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Juden in Europa Editorial Die Einbürgerung der jüdischen Religion in Europa Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland nach 1945 Der Wiederaufbau jüdischen Lebens in Italien Der Fall Dreyfus und die Folgen Deutschsprachige Literatur und der Holocaust

Die Einbürgerung der jüdischen Religion in Europa

Carsten L. Wilke

/ 16 Minuten zu lesen

Die Integration des Judentums in den modernen Staat hielt mit der rechtlichen Einbürgerung nicht Schritt. Die Rechtsunmittelbarkeit löste ihn zugleich aus der Rechtsautonomie.

Einleitung

Vor zweihundert Jahren eröffnete eine deutsche Verfassung erstmals die juristische Möglichkeit eines gleichberechtigten jüdischen, muslimischen oder nichtkonfessionellen Staatsbürgers. Es war die Verfassung des kurzlebigen Königreichs Westphalen, das Napoleons Bruder Jérôme von Kassel aus regierte: Am 15. November 1807 wurde in ihr "die Gleichheit aller Unterthanen vor dem Gesetze, und die freie Ausübung des Gottesdienstes der verschiedenen Religions-Gesellschaften" verkündet. Die Verfassung setzte neue Maßstäbe, weil sie die Religionsausübung aller Glaubensgemeinschaften, auch der minderheitlichen, als ein Rechtsgut festhielt, das nicht nur gegen Verfolgung verteidigt, sondern durch staatliche Anstrengungen gefördert werden müsse. Westphalen gab den jüdischen Gemeinden 1808 eine einheitliche, zentrale Ordnung mit einem Konsistorium an der Spitze. Damit wurde ein Organisationsmodell nachgeahmt, das im selben Jahr in Paris durch die Versammlung der jüdischen Notabeln und durch den Großen Sanhedrin beschlossen worden war. Die Juden waren nun nicht nur als Privatpersonen, sondern auch als Gemeinde "eingebürgert".



Im historischen Bewusstsein in Deutschland hat das Erbe der so genannten Franzosenzeit allerdings kaum einen Platz gefunden, so wichtig manche ihrer Errungenschaften auch bis heute sein mögen. Es ist daher angeraten, die nationalen Schemata zu meiden und die Emanzipationsvorgänge als europäische zu betrachten. Die Unabhängigkeit der Staatsbürgerrechte vom christlichen Bekenntnis verbreitete sich von Frankreich aus über Europa, nicht selten gegen starken Widerstand. Die von Paris ausgehende Bewegung hatte ihre geistigen Wurzeln in der jüdischen Aufklärung in Berlin und Triest. Das Kasseler Konsistorium importierte Prinzipien des Pariser Sanhedrin, doch gerade dieser Sanhedrin war umgekehrt einer Idee des Braunschweiger Kammeragenten und späteren Kasseler Konsistorialrats Israel Jacobson zu verdanken.

Die Integration des Judentums in die kirchenpolitische Landschaft des modernen Staates hielt mit der rechtlichen Einbürgerung seiner Bekenner nicht Schritt, beide Entwicklungen waren über weite Strecken sogar gegenläufig. Die Rechtsunmittelbarkeit des Staatsbürgers im modernen Staat, eine Frucht der Französischen Revolution, erhob jeden einzelnen Juden aus jahrhundertealter erzwungener Randexistenz, löste ihn aber zugleich auch aus der Bindung, die über siebzehn Jahrhunderte der Diaspora seine Identität als Jude verbürgt hatte, nämlich die Gültigkeit des biblisch-talmudischen Gesetzes und damit die Rechtsautonomie.

Nur in wenigen Ländern erlaubte es die Rechtskontinuität den jüdischen Vertretungen, sich in die neuen Zeitverhältnisse zu retten. Das 1760 gegründete Board of Deputies of British Jews vertritt noch heute die gemeinsamen Belange der Juden Großbritanniens, und ihr religiöses Leben untersteht wie im 18. Jahrhundert dem gesamtbritischen Chief Rabbi. Durch Gleichstellung mit der anglikanischen Staatskirche hat die jüdische Gemeinschaft in jüngerer Zeit auch das Recht auf Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und auf Anerkennung rabbinischer Eheschließungen erworben. Nur wenige Rabbinate Europas können auf eine ähnliche episkopal-zentralistische Tradition zurückblicken, am ehesten noch das türkische Oberrabbinat in Istanbul.

Im übrigen Europa überlebten die innerjüdischen Autoritäten den Untergang ihrer Rechtsautonomie nicht. Die drei möglichen Positionen standen einander schon im Revolutionsjahr 1789 gegenüber. Die jüdischen Vertreter wünschten die Quadratur des Kreises - eine moderne Staatsbürgerschaft unter Beibehaltung der alten Gemeindestrukturen. Die katholische Rechte lehnte das eine wie das andere ab. Aufgrund des rückständigen, unaufgeklärten, ja staatsfeindlichen, mit einem Wort: "asiatischen" Charakters der jüdischen Religions- und Morallehren könnten seine Bekenner im Gemeinwesen allenfalls als Individuen ohne politische Mitwirkungsrechte geduldet werden. Die liberale Mittelposition des Marquis de Clermont-Tonnerre, nach der ein Ausnahmerecht weder zugunsten der Juden noch gegen sie zulässig sei, ist berühmt geworden: "Man muss den Juden als Nation alles verweigern und den Juden als Individuen alles gewähren."

Napoleon und der Große Sanhedrin

Nachdem 1795 die Trennung von Religion und Staat in Frankreich eingeführt wurde, verlieh erst die restaurative Politik Napoleons der Religion eine neue politische Wertschätzung als "soziales Bindemittel". Staatstreue Glaubensgemeinschaften erschienen als die beste Gewähr jener religion civile, der "bürgerlichen Religion", die im Denken von Jean-Jacques Rousseau den gesellschaftlichen Konsens verbürgt. Seit dem napoleonischen Konkordat mit dem Heiligen Stuhl 1801 zahlte der Staat wieder die Gehälter der Geistlichen, die dafür den Monarchen zu verherrlichen und Regimegegnern mit der ewigen Verdammnis zu drohen hatten.

Der Unterschied der neuen von der alten Kirchenpolitik bestand darin, dass sie keine Staatskirche mehr kannte. Gleich im Anschluss an das Konkordat regelte das Empire auch die Ordnung und Finanzierung des protestantischen Kultus. Allein die Religion, die jüdische, ging leer aus. Juden, so schrieb Napoleons Minister Jean-Étienne-Marie Portalis, seien ja gar keine Kirche, sondern ein Volk, das es "als eines seiner größten Vorzüge erachtet, nur Gott zu seinem Gesetzgeber zu haben". Jüdische Gemeindevertreter und Rabbiner beklagten, dass der Staat ihre Institutionen damit dem Zerfall überlasse. Im Januar 1806 legten jüdische Vertreter aus Paris einen Organisationsplan vor, der für Synagogen, das Rabbinat und für theologische Seminare denselben staatlichen Schutz vorsah, wie ihn die Kirchen nach dem Konkordat genossen. Diese Pläne trafen sich auf dem Schreibtisch des Kaisers mit Denkschriften anderer Art. Sie kamen aus dem Elsass, wo man die Verschuldung der Bauern nicht der Kriegsnot und Abgabenlast, sondern den Kreditgeschäften der Juden anlastete. Das Drängen der Elsässer setzte bei Napoleon leidenschaftliche Ausbrüche frei, in denen er die Juden mit Heuschrecken und Blutsaugern verglich. Sie bildeten in seiner Sicht einen "Staat im Staat" - ein Schreckbild analog zur heutigen "Parallelgesellschaft".

Zinswucher und jüdische Kultusorganisation hatten per se ungefähr so viel miteinander zu tun wie heute die innere Sicherheit mit der Schaffung einer islamischen Dachverbands. Napoleon aber beschloss, beide Themen konsequent zu amalgamieren. Seine beiden Dekrete, die er am 30. Mai 1806 und am 17. März 1808 über die politische Reform des Judentums verabschiedete (vgl. Abbildung 1 der PDF-Version), enthalten daher zwei ganz widersprüchliche Teile. Auf der einen Seite entsprach der Kaiser den Forderungen der Judenfeinde, setzte sich über die Ansichten seiner rechtlich denkenden Staatsratsmitglieder hinweg und verfügte Ausnahmebeschränkungen gegen den Kredithandel der Juden - eine Maßnahme, die deren Gleichberechtigung de facto rückgängig machte. Im selben Dekret beschloss er, diesmal gegen den Widerstand der katholisch-reaktionären Partei, den Juden eine präzedenzlose staatliche Hilfe bei der Einrichtung ihrer inneren religiösen Autorität zu geben. Dieses ambivalente Ergebnis ist im jüdischen Gedächtnis zugleich als "infames Dekret" und als Beginn einer neuen Ära der Befreiung bewahrt worden.

Für Napoleon bestand darin kein Widerspruch. Beides, die zeitweilige Beschränkung der jüdischen Rechte und die zentrale Organisation, sah er im Dienst eines Ordnungs- und Erziehungsprogramms, das er mit dem Schlagwort der "Wiederherstellung" (régénération) des Judentums benannte. Der Begriff - eine Übersetzung der "bürgerlichen Verbesserung der Juden" des preußischen Beamten Christian Wilhelm Dohm - war doppeldeutig, da die "Verbesserung" sowohl im Staatsrecht als auch in der jüdischen Kultur und Moral ansetzen sollte. Seiner Strategie des kontrollierten Kulturwandels widmete Napoleon erstaunlich viel Aufmerksamkeit, selbst während der kriegerischen Jahre 1806 und 1807. Weder die Feinde noch die Verteidiger der Juden, sondern die Juden selbst wollte er darüber befragen, wie es sein Kanzler Étienne-Denis Pasquier ausdrückte, "ob ihre Religion es ihnen wirklich erlaube, den Rang des Bürgers in einem Land einzunehmen, wo man ihnen solches einräumen will, und ob diese Religion nicht etwa Vorschriften beinhalte, die ihre völlige Unterwerfung unter die Gesetze nicht verhindere oder zumindest sehr erschwere". Dass in diesem Fall ihre Rechte, ja ihre Duldung im Staat in Frage stünden, verstand sich von selbst.

Eine Versammlung "aufgeklärter" jüdischer Notabeln (Würdenträger) aus dem gesamten Empire sollte dem Judentum ein neues Format und den Erziehungsgesetzen des Monarchen den Anschein einer freien Zustimmung geben. Bei der am 26. Juli 1806 in Paris eröffneten Zusammenkunft waren 111 Mitglieder anwesend. Nur 16 von ihnen gehörten dem Rabbinat an; die modernistische Richtung, vertreten vor allem von den portugiesischen Juden, hatte eine klare Mehrheit. Napoleons Regierung befragte die Notabeln zu zwölf Verdachtsmomenten gegen die Integrationsfähigkeit der Juden: Hielten diese nicht an einer separaten göttlichen Rechtsordnung fest, mit besonderem Eherecht und eigener Gerichtsbarkeit? Betrachteten sie nicht Zion als ihr eigentliches Vaterland? Hielten nicht religiöse Vorschriften sie vom brüderlichen Umgang und insbesondere der Ehe mit Franzosen ab? Waren nicht Wucher und Übervorteilung der Nichtjuden talmudisch gestattet? Die Notabeln gaben zwar die suggerierten patriotischen Erklärungen ab, doch ging ihre Haltung nicht bis zur Unterwürfigkeit. Auf diplomatische Weise widerstanden sie dem kaiserlichen Wunsch, sich Mischehen als Weg zur Integration vorschreiben zu lassen. Die polemische Gegenüberstellung von "Juden" und "Franzosen" in den Fragen korrigierten sie, indem sie in ihren Antworten durchweg von jüdischen und christlichen Franzosen sprachen.

Napoleon war sich dessen bewusst, dass die aufgeklärten jüdischen Notabeln keinen Anspruch auf religiöse Autorität erheben konnten. Er unternahm im August eine spektakuläre Maßnahme, als er befahl, den höchsten Gerichtshof der antiken Juden, den Großen Sanhedrin wieder einzuberufen, um das Loyalitätsbekenntnis der Notabeln zu prüfen. Der Sanhedrin wurde im Februar 1807 traditionsgemäß mit 71 Mitgliedern besetzt, von denen die Mehrheit, nämlich 45, Rabbiner waren. Kaum zur Hälfte bestand er aus Abgesandten ursprünglich französischer Regionen, während allein 18 Abgeordnete aus dem annektierten Norditalien stammten und elf aus den Départements, in die das linksrheinische Deutschland aufgeteilt worden war.

Die Vielsprachigkeit der Versammlung unterstrich den historischen Charakter des Gründungsaktes, der seine europaweite Ausstrahlung auf dreierlei Ebenen entfaltete: in symbolischer durch seine sorgfältig inszenierte Ästhetik, in ideologischer durch die am 8. März 1807 verabschiedeten "Lehrbeschlüsse" und in struktureller durch die organisationstechnischen Ergebnisse des Folgejahres. Der bloße Name war bedeutungsschwer. Napoleons Sanhedrin fügt sich in eine Reihe von Versuchen zur Wiederbelebung dieser antiken Institution ein - der bisher letzte vollzieht sich in unseren Jahren in Israel - und musste die Einbildungskraft jedes talmudisch gebildeten Juden herausfordern. Wie erwähnt kam der Gedanke zu diesem Projekt von einem deutschen Juden: Einen Monat vor Napoleons Sanhedrin-Befehl hatte sich der erwähnte Israel Jacobson aus Braunschweig in einem offenen Brief an den Kaiser gewandt und ihm ein Programm unterbreitet, das den deutsch-jüdischen Aufklärern besonders nahe lag: ein Aufbau moderner religiöser Erziehungsinstitutionen. Es solle, so schreibt Jacobson in seinem Brief, "ein souveräner jüdischer Rat mit einem Patriarchen an der Spitze" Reformen der Religion und eine hierarchische Gliederung des Gemeindewesens durchführen.

Zur Idee, den Sanhedrin zu erneuern, hatte sich Jacobson freilich nicht verstiegen. Es gehört zur Ironie des Unterfangens, dass das Gedächtnis des Sanhedrin auch im Christentum stets wach gehalten und mit scharfen, feindseligen Zügen ausgestattet worden war, macht doch das Evangelium eben diesen Sanhedrin, den "Hohen Rat", für die Hinrichtung Jesu verantwortlich. In diesem Geiste hatte der katholische Reaktionär Louis de Bonald noch im Februar 1806 die Juden für politisch nicht integrierbar erklärt: Sollte man ihnen jemals Machtpositionen im Staat einräumen, so würde ihr Sanhedrin Robespierres Schreckensherrschaft an Grausamkeit übertreffen. "Welch eine Herausforderung an Napoleon!", kommentierte der französische Politologe Pierre Birnbaum, welch ein Zweifel an seiner Staatskunst. Napoleon schuf den von den Katholiken so sehr gefürchteten Sanhedrin und ließ gerade ihn die religiöse Einbürgerung der Juden vornehmen.

Auf die symbolischen Details des Geschehens verwendete Napoleon persönliche Mühe. Ein Regiment hatte beim Eintritt der Abgeordneten Spalier zu stehen. Der Trommelwirbel, mit dem es vor den Rabbinern salutierte, hallte noch lange im europäisch-jüdischen Gedächtnis nach: Vertreter einer verachteten Religion glaubten in eine zur Zukunft verklärte Vergangenheit zu schreiten. Ihre feierliche Amtstracht schloss erstmals das weiße Beffchen ein, das Generationen moderner Rabbiner übernehmen sollten. Beinahe unheimlich mutete der "geistliche Hut" an, der dem Vorsitzenden des Sanhedrin verordnet wurde: Der Straßburger Rabbiner Joseph David Sintzheim trug eine Fellmütze, deren seitlich hochgeklappte Spitzen an Hörner erinnern und offensichtlich der Mitra des jüdischen Patriarchen nachempfunden waren, die auf christlichen Sanhedrin-Darstellungen erscheint. Symbolisch war auch der Rahmen der Zusammenkunft: der klassizistische Saal des Rathauses. Die Delegierten des Sanhedrin verhandelten öffentlich, im Halbkreis wie einst im Tempel (vgl. Abbildung 2 der PDF-Version).

Der Große Sanhedrin als europäisches Projekt

In diesen Wochen des Jahres 1807 wurde dem modernen europäischen Judentum eine Tradition erfunden, der die beiden Pariser Versammlungen auch den zentralen politischen Kampfbegriff lieferten. Anstelle des verachteten talmudischen "Juden" bezeichnete nun der ehrwürdige biblische "Israelit" den kulturell angepassten, patriotischen jüdischen Staatsbürger. Wie der Sanhedrin, so kam auch diese Anleihe am biblischen Altertum dem antikisierenden Empirestil entgegen. Durch die Protokolle des Sanhedrin in alle Winkel Europas getragen, hatte der "Israelit" einen durchschlagenden Erfolg bei Juden aller Weltteile und aller religiösen Richtungen. Eine ähnlich schwere Erschütterung war vonnöten, um ihn im 20. Jahrhundert wieder zu verdrängen.

Die "Lehrbeschlüsse" fußten auf den Antworten der Notabeln, fundamentierten sie aber mit religiösen Argumentationen. Die anfängliche Unterteilung zwischen politischen und religiösen Geboten des Judentums hatte Napoleon selbst den Rabbinern in die Feder diktiert; sie selbst allerdings führten diesen Gedanken auf die talmudische Maxime Dina de-malchuta dina zurück, "Das Recht der Obrigkeit gilt als jüdisches Recht". Mit klugen Formulierungen gelang es Sintzheim, zugleich der Halacha (dem biblisch-talmudischen Gesetz) und dem Landesgesetz religiöse Treue auszudrücken. Seine von geradezu messianischem Schwung getragene Kompromissformel über die heikelsten theologisch-politischen Themen stellte sowohl Staatsreformer als auch Rabbiner zufrieden, darunter sogar den gesetzesstrengen Oberrabbiner Moses Sofer in Bratislava, den geistigen Vater der heutigen Ultraorthodoxie.

Napoleon wollte die gelungene Reform des Judentums durch ein künftiges jüdisches Kirchenregiment als eine Rabbinerhierarchie aus großen und kleinen "Sanhedrins" verewigen. Die Notabeln indes entwarfen eine Ordnung, die nach protestantischem Vorbild Rabbiner und Laien gemeinsame geistliche Gremien, Konsistorien, bilden lassen sollte. Der Entwurf ging mit wenigen Änderungen in das Dekret von 1808 ein, der erste Fall, in dem das Staatskirchenrecht die Organisation und Rechte der jüdischen Religionsgemeinschaft als Parallele zur christlichen entwarf. Der Kultus der Juden unterstand einem Zentralkonsistorium und 13 regionalen Konsistorien, von denen sechs in den annektierten deutschen und italienischen Gebieten lagen. Nach demselben Modell entstanden kurz darauf jüdische Konsistorialordnungen in vier Satellitenstaaten des Empire, in Italien, den Niederlanden, dem Königreich Westphalen und dem Großherzogtum Baden. Napoleon hatte gehofft, dass die Beschlüsse des Sanhedrin eine europaweite Reform der jüdischen Religion einleiten würden. Die Proklamation, welche die Notabeln im Oktober 1806 an die Juden ganz Europas richteten, lenkte tatsächlich große Aufmerksamkeit auf die Pariser Versammlungen. Deren Protokolle erschienen unverzüglich in französischer, hebräischer, englischer, deutscher, niederländischer und italienischer Ausgabe. Gemeindedelegationen aus Amsterdam und aus Frankfurt am Main machten dem Sanhedrin ihre Aufwartung; böhmische und ungarische Rabbiner bestärkten Sintzheim.

Wenngleich sich nur wenige, sehr konservative Rabbiner der neuen Erziehungsaufgabe entzogen, hatten doch die hohen Kosten der Konsistorien, in Westphalen auch einzelne liturgische Reformversuche, dem neuen Reglement manche Gegnerschaft eingetragen. Das napoleonische Konsistorialregime überlebte außer im französischen Kernland nur in Baden sowie in der preußischen Rheinprovinz, in der die neuen Berliner Machthaber die Konsistorien "im Interesse des Staats, und in dem der Veredlung und des moralischen Fortschreitens der Israeliten" bis 1847 bewahrten. Aussagekräftig für den Erfolg des jüdischen Staatskirchentums napoleonischer Prägung ist der Umstand, dass es noch während der 1830er Jahre in Belgien, Württemberg und Mecklenburg eingeführt wurde, zumeist mit dem Auftrag, Rabbinat, Kultus und Schule durchgreifend zu modernisieren.

Zu ihrer Vollendung kam die kirchenrechtliche Gleichstellung der jüdischen Religion erstmals im Jahr 1831 in Frankreich, das nun Rabbinern und Rabbinerseminar staatliche Finanzierung gewährte. Eine straff hierarchische Zentralisierung und ein ideologischer Konsens waren die Bedingungen für den Genuss dieser staatlichen Rechte. In den Niederlanden, in denen ein "Säulensystem" die Bildungs- und Sozialarbeit der verschiedenen Glaubensgemeinschaften fördert, einigten sich die jüdischen Gemeinden 1870 auf eine "Kirchengemeinschaft".

Das französische Judentum zeichnete sich mit den Worten von Jay Berkovitz durch eine "an Obsession grenzende Bestrebung nach Einheit" aus. Frankreich stand in dieser Hinsicht in scharfem Kontrast mit den meisten anderen Staaten Europas. Preußen zum Beispiel erkannte zwar die Gemeinden als öffentlich-rechtliche Korporationen an, behandelte aber die Rabbiner als Angestellte nach privatem Recht. Dieses Defizit an öffentlicher Anerkennung für die jüdische Religion führte zu vielen Nachteilen: ihre Abwesenheit aus dem öffentlichen Leben, innere Konflikte um die Reformfrage sowie Schwierigkeiten bei der Versorgung ärmerer Gemeinden, der Gründung theologischer Ausbildungsstätten, der eigenständigen Verwaltung jüdischer Schulen und der Erteilung von Religionsunterricht an öffentlichen.

Legion sind daher die publizierten Wunschträume mitteleuropäischer Juden zu einer Zentralisierung ihrer religiösen Angelegenheiten nach französischer Art. Detailverliebte Pläne zu preußisch-jüdischen Konsistorialordnungen veröffentlichten Modernisten wie Leopold Zunz 1819 oder Ludwig Philippson 1842. Besonders zahlreich waren solche Pläne in Bayern; sie fanden ihre Verfasser unter den Staatsreformern und bei fortschrittlicheren Vertretern der Orthodoxie. Der pfälzische Reformrabbiner Elias Grünebaum plädierte 1843 sogar dafür, "ein Sanhedrin von wissenschaftlich gebildeten Rabbinern durch Einverständniß der deutschen Regierungen" einzuberufen und die Juden ganz Deutschlands in Konsistorialbezirke einzuteilen. Den Vorschlag zu den deutschen Rabbinerversammlungen der Jahre 1844 bis 1846 machte der Gießener Rabbiner Benedikt Levi im Geiste des Sanhedrin, an dem sein Vater teilgenommen hatte. Bei der ersten dieser Versammlungen wollte Philippson die Sanhedrin-Beschlüsse als Diskussionsbasis anerkannt wissen. Er sah in ihnen den perfekten Ausgleich zwischen der Religionsfreiheit und dem legitimen Anspruch des Staates, der "von allen Religionsgesellschaften, die in seinem Schooße bestehen, Garantien haben muß, daß sie keine antisocialen Grundsätze und Tendenzen haben".

Gegner der Einigungsoption gab es vor allem auf den Flügeln des religiösen Spektrums. Nach der liberalen Revolution in Österreich-Ungarn, als 1851 eine Notabelnversammlung der böhmischen Juden in Prag einberufen wurde, sprachen sich die meisten Delegierten scharf gegen die vorgeschlagene Kultusordnung aus, denn "die Judenschaft habe sich jahrtausendelang die Dezentralisierung gewahrt, daher seien sie entschieden gegen ein Zentralorgan, ein Ungeheuer, aus dessen Haut sich ein Wolf entpuppen und die Krallen zeigen könne, den religiösen Zwang, die schädliche Hierarchie". Aus freier Entscheidung verzichteten sowohl die böhmischen als auch die ungarischen Juden auf eine übergemeindliche Instanz.

Zwischen Anerkennung und Diskriminierung

Die Leistung der französischen Konsistorien war die Institutionalisierung der jüdischen Präsenz im Staat; sie signalisierten dem Staat die Loyalität der jüdischen Gemeinden und diesen Rechtssicherheit und öffentliche Anerkennung. Die Reformerwartungen, die das System ins Leben gerufen hatten, wurden allerdings nicht bestätigt; die aus heutiger Sicht oft erhobene Beschuldigung übermäßiger Angepasstheit ist im europäischen Vergleich wenig gerechtfertigt. Weil sie intern Kompromisse vertreten mussten und nach außen politische Macht genossen, verfolgten die Konsistorien im Allgemeinen einen konservativeren Kurs als die mitteleuropäischen jüdischen Vertretungen. Während das französische Judentum durch politische Organe agieren konnte, war das mitteleuropäische in seiner mangelnden öffentlichen Akzeptanz zur wissenschaftlich-theologischen Selbstdarstellung genötigt, was die Aufspaltung nach Religionsparteien unvermeidlich machte.

Im 20. Jahrhundert tauschten beide Systeme gewissermaßen ihre Plätze. Auf der einen Seite verloren mit der Trennung von Kirche und Staat in Frankreich 1905 auch die Konsistorien ihren Status als Staatsorgane: Ein säkularer Dachverband inner- wie außergemeindlicher jüdischer Organisationen verschiedener ideologischer Ausrichtung, der Conseil Représentatif des Institutions Juives en France (CRIF), bestimmt heute die politische Selbstdarstellung der französischen Juden. Ähnlich pluralistisch hat sich die jüdische Gemeinschaft Russlands, die zweitgrößte Europas, nach dem Ende des Sowjetstaates organisiert. Auf der anderen Seite bürgerte sich in Deutschland die Förderung jüdischer Institutionen in der Weimarer Republik ein. An die paradoxe Beziehung zwischen kollektiver Anerkennung und kollektiver Diskriminierung gemahnt die Einrichtung jüdischer Korporationen durch die faschistischen Regime. Die öffentlich-rechtliche Institutionalisierung der jüdischen Gemeinden Italiens 1930 und der Zwangszusammenschluss der deutschen Juden in einer "Reichsvertretung" von 1933 bis 1943 bedeuteten alles andere als eine kollektive Emanzipation, sondern sollten wie in der vormodernen Zeit die rechtliche Benachteiligung und rassistische Verfolgung verwaltbar machen. Gerade diese Institutionen wurden aber zu Betätigungsfeldern einer jüdischen Solidarität, die auch in der Nachkriegszeit zur Einheit rief. In Ländern mit Konkordatsregime kam die politische Repräsentanz durch nationale Dachverbände von Ortsgemeinden zustande. Die Union der jüdischen Gemeinden Italiens und der 1950 gegründete Zentralrat der Juden in Deutschland haben die öffentlich-rechtliche Anerkennung des Judentums durch Staatsverträge besiegeln können. Das Vordringen liberaler bzw. ultraorthodoxer Kultusvereine machte seither verschiedene Formen des institutionalisierten Pluralismus notwendig.

So lebt das Paradigma jüdischer Einheitsorganisation nicht mehr im französischen Kernland, sondern in Elsass-Lothringen, Deutschland, Österreich und Italien fort. Sogar die alte deutsch-jüdische Hoffnung auf eine theologische Fakultät erfüllte sich 1979 in Gestalt der Hochschule für jüdische Studien. Dass sich diese Institution gerade in Heidelberg befindet, ist indirekt Napoleon zu verdanken, denn ihre Gründung wurde nicht zuletzt angeregt durch den Oberrat der Israeliten Badens, die einzige Institution aus der Empire-Zeit, die im deutschen Judentum fortbesteht.

Die drei europäischen Alternativen der Religionspolitik - die britische Staatskirche, die französische Trennung und das deutsch-italienische Konkordat - haben in der Praxis zu durchaus ähnlichen Ergebnissen geführt. Alle europäischen Staaten erkennen Glaubensgemeinschaften als politisch-gesellschaftliche Akteure an und fördern sie materiell; sie alle bevorzugen Religionen mit zentraler Organisation, benachteiligen also gerade die am stärksten anwachsende Religion Europas, den Islam.

Die langwierigen jüdischen Einigungsbemühungen besitzen daher eine gewisse Aktualität für die gegenwärtigen Versuche zur Begründung eines europäischen Islam. Die Lehre des Sanhedrin wird dabei unterschiedlich beurteilt: Während der Brüsseler Religionswissenschaftler Jean-Philippe Schreiber aus den belgisch-jüdischen Erfahrungen den Schluss zog, dass das konsistoriale Paradigma die innergemeindliche Macht zugunsten der dogmatisch-orthodoxen Minderheit verschiebe, behauptete Dan Diner, die jüdische Erfahrung von 1807 weise dem europäischen Islam den "Weg zu einer nicht-sakralen Weltdeutung". Aber die Mitglieder des Sanhedrin waren Rabbiner von anerkannter Orthodoxie; auf dem Boden der Halacha entwarfen sie den neuen politischen Standort des Judentums. Ihre Leistung lag nicht etwa in der "Preisgabe halachischer Maßgaben", sondern in der Anerkennung eines durch den modernen Rechtsstaat geschaffenen Faktums und in dessen Verinnerlichung in der eigenen Symbolik, Religionsphilosophie, Geschichtstheologie und Gemeindeorganisation.

Hierin trifft sich das Vorgehen von 1807 mit einer Tendenz heutiger Politik, die sich vom einstigen multikulturellem zu einem integrativen Modell bewegt, und die bei der Arbeit an der religion civile, den gemeinsamen Kernwerten der Gesellschaft, die Religionen - alle Religionen - einbezieht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Text beruht auf einem Vortrag auf dem Steinheim-Kolloquium 2007: "Zweierlei Integration: Vom Großen Sanhedrin zur Deutschen Islamkonferenz, 1807 - 2007".

  2. Zit. nach: Pierre Birnbaum, L' Aigle et la Synagogue. Napoléon, les Juifs et l'État, Paris 2007, S. 55.

  3. Vgl. ebd., S. 83 - 85.

  4. Lilly Marcou, Napoléon face aux juifs, Paris 2006, S. 57.

  5. Vgl. P. Birnbaum (Anm. 1), S. 100 - 101.

  6. Vgl. René Gutman (Hrsg.), Le Document fondateur du judaïsme français. Les décisions doctrinales du Grand Sanhédrin 1806 - 1807, Straßburg 2000, S. 20 - 21.

  7. Jay R. Berkovitz, The Shaping of Jewish Identity in Nineteenth-Century France, Detroit 1989, S. 16.

  8. Elias Grünebaum, Zustände und Kämpfe der Juden, Mannheim 1843, S. 35.

  9. Vgl. Protocolle der ersten Rabbiner-Versammlung abgehalten zu Braunschweig, Braunschweig 1844, S. 19ff., zit. S. 94.

  10. Frantisek Roubík, Die Verhandlungen über die Regelung der jüdischen Kultus- und Schulverhältnisse in Böhmen im Jahre 1850, in: Jahrbuch der Gesellschaft für Geschichte der Juden in der Cechoslowakischen Republik, 7 (1935), S. 349.

  11. Vgl. Phyllis Cohen Albert, The Modernization of French Jewry. Consistory and Community in the Nineteenth Century, Hanover, N.H. 1977, S. 313f.

  12. Dan Diner, Die Moschee muss sich unterordnen. Was der Islam von den historischen Erfahrungen des Judentums im Westen lernen kann, in: Die Welt vom 30.6. 2007.

Dr. phil., geb. 1962; bis 2007 Lehrstuhlvertreter im Fach Jüdische Studien an der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen, Geibelstraße 41, 47057 Duisburg.
E-Mail: E-Mail Link: wil@steinheim-institut.org