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Zur Generation der 45er | 1945 | bpb.de

1945 Editorial Zur Generation der 45er. Stärken und Schwächen eines Deutungsmusters 1945 als globale Zäsur Das Leid der Eigenen. 1945 in der japanischen Erinnerungskultur Nach dem Zivilisationsbruch. Stand und Perspektiven der Holocaustforschung Die "Stunde Null" als Zeiterfahrung Die Nachkriegszeit als Gewaltzeit. Ausnahmezustände nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges

Zur Generation der 45er Stärken und Schwächen eines Deutungsmusters

Christina von Hodenberg

/ 14 Minuten zu lesen

Als "politische Generation" haben die sogenannten 45er in der Geschichtsschreibung zunehmend Karriere gemacht. Doch das Generationenkonzept weist Schwachstellen auf: Weibliche oder nicht-bildungsbürgerliche Generationen zu denken, fällt offenbar schwer.

Auf direkte wie indirekte Weise hat die Zäsur des Kriegsendes 1945 in der Geschichtsschreibung ihre Spuren hinterlassen, nicht zuletzt im Interpretationsmuster der "Generation der 45er". Diese Generationskohorte ist in der historischen Literatur unter verschiedenen Namen bekannt. Zunächst bezeichnete sie Helmut Schelsky als die "skeptische Generation", danach wurde sie häufig "Flakhelfer-" oder "HJ-Generation" genannt. Inzwischen wird sie meist als "45er" adressiert. Immer handelt es sich dabei um dieselbe Altersgruppe der in den 1920er Jahren Geborenen, wobei meist die seit 1918 und zuweilen die bis Anfang der 1930er Jahre Geborenen hinzugerechnet werden.

Als "politische Generation" haben die 45er in der Geschichtsschreibung zunehmend Karriere gemacht: Sie gelten in vielen neueren Standardwerken als die Kohorte, die entscheidend zur Demokratisierung, Verwestlichung und Liberalisierung der Bundesrepublik beitrug. Auch werden sie oft als Vorreiter der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen gelobt. Dabei werden die 45er oft entweder als die Gegenspieler oder aber als Bündnispartner der nach ihnen kommenden 68er (der von den Protestbewegungen der späten 1960er Jahre geformten, überwiegend zwischen 1938 und 1950 Geborenen) dargestellt. Zuweilen wird die aktive Rolle der 45er für die Wandlungsprozesse Westdeutschlands besonders betont, um "1968" in der Folge als bloßes "Nachhutgefecht" von bereits in den frühen 1960er Jahren errungenen Fortschritten darstellen zu können.

Zur Gruppe der 45er werden üblicherweise Politiker wie Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher, Intellektuelle wie Ralf Dahrendorf, Jürgen Habermas und Wilhelm Hennis, Künstler wie Günter Grass, Martin Walser und Joseph Beuys, Kabarettisten wie Dieter Hildebrandt und Wolfgang Neuss gerechnet. Zu ihnen gehörten auch die bekanntesten Medienprofis der 1960er bis 1980er Jahre wie etwa Rudolf Augstein, Joachim Fest, Peter Boenisch, Conrad Ahlers, Gert von Paczensky, Peter Merseburger, Matthias Walden und Günter Gaus. Unter den wichtigsten Zeithistorikern der Bundesrepublik finden sich ebenfalls viele Angehörige dieser Kohorte, beispielsweise Hans-Ulrich Wehler, die Brüder Hans und Wolfgang J. Mommsen oder Karl-Dietrich Bracher. Was vereinte diese (nicht zufällig allesamt männlichen) Protagonisten, und was verband sie mit dem Jahr 1945?

Das Kriegsende als Wendepunkt und Mission

Der Kern der Generationserzählung der 45er besteht darin, dass diese Gruppe, in Kindheit und Jugend noch vom Nationalsozialismus geprägt, das Kriegsende 1945 als Desillusionierung und tief greifenden Umbruch erlebte. Weil so jung und vergleichsweise unbelastet, rückten die 45er in der Bundesrepublik der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte rasch in verantwortliche Positionen in Politik, Medien und Universitäten auf, wo sie Ältere, die meist stärker belastet waren, ersetzen konnten. Das Kriegsende 1945 wurde mithin zum Wendepunkt ihres Lebens, sowohl was ihre Berufskarrieren als auch was ihre politischen Überzeugungen anging. Dabei schließt die Gruppe sowohl diejenigen ein, die ganz jung Frontsoldaten wurden (geboren 1921 bis 1925), als auch die Flakhelfer-Jahrgänge 1926 bis 1928, die im Endkampf noch zur Luftabwehr herangezogen wurden, oder die noch jüngeren, die das Regime vor allem als Kinder durch die Hitlerjugend erfahren hatten.

Die dieser Generation zugeschriebene politische Grundhaltung – was genau sie also aus der Erfahrung des Zusammenbruchs im Jahr 1945 lernte – und damit ihre Rolle für die Entwicklung der westdeutschen Gesellschaft variierten jedoch je nach Beschreibung. Helmut Schelsky, der 1957 den Begriff der "skeptischen Generation" prägte, betonte den Rückzug ins Unpolitische, die Anpassungsbereitschaft und Suche nach Sicherheit sowie die Ablehnung revolutionärer Ideologien. Die Kernstücke dieser Interpretation – Flucht ins Private, opportunistische Anpassung, Pflichtbewusstsein in der Leistungsgesellschaft – wurden von Heinz Bude, Gabriele Rosenthal und anderen weitergeschrieben.

Abweichend davon legten Historiker seit den späten 1990er Jahren den Akzent auf die Rolle dieser Kohorte als Vorreiter von gesellschaftlicher Reform, Demokratisierung und Verwestlichung. Vor allem bestimmte akademisch gebildete Berufsgruppen wurden nun genauer untersucht: etwa Philosophen und Soziologen, Historiker, Journalisten, Staatsrechtslehrer, Schriftsteller oder Kabarettisten. A. Dirk Moses, Jan-Werner Müller, Paul Nolte und andere präsentierten die 45er dabei jeweils als Reformer, die seit den späten 1950er Jahren an der Überwindung autoritärer und antiliberaler Traditionen arbeiteten. Die intellektuellen Eliten dieser Jahrgänge hätten zahlreiche traditionelle politische Denkmuster einer kritischen Überprüfung im Dialog unterzogen, meist in Abgleich mit vergleichbaren Denkfiguren "westlicher", also britischer, US-amerikanischer oder französischer Provenienz. Sie zielten auf die Stabilisierung der noch als provisorisch empfundenen westdeutschen Demokratie, fürchteten den Rückfall in ein neues "1933" und kritisierten, was sie als obrigkeitsstaatliche Relikte deutscher Tradition empfanden: die Idee der überlegenen deutschen Kulturnation, die Überhöhung des Staates und ängstliches, antikommunistisch aufgeladenes Konsensdenken.

Eine in diesem Zusammenhang viel diskutierte Frage ist die Rolle der 45er in der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Belastung. Während Schelsky in dieser Hinsicht "die eskapistische Variante" wählte, also die Flucht in Entpolitisierung und Wiederaufbau als typische und begrüßenswerte Form der Aufarbeitung darstellte, sind die 45er von anderen oft als "eine wesentliche Triebkraft des im letzten Drittel der fünfziger Jahre einsetzenden Wandels im Umgang mit der Vergangenheit" ausgemacht worden. Mal mehr, mal minder wird dabei das Ausmaß der vorangegangenen Bindung der Altersgruppen-Angehörigen an den Nationalsozialismus betont: Waren sie als Jugendliche vom Regime schlicht um ihre Ideale betrogen worden? Oder hatten sie selbst tief an den Führer und Ideale wie Vaterland, Ariertum und Ehre geglaubt, bevor die Niederlage ihre Träume zerschmetterte?

Um solche Fragen zu klären, wurden zahlreiche Interviews mit führenden Historikern und Geschichtsdidaktikern dieser Kohorten veröffentlicht. Im Ergebnis werden die Vertreter der Generation meist als mutige Begründer von kritischen Ansätzen und Überwinder elitärer oder deutschnationaler Traditionen im Fach zwischen den späten 1950er und 1970er Jahren dargestellt. Hervorgehoben wird aber gleichzeitig, dass sie vor Angriffen auf NS-belastete Vorgänger und ältere Kollegen zurückschreckten. Weil die 45er noch selbst die Anziehungskraft der NS-Ideale als Jugendliche erlebt hatten, brachten sie weit mehr Verständnis für die schweigenden "Mitläufer" auf, als es die ihnen folgenden 68er taten.

In dieser Abgrenzung von "Mitläufern", 45ern und 68ern scheint bereits ein typisches Muster auf. Fast immer werden die 45er als ein Glied in einer Kette mehrerer politischer Generationen dargestellt. Sie werden einerseits von den ihnen nachfolgenden, revolutionären Ideologien und utopischer Gewalt nahestehenden 68er-Rebellen abgehoben. Andererseits stehen sie den Geburtsjahrgängen zwischen etwa 1900 und 1915 gegenüber, die von Historikern überwiegend als "vornehmliche Trägergruppe der NS-Diktatur" identifiziert worden sind, "und zwar vor allem auf der Ebene des Führungspersonals". Für diese Generation sind unterschiedliche Begriffe geprägt worden – "Kriegsjugendgeneration", "Generation der Sachlichkeit", "Generation des Unbedingten" oder "Jahrhundertgeneration". Übereinstimmend ist aber das Argument, sie sei durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die politischen Unruhen der Weimarer Ära radikalisiert worden und habe seit den 1930er Jahren die relativ jungen Anhänger des Regimes gestellt, die den Nationalsozialismus ideologisch mittrugen, völkisch und rassistisch dachten sowie vielfach tatkräftig an den Massenverbrechen mitwirkten.

Geschichte als Duell politischer Generationen

In vielen Geschichtserzählungen wird die Auseinandersetzung zwischen den beschriebenen politischen Generationen zum Movens der historischen Entwicklung im deutschen 20. Jahrhundert. Schon Detlev Peukert baute seine Deutung der Weimarer Republik auf Radikalisierungen auf, die durch den Zusammenstoß vier politischer Generationen entstanden: von den Wilhelminern über die Gründerzeit- und die Kriegs- bis hin zur "überflüssigen" (oder auch Kriegsjugend-)Generation. Später beschrieb Götz Aly den Generationenbruch zwischen 68ern und ihren Eltern sowie zwischen 45ern und 68ern als Triebkraft der bundesrepublikanischen Konflikte seit den 1960er Jahren. Und Hans-Ulrich Wehler erklärte im fünften Band seiner "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" die gelungene Entwicklung des westdeutschen Teilstaates zum Resultat des Einsatzes der nüchtern-liberalen 45er-Generation, die die von den 68ern bezweckte destruktive Destabilisierung der Republik abwenden konnte. Dabei zählt er selbst offensichtlich zu den 45ern, die er als "strategische Clique" kritischer Intellektueller schilderte, die "die neue Republik als unerwartete zweite Chance mit prinzipieller Zustimmung, sogleich aber auch mit kritischer Aufmerksamkeit" begleitet hätten.

In der kürzlich erschienenen Gesamtdarstellung "Republik der Angst" von Frank Biess, die die Geschichte der Bundesrepublik mit einem emotionsgeschichtlichen Ansatz erzählt, werden die 45er und 68er zu den Trägern der Entwicklung veränderter gesamtgesellschaftlicher emotionaler Regime. "Die Verschiebung von einem emotionalen Regime zum anderen überlappte sich dabei auch mit dem Generationswechsel, vor allem seit den sechziger Jahren", heißt es da. Die 45er werden als Träger einer besorgten Debatte über die Stabilisierung der Bundesrepublik und die Furcht vor dem Rückfall in ein neues 1933 vorgestellt; die 68er stehen für eine neue, emotional expressivere Lebensweise. Wie sich diese Generationen genau konstituierten, wird indes nicht näher erläutert.

Wie hier wird der Clash der Generationen oft mit einer kollektivpsychologischen Dimension aufgeladen. Ein Beispiel dafür ist Thomas A. Kohuts psychohistorisch argumentierende "Erfahrungsgeschichte" der Jahrgänge der Kriegsjugendgeneration. Kohut leitete eine wesentliche historische Dynamik aus dem Konflikt zwischen pragmatischen 45ern, rebellischen 68ern und der stark nazifizierten Kriegsjugendgeneration der Jahrgänge 1900 bis 1915 ab. Ähnliches gilt für die reiche (oft Bestseller-)Literatur zur Generation der "Kriegskinder" und "Kriegsenkel", in der seit etwa 20 Jahren aus Schuld und Schweigen der Eltern ein Trauma der nachwachsenden Generationen konstruiert wird. Die Trennlinie zwischen politischen Generationen wie den 45ern und familiär definierten Generationen wird in diesen Publikationen zunehmend verflüssigt. In Anlehnung an den jahrhundertealten literarischen Topos vom Kampf zwischen "Vätern und Söhnen" hat das Denkmuster vom Konflikt der politischen Generationen auch in Romanen reichen Widerhall gefunden. Was Claus Leggewie als "spätödipale Szenarien" väterlicher Repression beschrieb, ist seit den 1970er Jahren im neuen Genre der "Väterliteratur" verbreitet. Meist waren es junge männliche Autoren, die das Schweigen, die Schuld und den traumatischen Verlust der Väter literarisch beklagten und daraus eine eigene generationelle Identität ableiteten.

Die Vorteile des Erzählmusters der politischen Generation sind deutlich. Mit dem Modell der 45er, die im geistigen Ringen mit ihrer Vorgänger- wie Nachfolgergeneration das Gemeinwesen vorantreiben, lässt sich Geschichte dramatisch erzählen. Die beschriebene generationelle Mission der 45er kann dabei vorzüglich mit dem demokratischen und antitotalitären Grundkonsens der Bundesrepublik Deutschland verkoppelt werden. Solcherart Geschichte im Generationsmodus zu erzählen, bietet Identifikationsmöglichkeiten für viele zur rechten Zeit Geborenen, die sich rückblickend als Helden der Entwicklung feiern können. Die Popularität des Deutungsmusters erklärt sich zudem daraus, dass es in jeder Familie eine Generationenabfolge gibt, über die die "großen" politischen Konflikte mit der "kleinen" privaten Welt verglichen werden können. Die Leitideen der politischen Generationen werden bruchlos mal auf die Entwicklung der gesamtgesellschaftlichen Kultur, mal auf die privaten Familienverhältnisse übertragen.

Während die Historiografie der Bundesrepublik dem Duell der politischen Generationen und gerade den 45ern einen zentralen Platz zuweist, sind ähnliche Erzählungen in der Geschichte der DDR zwar vorhanden, aber weniger prominent ausgeprägt. Alexander von Plato und Dorothee Wierling haben eine vergleichbare ostdeutsche "HJ-Generation" beschrieben, die auf Anpassung und Rekonstruktion setzte und staatstragend wurde. Für Mary Fulbrook waren es die sogenannten 29er, die sich erst für die Hitlerjugend und dann für den ostdeutschen Staatssozialismus stark mobilisieren ließen – eine Altersgruppe, die einen Teil der Jahrgänge der 45er umfasst. Doch die großen Linien der DDR-Geschichtsschreibung sind weit weniger mit generationsstiftenden Debatten verwoben als im westdeutschen Kontext.

Noch seltener ist das Motiv der 45er-Generation in der Geschichtsschreibung in anderen Ländern. Die britische Geschichtsschreibung etwa operiert deutlich seltener mit dem Generationskonflikt als die deutsche – zumal nicht solcher politischer Generationen, die ursächlich mit Kriegserfahrungen verbunden werden. Für die 45er gibt es streng genommen weder britische noch US-amerikanische oder französische Pendants. (Stärkere Parallelen finden sich dagegen im Hinblick auf die 68er-Kohorte in der europäischen wie globalen Geschichtsschreibung.) Die geografisch begrenzte Verbreitung des Generationen-Narrativs deutet mithin schon darauf hin, dass das Konzept neben Stärken auch erhebliche Schwächen aufweist.

Grenzen des Generationenbegriffs

Die Schwächen beginnen bereits mit der Entstehungsgeschichte des Begriffs der "politischen Generation", die zurück in die 1920er Jahre führt. Damals entwarf der Kultursoziologe Karl Mannheim eine Theorie, die bis heute nachwirkt. Ihm zufolge kann ein "Generationszusammenhang" wachsen, wenn nah beieinander liegende Jahrgänge während ihrer formativen Jugendphase eindrückliche, sie verbindende historische Erfahrungen machen. Zu einer politischen Generation kommt es jedoch nur, wenn auf das Erleben ein gemeinsamer Austausch folgt, der auf eine hegemoniale, handlungsleitende Deutung dieser Erfahrungen hinausläuft. Zudem können sich innerhalb einer politischen Generation verschiedene Deutungen des formativen Erfahrungszusammenhangs ausbilden, die dann zur Aufspaltung in mehrere, politisch verschieden orientierte "Generationseinheiten" führen. Mannheim belegte seine Theorie am Beispiel der Bündischen Jugend und der Frontsoldaten des Ersten Weltkrieges, die in den Jahren der Weimarer Republik ihre politischen Gestaltungsansprüche öffentlich geltend machten. Das Sendungsbewusstsein junger bildungsbürgerlicher Männer – die Idee des "elitär-bürgerlichen Jugendauftrags zur männlichen Erlösung" – durchdrang daher seine Überlegungen.

Dieser geschlechts- und klassenspezifischen Aufladung des Denkmusters der politischen Generation ist bis heute kaum zu entkommen. Wo Historiker von politischen Generationen sprechen, meinen sie eigentlich Männer und gebildete Eliten. Ein wichtiger Grund für diese Verengung des Blicks auf männliche Bildungsbürger ist die Tatsache, dass sich Generationen wie die 45er nicht durch das gemeinsame Erlebnis, sondern erst durch einen medial vermittelten Diskurs über das Erfahrene bilden. Erst der Prozess der "Generationsrede" lässt im Nachhinein politische Generationen entstehen. Doch der Zugang zur veröffentlichten Debatte wurde bis weit in die 1980er Jahre hinein von männlichen Bildungseliten kontrolliert.

Am Beispiel der in den 1920er Jahren Geborenen hat Benjamin Möckel untersucht, wie sich für diese Alterskohorte während des ersten Nachkriegsjahrzehnts langsam ein generationelles Narrativ herausschälte. Damals fand in den Medien eine gemeinsame Arbeit am Mythos, eine kollektive Verfertigung einer Sinngebung Abertausender Biografien statt. Die 45er formierten sich nachträglich als Gruppe, indem sie öffentlich über ihre Interpretation der Niederlage und ihre eigene politische Mission in der Nachkriegszeit redeten. Im Laufe dieser "Generationsrede" wurde ein "kollektiver Sprach- und Erinnerungsmodus für die Zeit des Nationalsozialismus" gefunden, indem "die eigenen Erlebnisse in den Rahmen einer vermeintlichen Kollektiverfahrung eingeordnet" wurden. Die Publizisten, Politiker und Journalisten, die diese veröffentlichte Diskussion über die generationelle Selbstverortung bevölkerten, waren so gut wie ausschließlich Männer. Auch die Topoi der Debatte waren und sind männlich konnotiert: "der Vordenker", "der Nazi", "der Vater-Sohn-Konflikt", "der 45er".

Sich als Angehöriger einer politischen Generation darzustellen, ist deshalb auch heute noch ein typisch männliches Unterfangen. Weibliche politische Generationen zu denken, fällt vielen offenbar schwer. Erstens beteiligten sich Frauen in aller Regel weit weniger an den medialen Debatten zur generationellen Selbstverortung. Nach wie vor weist die dominierende Vorstellungswelt ihnen einen Platz in der Privatsphäre, nicht in der politischen Öffentlichkeit zu. Zweitens erhalten die weiblichen Angehörigen der entsprechenden Geburtsjahrgänge nur selten die Aufmerksamkeit der Massenmedien; sie werden kaum je als politisch wirksame Gruppierungen dargestellt. Drittens wird der generationsstiftende Zusammenhang der meisten deutschen politischen Generationen mit der Erfahrung des Krieges – des Fronterlebnisses, der ausgebliebenen Fronterfahrung oder aber der Kriegsniederlage – verbunden, ganz gleich, ob daraus eine Radikalisierung oder Desillusionierung abgeleitet wird. Dabei erfolgt fast immer ein "Herausschreiben der Frauen aus der Kriegserfahrung" unter Betonung spezifisch männlicher Klischees von willensstarken Frontkämpfern, Brüderlichkeit, männlicher Härte und Sachlichkeit. Und viertens gehörten viel weniger Frauen als Männer zu den gebildeten Eliten und intellektuellen Avantgarden, die die Historiker bisher so stark in den Vordergrund des Bildes gerückt haben.

Christina Benninghaus ließ noch 2005 die Frage offen, "ob es für historische Untersuchungen sinnvoll wäre, die Kategorie ‚Generation‘ in anderer Form zu definieren, sodass sie auch Frauen und unterbürgerliche Schichten in den Blick nehmen könnte." Fünf Jahre später unternahm Eva-Maria Silies den Versuch, aus einer "stillen" Generationserfahrung eine weibliche Generation abzuleiten, allerdings am Beispiel der 68er-Alterskohorten. Silies betonte die Erfahrung der Einführung der Antibabypille als eine "stille" und trotzdem prägende Generationserfahrung, die einen "Großteil der jungen Frauen der sechziger und siebziger Jahre und damit einen im Vergleich wesentlich größeren Anteil der Kohorte" als die von uns herkömmlich als 68er begriffenen Männer vereinte. Aber nicht nur die "Pille", auch die vielen privaten Kämpfe um ein gleichberechtigteres Leben machten die 68erinnen zum Teil einer politischen Generation, wie ich kürzlich argumentiert habe. Bei einer solchen stillen Generation steht in Abweichung von Mannheims Konzept statt der "Generationsrede" die generationsstiftende, lebensverändernde Erfahrung im Mittelpunkt. Der mediale Diskurs wird dadurch weniger wichtig. Zudem können die generationsstiftenden Erfahrungen auch leiblich verkörpert, in der Privatsphäre und außerhalb der gebildeten Oberschicht angesiedelt sein.

Ob es 45erinnen gab, sei dahingestellt – die Forschungslage erlaubt uns (noch) kein Urteil über diese oder manch andere weibliche Generation des 20. Jahrhunderts. Immerhin öffnet der Blick auf die Frauen die Augen für die Grenzen des Deutungsmusters der 45er-Generation. Zwar lässt sich die Generationsrede dieser Alterskohorten gewinnbringend als ein "zentrales symbolpolitisches Themenfeld in den Selbstinszenierungen der jeweiligen Nachkriegsgesellschaften" analysieren. Doch bleibt die Validität der Ergebnisse auf den kleineren Kreis männlicher intellektueller Eliten beschränkt. Dies gilt insbesondere für die Jahrzehnte vor den 1980er Jahren, in denen die universitäre, massenmediale und parlamentarische Öffentlichkeit überwiegend männlich und bildungsbürgerlich dominiert war. Eines ist festzuhalten: Für eine Ausweitung auf gesamtgesellschaftliche Wertewandelsphänomene, auf Trägerschichten jenseits der bürgerlichen Oberschicht oder gar eine Übertragung auf familiäre Generationsverhältnisse eignet sich das Denkmuster der 45er allemal nicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Helmut Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf 19604 (1957); Rolf Schörken, Jugend 1945. Politisches Denken und Lebensgeschichte, Opladen 1990; Jan-Werner Müller, Another Country. German Intellectuals, Unification and National Identity, New Haven 2000; Friedhelm Boll, Jugend im Umbruch vom Nationalsozialismus zur Nachkriegsdemokratie, in: Archiv für Sozialgeschichte 37/1997, S. 482–520.

  2. Franz-Werner Kersting/Jürgen Reulecke/Hans-Ulrich Thamer, Aufbrüche und Umbrüche: Die zweite Gründung der Bundesrepublik 1955–1975. Eine Einführung, in: dies. (Hrsg.), Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955–1975, Stuttgart 2010, S. 8.

  3. Vgl. Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen 2006, S. 248ff.

  4. Vgl. Franz-Werner Kersting, Helmut Schelskys "Skeptische Generation" von 1957. Zur Publikations- und Wirkungsgeschichte eines Standardwerkes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50/2002, S. 484f.

  5. Vgl. A. Dirk Moses, The Forty-Fivers. A Generation between Fascism and Democracy, in: German Politics and Society 17/1999, S. 102ff.

  6. Vgl. zu Professoren: A. Dirk Moses, German Intellectuals and the Nazi Past, Cambridge 2007; zu Journalisten: von Hodenberg (Anm. 3), S. 245ff.; zu Staatsrechtslehrern: Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, Berlin 2009; zu Soziologen: Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 246–249, S. 400f.

  7. Kersting (Anm. 4), S. 488.

  8. Vgl. Christina von Hodenberg, Politische Generationen und massenmediale Öffentlichkeit. Die "45er" in der Bundesrepublik, in: Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hrsg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, S. 273f.

  9. Vgl. Thomas Sandkühler, Historisches Lernen denken. Gespräche mit Geschichtsdidaktikern der Jahrgänge 1928–1947, Göttingen 2014; Rüdiger Hohls/Konrad Jarausch/Torsten Bathmann (Hrsg.), Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, Stuttgart 2000. Siehe auch die Diskussion dazu: H-Soz-Kult, Review-Symposium, 2000/2001, Externer Link: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/Rezensio/symposiu/versfrag/sympos.htm.

  10. Ulrich Herbert, Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, in: Jürgen Reulecke (Hrsg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 95–115, hier S. 100.

  11. Vgl. ebd.; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002.

  12. Vgl. Detlev Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt/M. 1987, S. 25ff.

  13. Vgl. Götz Aly, Unser Kampf 1968. Ein irritierter Blick zurück, Frankfurt/M. 2008, S. 191ff.

  14. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, München 2008, S. 188f., siehe auch S. 185ff., S. 310ff.

  15. Frank Biess, Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Reinbek 2019, S. 35, siehe auch S. 199, S. 245.

  16. Vgl. Thomas A. Kohut, A German Generation. An Experiential History of the Twentieth Century, New Haven 2012, S. 6ff.

  17. Vgl. Christina von Hodenberg, Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München 2018, S. 71ff.

  18. Siehe etwa Romane von Peter Schneider, Günter Kunert, Peter Härtling oder Niklas Frank. Claus Leggewie, A Laboratory of Postindustrial Society. Reassessing the 1960s in Germany, in: Philipp Gassert/Carole Fink/Detlef Junker (Hrsg.), 1968. The World Transformed, Cambridge 1998, S. 281. Vgl. Hannes Heer, Literatur und Erinnerung. Die Nazizeit als Familiengeheimnis, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53/2005, S. 809–835.

  19. Alexander von Plato, The Hitler Youth Generation and its Role in the Two Post-War German States, in: Mark Roseman (Hrsg.), Generations in Conflict. Youth Revolt and Generation Formation in Germany 1770–1968, Cambridge 1995, S. 210–226. Vgl. Dorothee Wierling, Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiographie, Berlin 2002.

  20. Vgl. Mary Fulbrook, Dissonant Lives. Generations and Violence through the German Dictatorships, Oxford 2011.

  21. Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie 7/1928, S. 157–185, S. 309–330. Vgl. Helmut Fogt, Politische Generationen. Empirische Bedeutung und theoretisches Modell, Opladen 1982.

  22. Bernd Weisbrod, Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte, in: APuZ 8/2005, S. 3–9, hier S. 4.

  23. Benjamin Möckel, Erfahrungsbruch und Generationsbehauptung. Die "Kriegsjugendgeneration" in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, Göttingen 2014, S. 16f.

  24. Christina Benninghaus, Das Geschlecht der Generation. Zum Zusammenhang von Generationalität und Männlichkeit um 1930, in: Jureit/Wildt (Anm. 8), S. 146.

  25. Ebd., S. 158.

  26. Eva-Maria Silies, Liebe, Lust und Last. Die Pille als weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2010, S. 426f.

  27. Vgl. von Hodenberg (Anm. 17).

  28. Möckel (Anm. 23), S. 387f., siehe auch S. 22.

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ist Professorin für Europäische Geschichte und Direktorin des Deutschen Historischen Instituts London. E-Mail Link: c.hodenberg@ghil.ac.uk