfähiger zeigte als vermutet. Er warf Briten und Franzosen vor, durch ihre eigenmächtige Aktion einen Propagandafeldzug gegen das sowjetische Vorgehen in Ungarn verhindert zu haben.

Am 2. November, vier Tage vor der Präsidentschaftswahl, legten die USA dem UN-Sicherheitsrat eine Entschließung vor, die die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen verlangte. In den folgenden Tagen geriet die britische Währung an der New Yorker Börse in gefährliche Kursschwankungen, und Washington erhöhte den Druck auf Premierminister Eden. Dieser hatte nicht nur ignoriert, dass Großbritannien als Folge des Zweiten Weltkriegs von den USA finanziell abhängig war, sondern auch die amerikanische Haltung zur Entkolonialisierung falsch eingeschätzt. Die Amerikaner waren im Kontext der Rivalität mit der Sowjetunion an guten Beziehungen zu den Staaten der "Dritten Welt" interessiert, und außerdem standen Wirtschaftsinteressen auf dem Spiel. Das sich abzeichnende Fiasko ruinierte Edens Ruf, sodass er Ende 1956 von Harold Macmillan zum Rücktritt gedrängt wurde.

Unterschätzt hatten Briten und Franzosen auch die Rolle der Sowjetunion, die nach dem Ende der Unruhen in Polen nun gegen die ungarische Revolution vorging. Das hinderte sie nicht daran, am 6. November, zwei Tage nach dem Einmarsch sowjetischer Panzertruppen in Budapest, ein Ultimatum an Paris und London zu richten, in dem sie für den Fall, dass die Kämpfe am Suezkanal nicht eingestellt würden, "mit der Gefahr schrecklicher Verwüstungen" drohte. Die französisch-britische Intervention kam den Sowjets nicht ungelegen, konnte sie mit ihrem Ultimatum doch von ihrem eigenen Vorgehen in Ungarn ablenken. Schließlich mussten sich Frankreich, Großbritannien und Israel dem Druck durch die USA, die UdSSR und die UNO beugen. Am 6. November wurde das Feuer eingestellt. Am 3. Dezember erklärten sie sich bereit, ihre Truppen vom Kriegsschauplatz abzuziehen, die in der Folge von "Blauhelmen" der UNO ersetzt wurden. DerRückzug der Truppen erfolgte bis zum 22.Dezember.

Die Folgen waren weitreichend. Die Durchfahrt des Kanals blieb infolge der von Ägypten versenkten Schiffe noch bis 1957 versperrt. Die USA und die Sowjetunion nahmen im Nahen Osten den Platz der ehemaligen Kolonialmächte ein. Eisenhower sagte jenen Ländern finanzielle und materielle Unterstützung zu, die sich gegen das sozialistische Gesellschaftsmodell entschieden. Moskau unterzeichnete ein Abkommen mit Nasser, in dem es finanzielle Unterstützung für den Bau des Assuanstaudamms zusagte. Mit dieser Übereinkunft avancierte Ägypten für mehr als 20 Jahre zum sowjetischen Hauptverbündeten in der arabischen Welt.

Für Großbritannien und Frankreich endete das militärische Engagement am Suezkanal mit einer diplomatischen Demütigung. Beiden Ländern war schmerzhaft vor Augen geführt worden, dass sie keine Weltmächte mehr waren. Großbritannien stellte 1957 seine Atomstreitkraft unter amerikanische Kontrolle. Frankreich hingegen forcierte den Aufbau einer unabhängigen nuklearen "Force de frappe". Diese Entscheidung erklärt sich zum einen mit dem französischen Selbstverständnis nach 1945, das eigene politische Handlungsfeld nicht alleine auf die westliche Hemisphäre beschränken zu wollen, zum anderen mit der schwierigen Situation der Armee, die nach dem zwei Jahre zuvor erfolgten Rückzug aus Indochina und infolge des sich hinziehenden "schmutzigen Krieges" in Algerien dringend eines Erfolges bedurfte. Die aus Algerien abgezogenen Kräfte hatten kehrtmachen müssen, bevor sie in Suez zum Einsatz kommen konnten. Nachdem bereits Indochina und Algerien den Franzosen den wachsenden Widerstand der Staaten der "Dritten Welt" gegen die Kolonialmächte demonstriert hatten, verdeutlichte der Ausgang der Militäraktion am Suezkanal, dass sich Frankreichs Rolle als Kolonialmacht ihrem Ende näherte. Die Suezkrise beendete in diesem Sinne das 19. Jahrhundert.

Was waren die französischen Motive, das Suez-Abenteuer zu wagen? Die Regierung unter Guy Mollet war fest davon überzeugt gewesen, dass die Aufstände in Algerien unmittelbar von Ägypten gesteuert wurden, sodass einem Triumph über Nasser der Sieg über die algerische Unabhängigkeitsbewegung folgen würde. Zudem war das "München-Syndrom" virulent. Am 5. September 1956 hatte Mollet im Parteivorstand der französischen Sozialisten davor gewarnt, einem Diktator freie Hand zu lassen: "Natürlich ist Nasser nicht Hitler, aber er wendet seine Methoden an. Wir dürfen ihm daher keinen ersten Erfolg erlauben, denn dieser könnte bei ihm neue Machtgelüste auslösen." Kurz nach dem Beginn der Militärintervention erklärte er öffentlich: "Unsere Väter (...) haben uns als Vermächtnis die Lehre mitgegeben, dass es mehr wert ist, zu sterben, als die Knechtschaft und die Demütigung zu akzeptieren." Noch 1970 wies Mollet in einem Interview auf den Zusammenhang zwischen "München" und "Suez" hin, den sein britischer Kollege Anthony Eden genauso gesehen habe wie er: "Wir Sozialisten haben 1938 zu sehr gelitten, weil wir nicht eingeschritten sind, sodass wir es nicht ein zweites Mal zulassen konnten, eine kleine Demokratie zermalmt zu sehen (...). Wir konnten es nicht billigen, dass hier ein Abenteurer, dieser Hitler auf kleinem Fuß, weiter heranreift, denn das war zu riskant."

Beide Kolonialmächte hatten sich in die Defensive manövriert. Aus dieser gedachte Charles de Gaulle mit einer auf nationale Unabhängigkeit ausgerichteten Außenpolitik nach 1958 ("Vom Atlantik bis zum Ural") herauszukommen, die ihn auf Distanz zu den USA brachte. Wer den französischen Antiamerikanismus der V. Republik und die von Frankreich zu verantwortenden Auflockerungserscheinungen im westlichen Bündnis während der sechziger Jahre verstehen will, wird die Ursprünge auch in der Suezkrise zu suchen haben.

Kalter Krieg und europäische Integration

Die USA und die Sowjetunion waren seit Beginn des Kalten Krieges darum bemüht gewesen, den eigenen Einflussbereich zu konsolidieren. Während es Washington nicht zuletzt infolge seiner wirtschaftlichen Macht gelang, seine Integrationspolitik mit der Aussicht auf Prosperität im Westen konsensfähig zu machen, musste Moskau aufgrund der mangelnden Legitimation der Volksdemokratien immer wieder zur Gewalt greifen. Volksaufstände wie in der DDR am 17. Juni 1953 bedrohten nicht nur die Autorität der sowjetischen Besatzungsmacht, sondern gefährdeten das Kräftegleichgewicht zwischen Ost und West.

Angesichts des nuklearen Waffenpotenzials und der sich daraus ergebenden atomaren Gefahr für den Erdball nahm in Moskau wie in Washington die Einsicht zu, sich um den Abbau der Spannungen zu bemühen. Zwar konnten bei den Gipfelgesprächen und der Außenministerkonferenz in Genf im Oktober und November 1955 keine Abrüstungsvereinbarungen erzielt werden, doch die Beteuerungen zur Kooperationsbereitschaft ließen Beobachter vom "Geist von Genf" sprechen. Ausdruck dieses Geistes war nicht zuletzt die von Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 verkündete "friedliche Koexistenz unterschiedlicher Gesellschaftssysteme", die zwar nicht den Sieg des Sozialismus aus den Augen verlor, diesen jedoch auf friedlichem Wege erringen wollte: "Entweder friedliche Koexistenz oder der zerstörerische Krieg in der Geschichte - einen dritten Weg gibt es nicht."

Dieser Wille zur Entspannung erklärt, warum die Amerikaner auf die ungarische Revolution am 23. Oktober zurückhaltend reagierten und sich selbst nach deren blutiger Niederschlagung durch die sowjetischen Truppen auf Protestresolutionen der UN-Vollversammlung beschränkten. Ähnliche Motive sind auch hinter dem amerikanischen Druck auf Großbritannien und Frankreich zu entdecken. Als diese am Kanal eingriffen, war es konsequent, dass die USA über UN-Voten sowie währungs- und handelspolitische Sanktionen einen Waffenstillstand durchsetzen konnten. Die amerikanischen Pressionen auf die Verbündeten fanden im Kreml Unterstützung, der Briten und Franzosen zumindest indirekt mit dem Einsatz von Nuklearwaffen drohte, wenn sie die Kampfhandlungen gegen Ägypten nicht einstellten. Dabei spielte es eine untergeordnete Rolle, dass die sowjetischen Atomwaffen für einen solchen Schlag gar nicht einsatzbereit waren. Das Pokerspiel funktionierte und bestärkte Chruschtschow in der Überzeugung, auch in Zukunft mit nuklearem Bluff internationale Politik machen zu können. Die Suezkrise stellt in diesem Sinne einen elementaren Bestandteil in der Vorgeschichte der Berlin- und Kubakrise dar. Für den Moment hatten die beiden europäischen Kolonialmächte keine andere Wahl, als sich zurückzuziehen: Sie hatten die Erfahrung machen müssen, "wie eng inzwischen die Grenzen (...) im Kräftespiel zwischen Ost und West gezogen waren".

Während die französische Regierung am 6.November über das Ultimatum beriet, traf Bundeskanzler Konrad Adenauer in Paris ein. Die Reise war bereits im September vereinbart worden, doch gab es in Bonn Stimmen, die dem Kanzler angesichts der Suezkrise nahe legten, den Termin für das Zusammentreffen mit Guy Mollet zu verschieben. Auch das Auswärtige Amt riet dem Bundeskanzler ab und plädierte für einen neutralen Kurs, um das "bislang so erfolgreiche Navigieren zwischen den Klippen von westlichem Mißtrauen in die Zuverlässigkeit des neuen Deutschlands und der Flucht der arabischen Welt in die nur zu aufnahmebereiten Arme der DDR" fortsetzen zu können. Adenauer begegnete den Amerikanern mit kritischer Distanz, unterstellte er ihnen doch mit Blick auf die deutsche Frage, sich mit dem Kreml über die Aufteilung der Welt in zwei exklusive Einflusssphären geeinigt zu haben. Er setzte auf die europäische Karte und nutzte die Suezkrise, um gemeinsam mit Frankreich die europäische Integration zu vertiefen.

Die französische Öffentlichkeit hatte es dem Bundeskanzler hoch angerechnet, dass er der in die diplomatische Defensive geratenen französischen Regierung seine demonstrative Solidarität erklärt und sich als Alliierter gezeigt hatte. Mollet wie Adenauer zeigten sich in ihren Gesprächen erschüttert über die "Ohnmacht Europas" und gelobten, "die Einigung der Sechser-Gemeinschaft dans un esprit de totale confiance voranzubringen". Zudem beflügelten die Sperrung des Suezkanals und die sich erschwerenden Öltransporte nach Europa die Politiker in Westeuropa, die Entwicklung neuer Energiequellen zu fördern. Diese neuen Initiativen mündeten in dieUnterzeichnung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) am 25. März 1957.

Noch spektakulärer erscheint die hinter dem Rücken der Briten und der Amerikaner vollzogene Einigung zwischen Frankreich, der Bundesrepublik und Italien, ein gemeinsames europäisches Atomwaffenpotenzial aufzubauen, das nicht nur als Druckmittel gegen die USA gedacht war, sondern für viele Politiker in den drei Ländern auch einen Selbstzweck besaß. Das deutete zugleich auf den Willen Adenauers, einen "Finger an den Abzug" der Atombombe zu bekommen. Noch eindeutiger stellt sich die Situation beim Gemeinsamen Markt dar, konnten sich Mollet und Adenauer doch auf einen Fahrplan einigen. Die Suezkrise bedeutet daher nicht nur eine wichtige Etappe auf dem Weg der deutsch-französischen Annäherung, sondern zugleich für die Integrationsbestrebungen in Westeuropa bzw. die Unterzeichnung der Römischen Verträge am 27. März 1957.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Erklärung der Bundesregierung zur weltpolitischen Entwicklung, abgegeben von Bundeskanzler Adenauer, 8.11. 1956, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, III. Reihe/Bd. 2 (1.1. bis 31.12. 1956), 2. Halbband, Bonn-Berlin 1963, S. 873ff.

  2. Vgl. Jost Dülffer, Atomkriegsgefahr 1956? - Die Suez- und Ungarn-Krise, in: ders., Im Zeichen der Gewalt. Frieden und Krieg im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2003, S. 219-237, hier: S. 223.

  3. Vgl. David Carlton, Britain and the Suez Crisis, London 1981; William R. Louis/Roger Owen (Hrsg.), Suez 1956. The Crisis and its Consequences, Oxford 1992; Maurice Vaïsse (Hrsg.), La France et l'opération de Suez de 1956, Paris 1997; Winfried Heinemann/Nobert Wiggershaus (Hrsg.), Das internationale Krisenjahr 1956, München 1999.

  4. Vgl. einleitend Corine Defrance/Ulrich Pfeil (Hrsg.), Der Elysée-Vertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945 - 1963 - 2003, München 2005.

  5. Vgl. Peter Fischer, 125 Jahre Suezkanal, Berlin 1994.

  6. Vgl. John Darwin, Diplomacy and Decolonization, in: Journal of Imperial and Commonwealth History, 28 (2000) 2, S. 5-24.

  7. Georges-Henri Soutou, La Guerre de Cinquante Ans. Les relations Est-Ouest 1943-1990, Paris 2001, S. 337.

  8. Vgl. Alfred Grosser, Affaires extérieures. La politique de la France 1944/1984, Paris 1984, S. 135.

  9. Vgl. Dietrich Rauschning, Der Streit um den Suezkanal, Hamburg 1956; Herbert von Broch (Hrsg.), Die großen Krisen der Nachkriegszeit, München 1994.

  10. Vgl. Gamal Abdel Nasser, Egypt's Liberation, Washington 1955.

  11. J. Dülffer (Anm. 2), S. 221.

  12. Vgl. Tony Shaw, Eden, Suez and the mass media, London-New York 1996.

  13. Vgl. Jean-Yves Bernard, La genèse de l'expédition franco-britannique de 1956 en Égypte, Paris 2003.

  14. Vgl. Stanislas Jeannesson, La guerre froide, Paris 2002, S. 52.

  15. Vgl. Anthony Eden, Mémoires, Bd. 3: 1945 - 1957, Paris 1960, S. 598.

  16. Vgl. Henry Laurens, Le Grand Jeu. Orient arabe et rivalités internationales, Paris 1991.

  17. Vgl. A. Grosser (Anm. 8), S. 136

  18. Vgl. Ernst Weisenfeld, Geschichte Frankreichs seit 1945, München 1997(3), S. 117.

  19. Vgl. Marc Ferro, Suez, Naissance d'un tiers-monde, Brüssel 1982.

  20. Vgl. Yves Bénot, La décolonisation de l'Afrique française (1943-1962), in: Marc Ferro (Hrsg.), Le livrenoir du colonialisme. XVIe-XXIe siècle: de l'extermination à la repentance, Paris 2003, S. 689 - 741, hier: S. 722.

  21. Zitate nach Jacques Bariéty, Le mythe de Munich, la France et l'"Affaire de Suez", 1956, in: Fritz Taubert (Hrsg.), Mythos München, München 2002, S. 237-253.

  22. Jean Lacouture, Nasser, Paris 1971, S. 154.

  23. Vgl. zum Überblick Bernd Stöver, Der Kalte Krieg, München 2003; Rolf Steininger, Der Kalte Krieg, Frankfurt/M. 2003; Jost Dülffer, Europa im Ost-West-Konflikt 1945 - 1990, München 2004.

  24. Vgl. Wilfried Loth, Helsinki, 1. August 1975. Entspannung und Abrüstung, München 1998, S. 55.

  25. Zit. nach ebd., S. 51.

  26. Vgl. Wladislaw Subok/Konstantin Pleschakow, Der Kreml im Kalten Krieg, Hildesheim 1997, S. 270ff.

  27. Stefan Martens, Frankreich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in: Ernst Hinrichs (Hrsg.), Kleine Geschichte Frankreichs, Stuttgart 2006, S. 433.

  28. Rolf Pfeiffer, Ein erfolgreiches Kapitel bundesdeutscher Außenpolitik: Die Adenauer-Regierung und die Suez-Krise von 1956, in: Historische Mitteilungen, 13 (2000), S. 213 - 232, hier: S. 225.

  29. Ulrich Lappenküper, Diplomatische Faktoren: Die deutsch-französische Annäherung im europäischen und transatlantischen Zusammenhang 1950-1958, in: Hélène Miard-Delacroix/Rainer Hudemann (Hrsg.), Wandel und Integration. Deutsch-französische Annäherungen der fünfziger Jahre, München 2005, S. 69 - 86, hier: S. 84; vgl. ausführlicher ders., Die deutsch-französischen Beziehungen 1949-1963. Von der "Erbfeindschaft" zur "Entente élémentaire", München 2001, S. 914ff.

  30. Vgl. Marie-Thérèse Bitsch, Histoire de la construction européenne, Brüssel 1999, S. 114.

  31. Vgl. R. Pfeiffer (Anm. 28), S. 231.

  32. Vgl. Georges-Henri Soutou, L'alliance incertaine. Les rapports politico-stratégiques franco-allemands, 1954 - 1996, Paris 1996, S. 55ff.

  33. Vgl. Gerhard Brunn, Die Europäische Einigung von 1945 bis heute, Stuttgart 2002, S. 113f.

  34. Vgl. Jean-Paul Cahn/Klaus-Jürgen Müller, La République fédérale d'Allemagne et la guerre d'Algérie (1954-1962), Paris 2003, S. 86ff.

  35. Wichtige Absprachen zwischen der Bundesrepublik und Frankreich für die Römischen Verträge waren bereits bei den Verhandlungen in La Celle-Saint-Cloud im Oktober 1954 erfolgt; vgl. Guido Thiemeyer, Vom "Pool Vert" zur Europäischen Gemeinschaft. Europäische Integration, Kalter Krieg und die Anfänge der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik 1950-1957, München 1999, S. 127ff.

Dr. phil., geb. 1966; Professor für Deutschlandstudien an der Universität Saint-Étienne; Gastwissenschaftler am Deutschen Historischen Institut Paris. Université Jean Monnet, Facultés Arts Lettres Languages, 33, rue du 11 Novembre, 42023 Saint-Étienne, Frankreich.
E-Mail: E-Mail Link: ulrich.pfeil@wanadoo.fr