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Afghanistan unter dem Terror der Taliban | Afghanistan und Pakistan | bpb.de

Afghanistan und Pakistan Editorial Lokale Macht- und Gewaltstrukturen in Afghanistan Nation-building in Afghanistan Afghanistan unter dem Terror der Taliban Pakistan zwischen Demokratisierung und "Talibanisierung" Außenpolitik Pakistans zwischen Kaschmir und Afghanistan Hintergründe des anhaltenden indisch-pakistanischen Dialogs

Afghanistan unter dem Terror der Taliban

Babak Khalatbari

/ 16 Minuten zu lesen

Die politische Lage in Afghanistan wird in Zukunft nicht einfacher werden. Die Talibanstrategie des "Zerstören und Morden" erzeugt größere Aufmerksamkeit und mehr Schlagzeilen als das "Wiederaufbau und Ausbildungskonzept" des Westens.

Einleitung

Die politische Lage in Afghanistan wird in nächster Zukunft nicht einfacher werden. Das Land steht in in den kommenden Monaten und Jahren vor anspruchsvollen Aufgaben und ist mit großen Hindernissen konfrontiert. Die Talibanstrategie des "Zerstörens und Mordens" erzeugt im gegenwärtigen Entwicklungsprozess größere Aufmerksamkeit und mehr Schlagzeilen als das "Wiederaufbau und Ausbildungskonzept" des Westens.



Rund sechs Jahre nach dem Sturz der Talibanbewegung ist die Lage in Afghanistan alles andere als rosig. Das Land scheint in einen einigermaßen sicheren Norden, instabilen Osten, kriegerischen Süden und trügerischen Westen zerrissen zu sein. Auch die bisherige Strategie und Wirkung der internationalen Aufbauhilfe wird immer öfter kritisiert. Sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart hatte und hat Deutschland ein starkes Interesse an der Stabilisierung Afghanistans gezeigt. Die ersten Anfänge der deutsch-afghanischen Beziehungen reichen weit bis ins 19. Jahrhundert zurück

Interner Machtkampf

Alleine im Jahr 2006 fanden in Afghanistan über 120 Selbstmordanschläge statt, und tausende Zivilisten verloren bei militärischen Auseinandersetzungen ihr Leben. Diese besorgniserregende Entwicklung beunruhigt nicht nur Politiker und Militärs, sondern auch die afghanische Geistlichkeit. Seit mehreren Jahren setzen sich aus diesem Grund auch moderate Mullahs kritisch mit der Ideologie des Selbstmordattentates auseinander, so auch der Islamgelehrte Maulawi Khumaro. Viele Mullahs und Imame denken in Afghanistan wie dieser Theologe, trauen sich aber nicht mehr, offiziell Stellung zu beziehen. Denn obzwar es Meinungsfreiheit gibt, können mittlerweile derartige Äußerungen nicht nur für die Person, die sie äußert, sondern auch für ihr ganzes Umfeld lebensgefährlich sein. Nur noch wenige islamische Theologen von Rang und Namen trauen sich, offen gegen die selbsternannten Prediger der Selbstmordideologie anzugehen. Zu viele aus ihren Reihen mussten für ihre moderaten Ansichten mit dem Leben bezahlen. Im Herbst des vergangenen Jahres überlebte der angesehene Imam der Zentralmoschee von Herat, Hebatullah Fazeli, nur knapp einen Suizidanschlag; er wurde bei diesem Attentat schwer verletzt. Sein "Vergehen" bestand darin, einige Wochen zuvor im Rahmen einer Freitagspredigt in der im 12. Jahrhundert erbauten Freitagsmoschee, der bekannten Masjid-e-Jami, das Selbstmordattentat als unislamisch verurteilt zu haben. Bei dem Anschlag verlor er ein Bein. Die Tragödie ist leider kein Einzelfall: Bis August 2007 wurden über 35 Islamgelehrte in Afghanistan von Extremisten getötet. Ähnlich ergeht es mittlerweile auch moderaten Journalisten, wie die Verleumdungskampagnen und Morde in den letzten Monaten gezeigt haben. Das Spannungsverhältnis zwischen Meinungs- und Pressefreiheit sowie demokratischen Grundrechten auf der einen und der radikalen Auslegung des Qurans auf der anderen Seite hat dazu beigetragen, dass der medienpolitische Konflikt in Afghanistan seit 2005 immer stärker eskaliert ist.

Der Terror der Taliban

Die terroristische Taktik hinter der massiven Einschüchterung zielt darauf ab, dass kaum noch jemand wagt, sich den Auffassungen der theologisch meist nicht sonderlich ausgebildeten Masterminds der Taliban zu widersetzen. Die fundamentalistischen Extremisten scheinen dieses Jahr mit ihrer Guerilla-Taktik nicht nur NATO und ISAF die Stirn zu bieten, sondern auch mit der intensiven Verbreitung von Angst und Schrecken im Wettstreit um die Interpretationshoheit über den Islam letztendlich die moderaten Kräfte durch Gewalt zur Kapitulation zu zwingen. Niedergeschlagenheit scheint sich teilweise unter den afghanischen Gelehrten breit zu machen, und selbst Akademiker, die an der bekannten Al-Azhar-Universität in Kairo studiert und promoviert haben, trauen sich mittlerweile in ihren Freitagspredigten nicht mehr an die "heißen Eisen" heran. Und die Frage nach der Vereinbarkeit der Islamischen Lehre mit der Ideologie des Selbstmordattentates ist ein Thema, mit dem die Taliban versuchen, ihre Gegner für immer zum Schweigen zu bringen.

Dem Zusammenspiel von Sicherheits- und Entwicklungspolitik wird in Afghanistan nicht ohne Grund ein großer Stellenwert beigemessen, denn langfristig wird das eine ohne das andere keinen Bestand haben. Die Vorkommnisse der vergangenen Wochen und Monate zeigen, dass zu dieser Gleichung noch eine dritte Variable hinzukommen könnte, nämlich die der gesellschaftlich-religiösen Identität. Solange das vorhandene Spannungsverhältnis zwischen Modernität und Tradition in Afghanistan nicht angegangen und in diesem Kontext das Thema Religion nicht gesellschaftspolitisch stärker miteingebunden wird, werden die Extremisten jeden Tag mehr Macht erlangen und letzten Endes vielleicht sogar den längeren Atem haben. Das Durchtrennen dieses gordischen Knotens sollte oberste Priorität genießen und alsbald angegangen werden, da sonst die Gefahr droht, dass extremistische Islamisten das Land am Hindukusch und den Islam ein zweites Mal zur Geisel nehmen könnten. Und das würde auch für die Bundesrepublik in Form ihrer Einbindung in die ISAF-Mission politische wie sicherheitspolitische Folgen haben.

Der schleichende Feldzug der Talibanbewegung zur zeitweisen Rückeroberung mancher Regionen startet in den Köpfen der Einwohner auf dem Land. Gegenwärtig beginnt die geistige Unterwanderung auch die Städte zu erreichen, mit den Mitteln des Zwanges, der Einschüchterung, aber auch mancherorts der Sympathie. Die derzeitige Angriffsstrategie der Taliban kalkuliert kühl zivile Opfer ein. Gezielt werden Bombenanschläge und Angriffe so genutzt, dass bei den Verbänden der International Security Assistance Force (ISAF) und der Operation Enduring Freedom (OEF) aus Sicherheitsgründen immer größere Distanz zu afghanischen Zivilisten gesucht werden muss. Die Taktik der militanten Oppositionskräfte, sich nach Angriffen in bewohnte Gebiete zurückzuziehen, um dann die Zivilbevölkerung zum eigenen Schutz zu missbrauchen, wird die internationalen Schutztruppen auf absehbare Zeit vor ein schwieriges Problem stellen, ebenso der einseitige Propagandakrieg mit den zivilen Opferzahlen. Für das weitere Vertrauensverhältnis zwischen der afghanischen und internationalen Seite ist es wichtig, sich aktiv für die unbedingte Verminderung von "Kollateralschäden" einzusetzen.

Der feige Anschlag auf Angehörige einer deutschen Bundeswehrpatrouille im Juni dieses Jahres in Kunduz, bei dem nicht nur drei Deutsche umkamen, sondern dem auch zahlreiche afghanische Zivilisten zum Opfer fielen, sowie die Entführungen der letzten Zeit haben die skrupellose Taktik der Talibanbewegung demonstriert. Auch der Bombenanschlag auf eine deutsche Fahrzeugkolonne bei Kabul im August 2007, bei dem drei deutsche Polizisten getötet wurden, belegt die neue Terrorstrategie: zuschlagen, wann immer sich die Möglichkeit bietet. Neben der Einschüchterungstaktik scheint die Talibanbewegung ebenfalls durch die Anti-Drogenpolitik in Afghanistan zu erstarken, da sie sich auf Grund der Vorgehensweise des afghanischen Staates und der internationalen Gemeinschaft gegen den Mohnanbau der Loyalität vieler Drogenbarone gewiss sein kann.

Rückblick 2001 bis 2007

Wie konnte die Talibanbewegung wieder erstarken, und warum erfährt sie in manchen Landesteilen Afghanistans Unterstützung? Um die derzeitige Situation bewerten zu können, bietet sich ein Blick in die Vergangenheit an. Politisch wie militärisch formierte sich die Talibanbewegung im Jahr 1993 und griff ab 1995 massiv in die Auseinandersetzungen in Afghanistan ein. Den Großteil ihrer Kämpfer rekrutierte die Bewegung aus den Koranschulen (madrassas) entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze, mit deren Hilfe sie die Hauptstadt Kabul im September 1996 einnahm und im Folgejahr bis auf einige Teile im Nordosten ganz Afghanistan kontrollierte. Das Land wurde von ihnen in "Islamisches Emirat Afghanistan" umbenannt, das nur von Pakistan, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten diplomatisch anerkannt wurde. Aus religiösen Gründen wurden Musik, Sport, Bilder und Fernsehen verboten, der größte Teil der Schulen und Universitäten geschlossen. Männer mussten sich Bärte wachsen lassen, und Frauen durften nur mit männlicher Begleitung und in Ganzkörperverschleierung (burqa) das Haus verlassen.

Schon im Jahr 1999 wurde den Taliban die Kooperation mit der Terrororganisation al-Qaida unterstellt. Kurz nach den Anschlägen des 11. September 2001 begann am 7. Oktober 2001 die Bombardierung Afghanistans, rasch folgte die Bodenoffensive amerikanischer Truppen in Kooperation mit den Milizen der Nordallianz. Die Talibanbewegung und ihre Anhänger verloren innerhalb weniger Wochen im ganzen Land ihren Rückhalt und wurden schließlich am 13. November 2001 aus Kabul vertrieben. Der Weg zu einer politischen Neuordnung des Landes schien bereitet. Die so genannte Nordallianz hatte in der ersten Jahreshälfte 2001 zwischen fünf und zehn Prozent des Landes im Nordosten, im Wesentlichen in der Provinz Badakshan, unter ihrer Kontrolle. Mit der Ermordung von Ahmad Shah Massud am 9. September 2001 durch ein Sprengstoffattentat schien das Schicksal der Nordallianz besiegelt zu sein. Rückblickend muss daher der Vormarsch der Nordallianz gegen Kabul als ein Zugeständnis der USA angesehen werden, da diese in der Nordallianz einen natürlichen Verbündeten im Kampf gegen die Taliban sahen. Das Vorhaben der Vereinten Nationen, Kabul als de- oder entmilitarisierte Zone zu erhalten, war zum Scheitern verurteilt, als der Nordallianz von den USA gestattet wurde, die Hauptstadt zu besetzen, und über Nacht rund 5 000 Taliban anscheinend spurlos verschwanden. Ethnisch wie politisch wurde damit den Nachkriegsverhandlungen entscheidender Boden entzogen. Erstmals in der Geschichte Afghanistans sahen sich die tadschikischen Führer in der Lage, die historisch gewachsene paschtunische Dominanz zu brechen. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde der Versuch unterlassen, verhandlungsbereite, moderate Vertreter der Talibanbewegung in den politischen Prozess einzubeziehen und so die Bewegung aufzubrechen und zu schwächen. Da in den paschtunischen Gebieten südlich von Kabul die Bevölkerung weitgehend von den Taliban entwaffnet wurde, hatten die Tadschiken es relativ einfach, entlang der Fernverkehrsstraßen nach Süden vorzustoßen und den angrenzenden Gebieten ihr Regime aufzuzwingen. Mit dem parallel dazu verlaufenden Prozess der Stigmatisierung der Paschtunen als Taliban wurden auch die traditionellen Stammeseliten vom politischen Prozess ausgeschlossen. Eine erste Folge dessen war die absolute Unterrepräsentanz paschtunischer Vertreter bei den Bonner Verhandlungen auf dem Petersberg. Dieser Sachverhalt führte zu anhaltenden Spannungen, die die Karzai-Regierung dazu zwangen, mit hohem zeitlichen wie finanziellen Aufwand ethnisch ausgleichende Kompromisse zu suchen. Nicht zuletzt diese Auseinandersetzungen liefern der Talibanbewegung zunehmend Nährboden im Süden und Südosten Afghanistans.

Da die afghanische Regierung wegen der grassierenden Korruption und der Nichterfüllung vieler Versprechen in den Augen der Bevölkerung ihre Legitimität weitgehend verloren hatte, wenden sich seit Anfang 2006 viele einstige Anhänger den Oppositionskräften zu. Seit Mai 2006 erfolgt zudem eine Zunahme der Anschläge und Selbstmordattentate, die Verfestigung der nichtstaatlichen Gewaltmonopole sowie eine Zunahme der Opium- (Süden) und Cannabisproduktion (Norden). Die Feststellung, dass die Medien über den Irak zu schlecht und über Afghanistan zu gut berichten, scheint seitdem in doppelter Hinsicht nicht mehr zuzutreffen. Seit Anfang 2007 erfolgt eine Zunahme der militärischen Operationen mit hohen zivilen Opfern. Der Legitimitäts- und Loyalitätsverlust der Regierung nimmt weiter zu, was unter anderem zu einer Formierung der politischen Opposition in Form der National United Front unter dem Vorsitz Burhanuddin Rabbanis im März 2007 führte. Die Korruption erscheint immer mehr als allmächtiger Krake, zudem ist der Versuch eines ethnischen Ausgleichs in der Regierung Karzai gescheitert. Während das paschtunische Lager weiterhin eine Verstärkung seiner Präsenz im Machtgefüge fordert, deuten Gerüchte über mögliche Kabinettsveränderungen auf das Bestreben tadschikischer Führungspersönlichkeiten hin, verlorene Machtposition möglichst noch 2007 wieder zu erlangen. Innenpolitisch zeichnet sich ein Machtkampf zwischen moderaten und islamistischen Kräften ab. Das internationale Afghanistan-Engagement wird durch diese Entwicklung und den sich nur langsam vollziehenden Wiederaufbauprozess, der in den Medien nicht die notwendige Berücksichtigung erfährt, sowie den hohen Blutzoll der entsandten Soldaten, Polizisten und Entwicklungshelfer in vielen europäischen Ländern und Kanada mittlerweile von unterschiedlich großen Bevölkerungsteilen in Frage gestellt.

Die Mandate und ihre Bedeutung

Auf der deutschen Seite konzentriert sich die Diskussion auf den Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch um die folgenden drei Mandate und die jeweiligen Optionen einer Verlängerung oder Nichtverlängerung: OEF, ISAF und den Tornadoeinsatz.

Die Grundlage der von den USA geführten Mission Operation Enduring Freedom (OEF) sind die Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (VN) sowie Artikel 51 der VN-Charta und Artikel 5 des NATO-Vertrages zu gegenseitigem Beistand. Es beteiligen sich 20 Nationen mit Beiträgen zur OEF, davon 17 in Afghanistan. Der Deutsche Bundestag beschloss die Beteiligung an der OEF erstmals am 16. November 2001. Derzeit umfasst das Mandat die Bereithaltung von 25 Sanitätskräften, 100 KSK-Soldaten sowie Seestreitkräfte im Einsatz am Horn von Afrika. Auch weiterhin befindet man sich in Afghanistan sowie in vielen anderen Staaten im Kampf gegen den Terror. Die US-geführte OEF wird aus diesem Grund so lange benötigt, bis die Urheber der Anschläge von 9/11 festgesetzt werden können und die generelle Terrorbedrohung neutralisiert ist. Ein Ausscheren Deutschlands aus dem OEF-Mandat ist ohne politischen Flurschaden nicht denkbar. Die zu erwartende Folge wäre eine erneute transatlantische Verstimmung und ein Vertrauensverlust bei Bündnispartnern innerhalb der NATO. Zusätzlich könnten bei der Nichtverlängerung des OEF-Mandats deutsche ISAF-Truppen für Operationen im Süden Afghanistans angefordert werden. Man sollte bei der Mandatsentscheidung zwischen Kosten und Nutzen abwägen und sich auf die Stärken der Bundeswehr im Norden besinnen. Eine nicht mehr gewährleistete Trennung von Kampfeinsätzen gegen Terroristen im Süden und die zivil-militärische Wiederaufbaumission im Norden des Landes könnte durch eine Nichtverlängerung des OEF-Mandats zum einen bei vielen Afghanen auf Unverständnis stoßen und zum anderen den Deutschland-Bonus am Hindukusch weiter reduzieren.

Die Grundlage für das Entstehen der ISAF basiert auf der Bonner Vereinbarung über den Wiederaufbau Afghanistans vom Dezember 2001. Relativ zeitnah, am 20. Dezember 2001, beschloss der VN-Sicherheitsrat die Aufstellung einer solchen Truppe, und am Tag darauf beschloss der Deutsche Bundestag erstmals die Beteiligung deutscher Streitkräfte an dieser von der VN mandatierten Mission. Die 37 teilnehmenden Staaten sind von den VN ermächtigt worden, alle zur Erfüllung ihres Mandats notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Damit können im Ernstfall auch Kampfeinsätze gegen militante oder kriminelle Gegner der ISAF-Schutztruppe gemeint sein. Die ISAF besteht aus rund 36.000 Soldaten, aus Deutschland stammen ca. 3.000. ISAF kann als das stabilisierende Rückgrat des fragilen afghanischen Staates beschrieben werden. Sollten kurz- bis mittelfristig die ISAF-Truppen abgezogen werden, droht mit großer Wahrscheinlichkeit das afghanische Staatswesen zusammenzubrechen. Dies hätte verheerende Folgen nicht nur für die Bevölkerung und für die gesamte Region, sondern auch für die Zielregionen des internationalen islamistischen Terrors, speziell die USA und Europa. Das Signal, das durch eine ausbleibende Mandatsverlängerung 2007, 2008 oder später entstünde, würde sicherlich den Radikalislamisten zusätzlich "politische Morgenluft und neue Antriebskraft" verschaffen, ganz abgesehen von der bündnispolitischen Blamage. Deutschland wird international wie in Afghanistan durch sein außenpolitisches Auftreten unter Bundeskanzlerin Angela Merkel als starker Partner wahrgenommen. Zudem hat sich die Bundeswehr bislang im Norden Afghanistans durch ihren zivil-militärischen Ansatz profiliert. Zu guter Letzt darf nicht vergessen werden, dass Deutschland nach den USA und Großbritannien der drittgrößte ISAF-Truppensteller ist. Die Nichtverlängerung des ISAF-Mandats durch den deutschen Bundestag könnte somit für ISAF den Anfang vom Ende darstellen.

Ferner sind seit dem 15. April 2007 Tornado-Aufklärungsjets der Bundeswehr in Afghanistan im Einsatz. An direkten Kampfhandlungen sind die sechs Maschinen allerdings nicht beteiligt. Das Bundestagsmandat für ISAF und den Tornadoeinsatz ist bis zum 13. Oktober 2007 befristet. Folglich steht die Verlängerung des deutschen Mandats für die Internationale Schutztruppe ISAF, Tornado und OEF im Herbst an. Die NATO beantragte kürzlich bei der Bundesregierung die Verlängerung des Tornado-Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan. Wegen der veränderten Sicherheitslage adressierten 22 Mitglieder des amerikanischen Senats in einem Schreiben an NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer die Botschaft, dass die Lasten des Einsatzes in Afghanistan gleichmäßiger unter den NATO-Mitgliedern zu verteilen seien.

Bewertung

Auch der deutsche Einsatz hilft den Menschen in Afghanistan bei der schrittweisen Verwirklichung einer lebenswerten Zukunft. Trotzdem sind noch lange nicht alle Ziele erreicht. Obwohl in vielen Feldern Beachtliches geleistet wurde, werden die afghanische Gesellschaft und mit ihr die internationale Gemeinschaft in Zukunft noch vor gewaltigen Herausforderungen stehen. Zum einen, weil sich die Sicherheitslage in Afghanistan speziell im Süden und Osten verschlechtert hat, und zum anderen, weil die vor sechs Jahren geweckten Erwartungen auf internationaler und afghanischer Seite teilweise zu ambitioniert und daher unrealistisch erscheinen. Zur Stabilisierung des Landes benötigt man mehr Zeit und weitere Ressourcen, denn wenn man sich mit der Topographie Afghanistans, der Historie des Landes, der Ethnizität, den ungelösten Grenzstreitigkeiten mit angrenzenden Nachbarstaaten, der Drogenökonomie und dem Wirken der Talibanbewegung auseinandersetzt, wird deutlich, dass es für ein Land wie Afghanistan keine einfache Lösung für die vielfältigen Probleme geben kann. Bei den im Oktober 2007 anstehenden Entscheidungen sollte trotz der verschiedenen politischen Auffassungen von allen Entscheidungsträgern bedacht werden, dass die Bemühungen um den Wiederaufbau und die Demokratisierung Afghanistans bei einem verringerten oder gar ausbleibenden Engagement vergebens gewesen sein könnten. Deutsche Soldaten, Diplomaten und Entwicklungshelfer würden dann vor den Trümmern ihrer langjährigen Arbeit stehen. Zudem würde ein Rückzug einerseits Afghanistan in eine humanitäre Katastrophe stürzen und andererseits die NATO vor eine Zerreißprobe stellen.

In der Abbildung (Vgl. Abb. in der PDF-Version) ist die nationalstaatliche Entwicklung Afghanistans der vergangenen Jahre graphisch dargestellt. Nach der internationalen Isolierung während der Talibanherrschaft kehrte Afghanistan nach dem Sturz der Taliban gegen Ende 2001 in die internationale Staatengemeinschaft zurück. Im Jahr 2004 setzte die erste Intervallbewegung ein, da bei der Verfassungsgebung der afghanische Staat - wie übrigens viele arabischen Staaten auch - das Spannungsverhältnis zwischen Islam und Demokratie nicht genügend berücksichtigte. Seit den Parlamentswahlen im Jahr 2005 sind regelmäßige Intervallbewegungen in Afghanistan zu erkennen, bei denen die Monate April bis Oktober in der Regel die Krisenmonate sind. Während dieser Zeit erfolgen einerseits die Mohnernte und andererseits die militärischen und terroristischen Aktionen der Aufstandsbewegung, die oftmals direkt oder indirekt durch den Opiumerlös finanziert werden. In den Monaten November bis März kehrte indes in den vergangenen drei Jahren auf Grund der harten Klimabedingungen eine Art Ruhephase in, die für Partisanenkriege eigentlich recht typisch ist. Diese beschriebene Intervallbewegung wird zusätzlich durch einen negativen Abwärtstrend ergänzt, der seit Herbst 2005 kontinuierlich weiter zunimmt. Die Authentizität und politische Wahrnehmung der Regierung wird bei gleich bleibender Performance irgendwann beim afghanischen Volk für Unverständnis sorgen, da immer größere Teile der Bevölkerung die Regierung für die schlechte Regierungsführung, den Auswuchs der Drogenökonomie, die ausufernde Korruption und den zu langsam erscheinenden Wiederaufbau verantwortlich machen. Auch werden gegenwärtig die wichtigen Themen der afghanischen Innenpolitik, die sich größtenteils um Armutsreduzierung und Arbeitslosigkeit drehen, nicht genügend berücksichtigt.

Erfolgsmeldungen aus Afghanistan

Neben Entwicklungshemmnissen und -gefahren gibt es auch Erfolge aus Afghanistan zu berichten. Dies ist notwendig, da das internationale Engagement nach rund sechs Jahren die ersten Früchte trägt. So hat sich beispielsweise das legale Pro-Kopf-Einkommen in Afghanistan (335 US-Dollar) seit 2001 fast verdreifacht, das Wirtschaftswachstum liegt seit mehreren Jahren im zweistelligen Bereich und wird für 2006/2007 auf rund 14 Prozent geschätzt, und die afghanische Regierung konnte die eigenen Einnahmen von 275 Mio. US-Dollar in 2005 auf 715 Mio. im Jahr 2006 erhöhen. Des Weiteren haben 50 Prozent der schulpflichtigen Kinder Zugang zu Schuleinrichtungen, im Jahr 2002 waren es nur 22 Prozent. Seit 2001 wurden in Afghanistan insgesamt rund 3 500 Schulen gebaut, alleine 300 von der Bundesrepublik. Durch diese Hilfe hat sich die Zahl der Schülerinnen und Schüler auf ca. 6,5 Millionen, rund zwei Drittel sind davon Mädchen, erhöhen können. Zusätzlich wurden 30 000 Lehrerinnen und Lehrer aus- und fortgebildet. Ähnlich sieht es mit der medizinischen Grundversorgung aus, denn gegenwärtig verfügen ca. 80 Prozent der Bevölkerung über geregelten Zugang zu ihr. Durch die sich verbessernden Rahmenbedingungen kehrten seit 2001 insgesamt mehr als 4,6 Mio. Binnenvertriebene und Flüchtlinge in ihre Herkunftsregion bzw. nach Afghanistan zurück.

Mit ihren finanziellen Leistungen und Zusagen in Höhe von bisher ca. 900 Millionen Euro ist die Bundesrepublik insgesamt das viertgrößte Geberland für Afghanistan. Neben zwei von Deutschland geführten so genannten Provincial Reconstruction Teams (PRTs) in Kunduz und Faizabad widmet sich das deutsche Engagement besonders dem Aufbau der Infrastruktur, des Mittelstands und des Bildungssektors. Durch die Wiederherstellung der Trinkwasser- und Stromversorgung in Kabul, Kunduz und Herat haben rund 2,5 Millionen Personen wieder Zugang zu Energie und Frischwasser. Ferner wurden mehr als 8 000 Entnahmestellen für Trinkwasser bereitgestellt, insgesamt 1 700 Wasserreservoirs und 55 dörfliche Wassernetze versorgen ca. vier Millionen Menschen. Der Bau von Brücken, Straßen und Bewässerungsanlagen trägt dazu bei, dass die Rahmenbedingungen für eine sich gerade entwickelnde Binnenwirtschaft geebnet werden. Diese wird speziell auch durch die Erneuerung einer Hauptverkehrsader, der so genannten ring road, an der rund 60 Prozent der Bevölkerung leben, nachhaltig unterstützt. Insgesamt wurden 715 Kilometer der ring road erneuert und 2 400 Kilometer Zufahrtsstraßen in Stand gesetzt.

Deutschland hat seit 2002 die internationale Führungsrolle für den Wiederaufbau einer professionellen afghanischen Polizei übernommen. Bislang wurden etwa 4 300 Polizisten der mittleren und höheren Dienstgrade aus- und ca. 14 000 weiter fortgebildet. Dem Aufbau der Polizei und Grenzpolizei wird bei der Wiederherstellung der inneren Sicherheit Afghanistans sicherlich eine Schlüsselrolle zukommen. Am 17. Juni 2007 wurde das deutsche Polizeiprojekt an die europäische Polizeimission in Afghanistan (EUPOL AFG) übergeben. Die Mission, welche zunächst drei Jahre dauern soll, umfasst 160 Polizeiexperten aus 21 Ländern der EU sowie Drittstaaten. Die Gehaltszahlungen der afghanischen Polizei werden über den von der UNDP verwalteten Law and Order Trust Fund For Afghanistan (LOTFA) abgewickelt, an dem sich die Bundesrepublik bisher direkt mit sieben Mio. Euro sowie anteilig am EU-Beitrag in Höhe von 135 Mio. Euro beteiligt hat.

In einem Land wie Afghanistan liegen Erfolg und Misserfolg eng beieinander. Bei dieser diffizilen Konstellation ist Kontinuität ein wichtiges Signal. Der zivil-militärische Einsatz am Hindukusch bedeutet Sicherheit für den Westen und eine große Entwicklungschance für Afghanistan. Deutschland kann in Zukunft bezüglich seiner Afghanistan-Politik außenpolitisch erheblich an Kontur gewinnen - oder aber auch einbüßen. Das Thema Afghanistan-Mandate scheint grundsätzlich über ein Potenzial zu verfügen, das sich schnell zu einem innenpolitischen Zankapfel oder außenpolitischen Stolperstein entwickeln kann. Selbst nach den Abstimmungen zu den Mandatsverlängerungen am 12. Oktober 2007 wird daher das Land am Hindukusch die Große Koalition weiter beschäftigen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Friederike Böge, Jeder kann leicht meinen guten Ruf zerstören. Arbeitsbedingungen von Journalistinnen in Afghanistan, in: einsEntwicklungspolitik, (2007) 10 - 11, S. 50f.

  2. Auf diesen Sachverhalt haben Beobachter schon frühzeitig hingewiesen. Vgl. Mariam Tutakhel, Medienpolitik in Post-Konfliktstaaten. Beiträge zum politischen Wiederaufbau am Beispiel von Afghanistan, INEF-Report 83/2006, S. 27ff.

  3. Bezüglich gegenwärtiger Strukturen, Ideologie und Taktik der Taliban vgl. Thomas Ruttig, Die Taleban nach Mulla Dadullah. Ihre Strukturen, ihr Programm - und ob man mit ihnen reden kann, SWP-Aktuell, 31. 6. 2007, S. 2.

  4. Vgl. Christian Ruck/Babak Khalatbari, Fünf Jahre nach den Taliban - aktuelle Entwicklungen am Hindukusch, in: KAS-Auslandsnachrichten, (2007) 1, S. 72 - 91.

  5. Vgl. Citha Maaß, Eskalation in Afghanistan und der Tornado-Einsatz. Deutsche Initiativen für eine umfassende Stabilisierungsstrategie gefordert, in: SWP-Aktuell, 14. 2. 2007, S. 1.

  6. Vgl. Barnett R. Rubin, Saving Afghanistan, in: Foreign Affairs, 86 (2007) 1, S. 64.

  7. Weitere ca. 2,5 Mio. halten sich noch in Pakistan und rund 1,9 Mio. im Iran auf.

  8. Jährlicher Grundbeitrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für den Wiederaufbau 2002 bis 2010 sind bislang 80 Mio. Euro; für 2007 wurde der Grundbeitrag auf 100 Mio. Euro erhöht. Darüber hinaus ist Deutschland anteilig an der Wiederaufbauhilfe von Europäischer Union, Weltbank und Asiatischer Entwicklungsbank beteiligt.

Dr., geb. 1975; leitet seit 2005 das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kabul, Afghanistan.
E-Mail: E-Mail Link: kas.kabul@ceretechs.com