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Bewältigung des Reformstaus durch direkte Demokratie? | Direkte Demokratie | bpb.de

Direkte Demokratie Editorial Direkte Demokratie im deutschen "Parteienbundesstaat" Direktdemokratie im internationalen Vergleich Direkte Demokratie in den Bundesländern Bürgerbegehren und Bürgerentscheid Bewältigung des Reformstaus durch direkte Demokratie?

Bewältigung des Reformstaus durch direkte Demokratie?

Uwe Kranenpohl

/ 16 Minuten zu lesen

Einleitung

Die sozialpolitischen Maßnahmen der letzten Jahre zeigen es deutlich: Unser Land steht vor großen Herausforderungen, die ohne die Mitwirkung breiter Kreise der Bevölkerung nicht gemeistert werden können. Wissenschaft, Publizistik und Politik haben dies auf den Begriff der "Bürgergesellschaft" gebracht. Wenn sich Bürgerinnen und Bürger in die Gestaltung der Gesellschaft einbringen und für das Gemeinwesen Verantwortung übernehmen sollen, liegt allerdings der Schluss nahe, sie auch an den erforderlichen Entscheidungen stärker zu beteiligen. In den Ländern und Kommunen ist dies inzwischen fast flächendeckend verwirklicht; da der "Umbau des Sozialstaates" aber vorwiegend auf Bundesebene erfolgt, müsste folglich auch die Bundespolitik durch direktdemokratische Elemente angereichert werden, um eine vermeintliche "Legitimationslücke" zu schließen.


Ist die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden ein geeignetes Mittel gegen den deutschen Reformstau? Die Frage soll aus zwei Perspektiven beantwortet werden: Einerseits sind die unterschiedlichen direktdemokratischen Verfahren und ihre Wirkungen darzustellen, bevor es zu erörtern gilt, ob unter den gegebenen Rahmenbedingungen Unterstützung für Reformanstrengungen zu erwarten ist. Andererseits ist auf mögliche grundlegende Spannungsfelder zwischen Volksgesetzgebung und der spezifischen Ausformung des deutschen Verfassungsstaats hinzuweisen.

Direktdemokratische Verfahren treten in einer Vielzahl von Erscheinungsformen auf, wobei zunächst drei Haupttypen zu unterscheiden sind:

  • Obligatorische Referenden: Ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz tritt erst in Kraft, wenn die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zugestimmt hat.

  • Kassatorische Referenden: Ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz wird auf Antrag einer Gruppe von Bürgern allen zur Abstimmung vorgelegt und kann so widerrufen ("kassiert") werden (das "fakultative Referendum" der Eidgenossen ist die bekannteste Form).

  • Initiativen: Eine Gruppe von Stimmbürgern entwickelt eine Gesetzesvorlage, über deren Inkrafttreten die Stimmbürger entscheiden.

    Auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass sich die verschiedenen Verfahren im politischen Prozess unterschiedlich auswirken:

    - Referenden wirken vorwiegend als "Bremspedal", mit dem politische Veränderungen verhindert werden können. Dabei ist vor allem ihre antizipative Wirkung zu beachten, denn Parlament und Regierung müssen sicherstellen, dass ihre Vorlagen "referendumsfest" sind, d.h. alle gesellschaftlichen Organisationen berücksichtigen, die glaubhaft damit drohen, eine Abstimmungsniederlage herbeiführen zu können. Lange Aushandlungsprozesse mit Parteien und mächtigen Interessengruppen sind somit erforderlich, bevor eine Reform beschlossen wird.

    - Initiativen sind dagegen eher das "Gaspedal" des politischen Prozesses, mit dem aus der Gesellschaft heraus neue Probleme und Lösungsvorschläge thematisiert werden können. Oft sind sie "indirekt" erfolgreich, wenn die Initiative selbst scheitert, das Anliegen aber von der Politik aufgenommen wird.

    Probleme der Volksgesetzgebung



    Die bisher beschriebenen Formen direktdemokratischer Verfahren zeichnen sich durch eine wichtige Gemeinsamkeit aus: Sie sind entweder durch die Verfassung bei bestimmten Gegenständen (z.B. Verfassungsänderungen) zwingend vorgeschrieben oder werden durch die Stimmbürger ausgelöst. Damit steht es außerhalb der Macht staatlicher Organe zu entscheiden, ob eine Volksabstimmung stattfindet. Parlament und Regierung können lediglich im Abstimmungskampf für ihre Positionen werben.

    Beim Typus der "optionalen Referenden" liegt es dagegen in der Entscheidungsgewalt politischer Institutionen, ob die Bürger zu den Urnen gerufen werden. So bestimmt allein der französische Staatspräsident, ob eine Verfassungsänderung durch Volksentscheid oder durch die beiden gemeinsam als Kongress tagenden Parlamentskammern beschlossen wird. Solch ein Verfahren hat deutliche Nachteile:
    - Es ist hochgradig manipulativ und würdigt den Stimmbürger zum "Stimmvieh" herab. Gerade in Frankreich ist zu beobachten, dass meist allein nach politischer Opportunität entschieden wird, ob ein Referendum angesetzt wird.
    - Vor allem dürfen Volksentscheide der Politik keine Flucht aus der Verantwortung erlauben, indem die zuständigen Akteure beschließen, unliebsame Maßnahmen "ausnahmsweise" vom Volk entscheiden zu lassen.

    Eine Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid ist somit nur dann erstrebenswert, wenn die Verfahren entweder obligatorisch vorgeschrieben sind oder allein von Seiten der Bürger ausgelöst werden können.

    "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" bestimmt das Grundgesetz in Art. 20 - wie könnte diese Norm besser umgesetzt werden als durch Volksbegehren und Volksentscheide auf Bundesebene? Allerdings ist festzustellen, dass das "Volk" kein handlungsfähiger politischer Akteur ist. Agiert es im Rahmen von Volksbegehren und Volksentscheid, so handeln Bürger quasi "stellvertretend" für das "Volk".

    Diese Bürger sind primär solche, die über entsprechende Ressourcen verfügen, d.h. politisch interessiert sowie aktions- und organisationsfähig sind. Damit tritt der nicht-organisierte Bürger im Verlauf eines direktdemokratischen Entscheidungsprozesses fast ausschließlich als Abstimmender (bzw. der Abstimmung Fernbleibender) auf. Jene Personen, die den Prozess in Gang setzen, Unterschriftensammlungen organisieren, den Abstimmungskampf durchführen und in diesem auftreten, sind aber organisiert.

    Damit wird der gesamte politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozess deutlich modifiziert. Je nachdem, wie hoch die Hürden direktdemokratischer Verfahren sind, erscheinen eine ganze Reihe "referendumsfähiger" Organisationen auf der politischen Bühne, die das Geschehen mitunter entscheidend mitgestalten. Als "referendumsfähig" gelten dabei Gruppen, die glaubhaft damit drohen können, den Gesetzgebungsprozess durch Referenden zu blockieren oder zumindest nicht unbeträchtlich zu verzögern.

    Diese Einflussversuche lassen sich auch nur bedingt dadurch kontrollieren, dass sie im Abstimmungskampf durch die jeweiligen Gegner transparent gemacht werden. Dabei wird nämlich die beträchtliche antizipative Wirkung von Referenden übersehen. Da die Einflussnahme aber im Vorfeld stattfindet, ist sie zwangsläufig relativ undurchsichtig, so dass bezüglich der Transparenz politischer Prozesse bei Referenden gegenüber den repräsentativen Verfahren kein entscheidender Qualitätssprung festzustellen ist. Außerdem erhalten solche Organisationen durch direktdemokratische Verfahren eine zusätzliche "Machtprämie", so dass unter ungünstigen Bedingungen gegen deren Widerstreben nichts entschieden werden kann.

    "Ungleichzeitigkeiten" der



    Wie ist nun die aufgeworfene Frage, ob eine Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden auf Bundesebene Reformprozesse befördern könne, zu beantworten? Zentrale Argumentationslinie in der Diskussion über den deutschen Reformstau ist, dass erforderliche Reformen durch die Vielzahl von Akteuren, die im politischen System Vetopositionen aufbauen können, verhindert würden. Könnten in dieser Situation Elemente direkter Demokratie Abhilfe schaffen, indem vom Volk legitimierte Entscheidungen die von Partikularinteressen dominierten Verhinderungspotenziale brechen?

    Es ist davon auszugehen, dass in Zeiten von Reformen, die für den Einzelnen eher mit Einschränkungen verbunden sind, die Verlockung zunehmen wird, direktdemokratische Elemente vorwiegend zur Verhinderung unangenehmer politischer Veränderungen zu nutzen. Denn die Einführung von Referenden erhöht die Zahl der Akteure, die glaubhaft mit Verhinderung drohen können, und verschafft den schon etablierten weitere Potenziale. Letztlich wird die Zahl "referendumsfähiger" Organisationen allein durch die Höhe der Hürden der direktdemokratischen Verfahren bestimmt. Ließe sich das Referenden innewohnende Blockadepotenzial aber bändigen, indem man lediglich die eher innovativ wirkenden Initiativverfahren einführte?

    Ein solches Vorgehen ist eigentlich schon aus legitimatorischen Gründen abzulehnen, aber es wäre wohl auch nicht von Erfolg gekrönt. Denn die skizzierte Gegenüberstellung von Status quo-orientierten Referenden einerseits und veränderungsorientierten Initiativen andererseits trifft nur zu, wenn das System direktdemokratischer Elemente vollständig ausgebaut ist. Wenn dies nicht der Fall ist, sucht sich der Gestaltungswille verschlungene Wege und formt die Instrumente kreativ um:
    - Einerseits gibt es in Bayern - abgesehen vom Verfassungsreferendum - allein das initiative Volksbegehren. In jüngster Zeit sind aber vor allem Volksbegehren eingeleitet worden, welche die weitgehende Rücknahme politischer Entscheidungen zum Ziel hatten ("Aus Liebe zum Wald" gegen die Forstreform und "G9" gegen das achtjährige Gymnasium).
    - Andererseits wurde in Italien das (kassatorische) "abrogative Referendum", mit dem bestehende gesetzliche Regelungen revidiert werden können, zunehmend eingesetzt, um politische Veränderungen herbeizuführen, indem zentrale Normpassagen gestrichen wurden.

    Damit lassen sich direktdemokratische Instrumente nicht auf eine gewünschte Wirkung ausrichten. Sie können immer das Blockadepotenzial kassatorischer Verfahren entwickeln und tragen damit die Gefahr in sich, dass Reformen blockiert oder zumindest verzögert werden.

    Nun taugt dieses Argument nicht, um es prinzipiell gegen die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid zu wenden. Politik, die unter dem Vorbehalt der Kassation durch Volksabstimmung handelt, muss - gerade langfristig - nicht notwendig schlechtere Ergebnisse produzieren. Der Blick in die Schweiz zeigt, dass der Status quo-orientierte Charakter des kassatorischen Referendums insbesondere dazu beitragen kann, dass sich Politik verlangsamt und vielleicht nicht jede "politische Mode" gleich umgesetzt wird, die sich mittelfristig möglicherweise doch als problematische Entwicklung erwiese.

    Plebiszitäre Elemente als Mittel gegen den Reformstau zu propagieren, bedeutet, den Blick von den Realitäten direkter Demokratie abzuwenden. Insbesondere muss man sich bewusst sein, dass auch in der Volksabstimmung getroffene Entscheidungen nicht notwendig untereinander kohärent sein müssen. So wurde in der Schweiz die Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung bereits 1890 durch Verfassungsreferendum ermöglicht, die erforderliche einfachgesetzliche Regelung scheiterte aber zehn Jahre später im Referendum und konnte nach einer weiteren Volksabstimmung erst 1918 eingerichtet werden.

    Vereinbarkeit mit der Verfassungskonzeption



    Auch wenn die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden auf Bundesebene wohl nicht der "Königsweg" zur Reform unseres Gemeinwesens sein kann, ist dies kein grundlegender Einwand gegen direktdemokratische Elemente. Allerdings müssen einige Problembereiche berücksichtigt werden, die eine Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden aufwürfe.

    Achtung der Verfassungsordnung und der Verfassungsrechtsprechung

    Die Befürworter der Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid betonen selbst, dass diese direktdemokratischen Elemente nur eine Ergänzung weiterhin unverzichtbarer repräsentativer Strukturen seien, wie schon ein Blick in die Eidgenossenschaft zeige. Bei Analogieschlüssen aus der Schweiz wird aber meist übersehen, dass diese auf eine andere Verfassungskonzeption rekurriert.

    Die bundesrepublikanische Verfassungskonzeption folgt weniger dem Konzept einer Volkssouveränität im Rousseauschen Sinne, sondern einem "konstitutionellen Republikanismus", wie er etwa in den Federalist Papers entworfen wird. Nach dieser Konzeption hat sich das Volk im Zuge der Verfassungsgebung selbst gebunden und darauf verzichtet, seine prinzipiell unbegrenzbaren Kompetenzen jenseits der durch die Verfassung von ihm selbst gezogenen Grenzen auszuüben. Damit ist die Verfassung oberste Richtschnur allen politischen Handelns und somit jedes Handeln - auch das des Volkes - außerhalb der Verfassungsordnung illegitim. Heidrun Abromeit hat diese Konzeption als "Verfassungssouveränität" bezeichnet. Die grundlegenden Unterschiede verdeutlicht ein Vergleich Deutschlands mit Frankreich: In der V.Republik kann ein offenkundiger Verfassungsbruch politischer Akteure durch die Zustimmung des "Souveräns" im Referendum "geheilt" werden; in Deutschland ist dies kein gangbarer Weg.

    Im deutschen Fall muss daher auch im Rahmen der Volksgesetzgebung die Achtung der Verfassung und ihrer Grenzen garantiert sein. Dies ist allerdings nicht trivial, denn Verfassungen weisen "dilatorische Formelkompromisse" auf, d.h. wenig präzise oder sogar widersprüchliche und deshalb auslegungsbedürftige Regelungen. Gerade die Grundrechte sind sehr deutungsoffen.

    Um dieses Problem der "Unbestimmtheit der Verfassung" zu bewältigen, hat Alexander Hamilton schon in den Federalist Papers eine gerichtliche Kontrolle der Gesetzgebung vorgeschlagen, und diesen Weg hat die Bundesrepublik Deutschland mit der Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Bund und Ländern konsequent beschritten. Dies bedeutet dann aber: Wenn Gegenstände und Wirkungen von Volksbegehren und Volksentscheid die Verfassung achten sollen, müssen auch die Kompetenzen der Verfassungsrechtsprechung als "Hüter der Verfassung" geachtet werden.

    Kein akademisches Problem

    Dass solche Überlegungen mehr als nur akademische "Glasperlenspiele" sind, zeigte sich 1999 anlässlich der Urteilsverkündung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs (BayVerfGH) im Verfahren über die Abschaffung des Bayerischen Senats, als Mitglieder der Organisation "Mehr Demokratie" dem Gericht vorwarfen, es habe einen "absoluten Angriff auf die Mitbestimmung des Volkes" verübt. Schon 1997, als das Gericht die Einführung eines Zustimmungsquorums beim kommunalen Bürgerentscheid für geboten hielt, kritisierte der Sprecher von "Mehr Demokratie" Thomas Mayer: "Das ist ein Putschversuch gegen das Volk!" Der Konflikt im Vorfeld des Volksbegehrens "Unabhängige Richterinnen und Richter in Bayern", welches auf ein verändertes Wahlverfahren der Verfassungsrichter abzielte, kulminierte schließlich in einem Befangenheitsantrag gegen das gesamte Gericht.

    Volksgesetzgebung ist aber zumindest in Deutschland nicht "souveräner" als parlamentarische Gesetzgebung, sondern lediglich Normsetzung in einem anderen Verfahren, so dass eine verfassungsgerichtliche Überprüfung selbstverständlich möglich ist. Sollten Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene eingeführt werden, bestünde deshalb noch umfangreicher Bedarf an "citizen empowerment" (etwas altbacken könnte man auch von politischer bzw. staatsbürgerlicher Bildung sprechen) - die Beispiele aus Bayern dokumentieren, dass selbst bei politisch hoch aktiven Bürgern noch Bedarf bestehen kann. Skeptisch stimmt aber, dass sich die Protagonisten in der politischen Auseinandersetzung wohl nicht der Versuchung entziehen könnten, "vulgärdemokratisch" mit der "Volksmacht" zu argumentieren.

    Es ist nun völlig unangebracht, die "Dignität" der Verfassungsrechtsprechung in einer Weise zu überhöhen, dass man inhaltliche Kritik an ihren Entscheidungen für illegitim hielte. Im Gegenteil: Auch Verfassungsrichter sind Menschen, und Menschen irren nun mal mitunter. Aber in einem Gemeinwesen, welches sich zum Schutz seiner Verfassungsordnung für das Konzept Hamiltons entschieden hat, ist ein Mindestrespekt vor jenen Institutionen, die zu ihrem "Hüter" bestellt worden sind, unerlässlich.

    Denn Art. 20 Abs. 2 GG postuliert gerade nicht im Sinne Rousseaus eine unbeschränkte Kompetenz des Volkes, jegliche Entscheidung zu fällen, sondern erklärt es zur Legitimationsbasis allen staatlichen Handelns. "Volkssouveränität" bedeutet in diesem Sinne, dass es keine Legitimationsquellen für staatliches Handeln gibt, die sich nicht - zumindest indirekt - auf das "Volk" zurückführen lassen. "Wahrheit", höhere Einsicht oder gehobene Bildung entwickeln für sich allein keine Entscheidungsgewalt im demokratischen Gemeinwesen, wenn sie nicht mit dem "heiligen Öl der Volkssouveränität" gesalbt wurden. In diesem Sinne soll die "Macht" dann auch nicht zum Volke zurückkehren, sondern muss im Gegenteil in das gesamte Staatswesen diffundieren. Eine solche legitimatorische "Weihe" haben auch die Verfassungsrichter durch ihre Wahl durch Bundestag und Bundesrat erhalten, und da sie kaum über Machtmittel zur Durchsetzung ihrer Entscheidungen verfügen, zeichnen die Richter sich mitunter durch besonders große Anstrengungen aus, ihren nicht immer unmittelbar einsichtigen Urteilen "Legitimation durch Kommunikation" zu verschaffen.

    Wo bleiben die Länder?



    Hinzu tritt als weiteres Element der Föderalismus. Vergleicht man Deutschland mit anderen Bundesstaaten wie den USA, der Schweiz, Kanada oder auch Belgien, so erhält man recht schnell den Eindruck, das Verhältnis der Deutschen zu ihrem Föderalismus sei ziemlich ambivalent. Obwohl als Kurzformel des föderalistischen Prinzips oftmals die Formel "Vielfalt in der Einheit" angeführt wird, scheint es, als ob wir Deutschen dabei besonders die Einheitlichkeit betonten.

    So ist es nach Meinung der meisten publizistischen Beobachter die primäre Aufgabe der Kultusministerkonferenz, die den Ländern gemäß Kompetenzkatalog des Grundgesetzes eindeutig zustehende Schulpolitik möglichst zu vereinheitlichen. Oder um ein banaleres Beispiel zu wählen: Die deutsche Begeisterung für den Föderalismus endet abrupt, wenn in Leipzig die Geschäfte zwei Stunden länger geöffnet sind als im wenige Kilometer entfernten Halle.

    Nun ist festzustellen, dass selbst in der wesentlich stärker an einem heterogenen Föderalismuskonzept orientierten Schweiz Referenden eher unitarisierend wirken. Dies würde - übertragen auf die deutschen Verhältnisse - aber bedeuten, dass über den ohnehin schon gefährdeten eigenständigen Kompetenzen der Länder zusätzlich das Damoklesschwert unitarisierender Volksgesetzgebung schwebte. Ein Kompetenzverlust der Gliedstaaten wäre wohl nur zu verhindern, wenn im Zuge der Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene Mitwirkungsmöglichkeiten der Länder vorgesehen wären. Dies dürfte sich aber wohl nicht allein auf die Übernahme der eidgenössischen Konzeption eines "Ständemehrs" beschränken. So sollte das Recht, ein Volksbegehren vom Bundesverfassungsgericht auf seine Zulässigkeit überprüfen zu lassen, nicht auf Bundesregierung und Bundestag beschränkt werden. Bei einem möglichen Eingriff in die Kompetenzen der Länder müssten der Bundesrat und die Landesregierungen, vor allem aber die primär durch die Kompetenzauszehrung betroffenen Landesparlamente einen Antrag auf Normenkontrolle stellen können.

    Globalisierung und Volksgesetzgebung



    Ein letztes Spannungsfeld ergibt sich schließlich aus der zunehmenden internationalen Verflechtung. Die Globalisierung stellt eine Herausforderung für die Politik dar, denn im Zuge der Herausbildung des modernen Staates hatten sich die wesentlichen ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten auf den durch Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt definierten Nationalstaat konzentriert: "Soziologischer formuliert: Der Raum, in dem sich gesellschaftliche Austauschbeziehungen und Handlungszusammenhänge verdichtet haben, darf nicht größer sein als der Raum, der durch politische Regelungen erfasst wird. (...) Um die Steuerungsfähigkeit zurückzugewinnen, errichten Nationalstaaten internationale Institutionen und passen damit die Gültigkeitsreichweite politischer Regelungen den Grenzen der sozialen Handlungszusammenhänge an." Diese Denationalisierung hat weitreichende Folgen auch für Volksbegehren und Volksentscheide. Denn wie alle nationalstaatlich betriebene Politik unterliegen sie einem Dilemma, welches sich idealtypisch folgendermaßen beschreiben lässt:
    - Entweder ignoriert Volksgesetzgebung den Verlust der Steuerungsfähigkeit und sucht in einer Politik des "So-tun-als-ob" Gegenstandsbereiche zu regeln, die sich ihrer Regulierung de facto längst entzogen haben. Dies mag kurzfristig zu einem gewissen "Wohlfühleffekt" führen, langfristig ist aber wohl Frustration der Betroffenen und Legitimationsverlust des Systems unausweichlich.
    - Oder man erkennt das Steuerungsdefizit an, muss dann aber weite Politikbereiche der nationalstaatlichen Regelung - d.h. auch der Volksgesetzgebung - faktisch entziehen, besonders wenn Volksbegehren bereits eingegangenen Verpflichtungen widersprächen.

    Auf den ersten Blick stellen Regelungen, welche die Übertragung von Hoheitsrechten von einer Volksabstimmung abhängig machen, eine adäquate Lösung dieses Problems dar. Werden diese als obligatorische Referenden ausgestaltet, so könnte man erwarten, dass solche Zustimmungserfordernisse von den Verhandlungspartnern antizipiert und in den Ergebnissen berücksichtigt werden. Doch vermag ein Blick in die Empirie auch hier skeptisch zu stimmen: Nach den schmerzlichen Erfahrungen mit Volksabstimmungen zu den Verträgen von Maastricht und Nizza hätte für den Europäischen Verfassungsvertrag doch ausreichendes Know-how vorliegen müssen, um ein Scheitern des Entwurfes zu verhindern. Eine solch segensreiche Wirkung haben die erforderlichen Referenden aber offenbar nicht entwickelt. So zeigt sich eine doppelte Gefahrenlage:
    - Entweder werden die Zustimmungsverfahren zu gleichsam notariellen Akten herabgewürdigt, da die Zustimmung angesichts der immensen Kosten einer Ablehnung oder bereits eingegangener Verpflichtungen gar nicht verweigert werden kann.
    - Oder die Weigerung, an transnationaler Politikgestaltung auf diese Weise mitzuwirken, minimiert die ohnehin schon eingeschränkten nationalen Steuerungspotenziale zusätzlich.

    Angesichts dieser Perspektiven sind die dichotom auf eine "Ja-Nein-Alternative" ausgelegten Referenden kaum geeignet, das demokratische Defizit transnationalen Regierens auszugleichen.

    Schlussfolgerungen



    Die Frage, ob die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden auf Bundesebene zur Aktivierung der Bürgergesellschaft beitragen kann, ist somit ambivalent zu beantworten. Insbesondere ist festzuhalten:

    • Volksbegehren und Volksentscheide können sowohl Status quo- als auch veränderungsorientiert wirken. Über die Ausgestaltung der Verfahren lässt sich dies nur bedingt steuern. Das Beispiel der bayerischen Volksbegehren zeigt, dass sich Volksinitiativen nicht auf innovative Sachverhalte begrenzen lassen. Sie können immer auch auf die Rücknahme von Reformansätzen abzielen.

    • Auf keinen Fall sollten direktdemokratische Elemente den Akteuren der repräsentativen Demokratie erlauben, sich nach Wunsch aus der politischen Verantwortung zurückziehen zu können.

    • Eine Einführung direktdemokratischer Elemente muss so gestaltet sein, dass sie die Besonderheiten der bundesrepublikanischen Verfassungskultur berücksichtigt. Sie hat deshalb die föderale Ordnung, vor allem aber die "Verfassungssouveränität", die sich in den Kompetenzen der Verfassungsrechtsprechung konkretisiert, zu achten. Unerlässlich ist, auch im öffentlichen Diskurs auf diese deutschen Spezifika hinzuweisen.

    • Die eingetretene und weiter fortschreitende Denationalisierung von Politik beschränkt mit den nationalstaatlichen Gestaltungsmöglichkeiten auch jene der Volksgesetzgebung. Dem lässt sich durch Regelungen, die Übertragung von Hoheitsrechten dem Referendum zu unterwerfen, nur bedingt entgegenwirken. Bürgerpartizipation muss sich in der Ära des "entgrenzten Regierens" andere Kanäle suchen.

    • Unter den Rahmenbedingungen der momentan in Deutschland geführten Debatte über die Reformen ist zu erwarten, dass die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden primär am Status quo orientierten Akteuren zusätzliche Einfluss- und Blockademöglichkeiten verschafft. Direkte Demokratie ist damit nur bedingt geeignet, den aktuellen Reformstau aufzulösen.

      Könnten Volksentscheide dann aber zumindest den Reformprozess insofern unterstützen, als sie zu größerer Akzeptanz schwieriger politischer Entscheidungen beitrügen? Vermag Mitentscheiden zu breiterer Akzeptanz für politische Maßnahmen zu führen und damit Politikverdrossenheit vermeiden zu helfen? Eine solche Annahme mag auf den ersten Blick schlüssig erscheinen, ist aber in der Realität sehr voraussetzungsvoll:

      • Das Argument geht nämlich davon aus, dass wir Menschen in unseren Einstellungen und unserem Verhalten kohärent sind, d.h. um es lebensweltlich zu formulieren, als abendliche Freizeitradler dasselbe wollen wie als morgendliche Autopendler oder Fußgänger in der Mittagspause.

      • Zudem wird unterstellt, dass sich unterschiedliche Komponenten gegenseitig kompensieren könnten, d.h. eine Einbuße an Output-Legitimation (etwa durch Kürzungen staatlicher Leistungen) durch einen Gewinn an Input-Legitimation (durch Beteiligung an dieser Entscheidung) gleichsam verlustfrei ausgeglichen werden könnte.

        Bedeutet dies nun, dass man besser auf die Einführung direktdemokratischer Entscheidungsabläufe auf Bundesebene verzichten sollte? Das sicher nicht. Wenn Volksbegehren und Volksentscheide so ausgestaltet werden, dass sie mit der Konzeption der "Verfassungssouveränität" kompatibel sind, können sie durchaus ein belebendes Element für die deutsche Demokratie sein. Man hüte sich aber vor übertriebenen Hoffnungen. Direktdemokratische Elemente verändern die Struktur des politischen Prozesses, d.h. sie schaffen sowohl neue Gestaltungs- als auch Blockadepotenziale. Damit vermögen sie vielleicht zur Lösung einiger Probleme des politischen Prozesses beizutragen, schaffen aber ihrerseits auch neue.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Gerhard Schröder, Die zivile Bürgergesellschaft, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 47 (2000), S. 200 - 207.

  2. Vgl. Hermann K. Heußner/Otmar Jung (Hrsg.), Mehr direkte Demokratie wagen, München 1999, S. 159 - 254; Theo Schiller/Volker Mittendorf (Hrsg.), Direkte Demokratie, Wiesbaden 2002, S. 102 - 114, 165 - 260.

  3. Vgl. Wolfgang Luthardt, Direkte Demokratie, Baden-Baden 1994, S. 140.

  4. Überhaupt ist Transparenz nicht als demokratischer Wert an sich anzusehen, sondern ist nur ein Faktor eines multidimensionalen Optimierungsprogramms demokratischen Regierens. Vgl. Winfried Steffani, Parlamentarische Demokratie - Zur Problematik von Effizienz, Transparenz und Partizipation, in: ders. (Hrsg.), Parlamentarismus ohne Transparenz, Opladen 19732, S. 17 - 47.

  5. Vgl. Anna Capretti, Direkte Demokratie in Italien, in: H. K. Heußner/O. Jung (Anm. 2), S. 123 - 141; Stefan Köppl, Das politische System Italiens, Wiesbaden 2006 (i.E.).

  6. Vgl. Hanspeter Kriesi, Direkte Demokratie in der Schweiz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), (1991) 23, S. 48.

  7. Vgl. Uwe Kranenpohl, Rousseau vs. Hamilton? Volksgesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Widerstreit, in: Karl Schmitt (Hrsg.), Herausforderungen der repräsentativen Demokratie, Baden-Baden 2003, S. 157 - 174 .

  8. Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, Die Federalist Papers, bearb. von Barbara Zehnpfennig, Darmstadt 1993.

  9. Diese Konzeption ist selbstverständlich ein normatives Konzept und nicht als empirische Beschreibung zu verstehen.

  10. Heidrun Abromeit, Volkssouveränität, Parlamentssouveränität, Verfassungssouveränität, in: Politische Vierteljahresschrift, 36 (1995), S. 49 - 66.

  11. So entschied 1962 der französische Verfassungsrat. Vgl. Adolf Kimmel, Nation, Republik, Verfassung in der französischen politischen Kultur, in: Jürgen Gebhardt (Hrsg.), Verfassung und politische Kultur, Baden-Baden 1999, S. 129 - 138, S. 135.

  12. Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1928, S. 31.

  13. Vgl. Uwe Kranenpohl, Funktionen des Bundesverfassungsgerichts. Eine politikwissenschaftliche Analyse, in: APuZ, (2004) 50 - 51, S. 41f.

  14. Vgl. A. Hamilton/J. Madison/J. Jay (Anm. 8), S. 459 (Nr. 78).

  15. Süddeutsche Zeitung vom 18. 9. 1999, S. 63. Pikanterweise war "Mehr Demokratie" im konkreten Verfahren sogar siegreich gewesen; vgl. BayVerfGHE 52, 104.

  16. Süddeutsche Zeitung vom 30. 8. 1997, S. 47; vgl. BayVerfGHE 50, 181.

  17. BayVerfGHE 53, 16; 53, 23. Das Volksbegehren scheiterte schließlich wegen mangelnder Unterstützung der Stimmberechtigten.

  18. Allerdings ist es sinnvoll, eine verfassungsgerichtliche Kontrolle vor Einleitung des Abstimmungsverfahrens zu ermöglichen.

  19. Dies gilt allerdings auch für die Initiatoren von Volksbegehren und sogar die Stimmbürger.

  20. Heinrich Oberreuter, Legitimation durch Kommunikation, in: Jürgen W. Falter/Christian Fenner/Michael Th. Greven (Hrsg.), Politische Willensbildung und Interessenvermittlung, Opladen 1984, S. 238 - 253; vgl. U. Kranenpohl (Anm. 13), S. 46.

  21. Vgl. Heinz Laufer/Ursula Münch, Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, München 19977, S. 14.

  22. Vgl. Die Zeit vom 26. 2. 1998, S. 15 - 18.

  23. Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, Frankfurt/M. 1998, S. 16f., 28.

  24. Verwiesen sei ausdrücklich auch auf positive Aspekte der Denationalisierung, wie etwa den europaweiten Schutz der individuellen Freiheiten durch die Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), gegen deren Verletzung der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg angerufen werden kann.

  25. So verstößt die im Februar 2004 von den Schweizer Bürgern angenommen Initiative "Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter" möglicherweise gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 16. 2. 2004, S. 7.

  26. Vgl. zu möglichen Alternativen M. Zürn (Anm. 23), S. 347 - 361. Vgl. zur Einführung EU-weiter Referenden allerdings die Kritik von: Ondrej Kalina, Europa ohne Europäer?, Magisterarb. Univ. Passau 2005, S. 31 - 34.

Dr. phil., geb. 1966; wissenschaftlicher Assistent an der Universität Passau, Lehrstuhl für Politikwissenschaft I, 94030 Passau.
E-Mail: E-Mail Link: kranenpohl@uni-passau.de