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Die Politisierung internationaler Institutionen

Matthias Ecker-Ehrhardt Michael Zürn Michael Matthias Ecker-Ehrhardt / Zürn

/ 17 Minuten zu lesen

Gesellschaftliche Widerstände setzen internationale Institutionen immer stärker unter Zugzwang. Normative Ansprüche wie z. B. auf Autonomie, Partizipation, Transparenz oder Rechtsgleichheit werden vielfach enttäuscht und führen zu gesellschaftlichen Reaktionen, auf die internationale Institutionen reagieren müssen.

Einleitung

Der bevorstehende G8-Gipfel im mecklenburgischen Heiligendamm wird von erheblichen Protesten begleitet werden. "Während die G8 ohne Legitimation, aber mit ungeheurer Macht ihre Interessen durchsetzen", so etwa die deutsche Sektion von Attac, solle Heiligendamm als Gelegenheit genutzt werden, sich "weitergehende Gedanken über eine ganz andere Globalisierung der Demokratie'" zu machen. Derartige Kritiken bleiben nicht folgenlos. So hatte sich auf der Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) in Cancún im September 2003 eine breite Allianz von Entwicklungsländern (G21) erfolgreich dem Druck des Westens widersetzt und die Verhandlungen zum Scheitern gebracht. Das Protestbündnis der WTO-Kritiker feierte dies als "zweites Seattle" und wies sich selbst eine Rolle als zentraler Akteur dieser Verhandlungen zu insofern, als die "Massenmobilisierung auf den Straßen, die Lobbyarbeit und die vielen Aktionen innerhalb der Hotelzone ... wesentlich dazu beigetragen [habe], die reichen Länder zu isolieren" und die Koalition der Entwicklungsländer "von unten" auf ein gemeinsames Handeln zu verpflichten. Der Widerstand gegen internationale Institutionen beschränkt sich aber nicht auf linksgerichtete transnationale Gruppierungen. Jedes multilaterale Abkommen, das die Vereinigten Staaten unterzeichnen, muss erst vehemente Widerstände von zumeist konservativen Senatoren und Kongressmitgliedern überstehen, bevor es wirksam werden kann. Attac und den erzkonservativen, ehemaligen Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Senator Jesse Helms, eint die Kritik an bestehenden internationalen Institutionen. Politische Akteure, die sich als Kontrollorgan der Regierungen verstehen, zeigen sich also zunehmend für Macht- und Legitimitätsfragen globalen Regierens sensibel. Sie sind in einem Maße zu Kritik und Widerstand bereit, das internationale Institutionen unter Zugzwang setzt. Gerade dies könnte sich aber als eine wichtige Marke auf dem Weg zu einer normativ gehaltvollen Ordnung jenseits des Nationalstaats erweisen.






Wie ist das möglich? Wir interpretieren diese Widerstände als Ausdruck einer Situation, in der internationale Institutionen mit mehr und neuen Einflussmöglichkeiten ausgestattet sind und mithin von einer wachsenden Zahl gesellschaftlicher Akteure subjektiv mehr Relevanz zugesprochen bekommen. Im Zuge dessen steigen auch die normativen Ansprüche an diese Institutionen. Die Politik und Verfahren internationaler Institutionen werden nicht mehr nur im Lichte partikular-nationaler Interessen und Probleme diskutiert, sondern zunehmend auch im Rekurs auf Kriterien einer legitimen politischen Ordnung. Werden diese Ansprüche enttäuscht - und das werden sie allzu häufig -, kommt es zu massiven Widerständen gesellschaftlicher Akteure gegen die Politik und die Verfahren internationaler Institutionen. Diese Politisierung lässt internationale Institutionen keinesfalls unberührt. Sie reagieren in vielen Fällen mit Veränderungen ihrer Verfahren, insbesondere durch die Öffnung für transnationale Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und durch eine erhöhte Transparenz ihrer Arbeit. Ob dies als Ausdruck einer beginnenden Demokratisierung internationaler Institutionen gelten kann, bleibt allerdings abzuwarten.

Gesellschaftliche Wahrnehmung internationaler Institutionen

Internationale Institutionen haben insbesondere seit 1989 an Autonomie gegenüber den Nationalstaaten gewonnen. Mehrheitsentscheidungen und quasi-juristische Verfahren führen dazu, dass Nationalstaaten teilweise gezwungen werden, gegen ihren Willen zu handeln. Somit wird das Konsensprinzip, das lange konstitutiv für die internationale Politik war, untergraben; in der Folge wirken internationale Institutionen zum Teil tief in nationale Angelegenheiten hinein. Es gibt auch Hinweise darauf, dass dieser Bedeutungszuwachs internationaler Institutionen von den betroffenen Gesellschaften durchaus gesehen wird. So belegen etwa die Eurobarometerumfragen, dass die europäischen Institutionen als immer wichtiger wahrgenommen werden und die Bürger dabei sehr wohl zwischen den einzelnen Institutionen differenzieren können. Die in einer Reihe westlicher Gesellschaften durchgeführten Umfragen des Pew Research Center for the People and the Press verweisen darauf, dass auch den Vereinten Nationen (VN) von einer nicht unerheblichen Anzahl der Bürger ein großer Einfluss zugeschrieben wird. Diese Umfragen zeigen unter anderem, dass derartige Einschätzungen auch zentrale außenpolitische Präferenzen prägen, etwa ob für oder gegen den Einsatz militärischer Gewalt als Mittel der Politik votiert wird.

Neben Umfragedaten spricht vor allem die Praxis dafür, dass gesellschaftliche Akteure internationale Institutionen für wichtig halten. Die transnationale Kampagne zum Verbot von Landminen oder die Aktivitäten von Transparency International im Zusammenhang mit der Anti-Bribery Convention sind prominente Beispiele dafür, dass die Lösung von Problemen durch internationale Institutionen vehement eingefordert wird. Auch die Bereitschaft vieler NGOs, sich etwa im Rahmen der VN um einen - mit erheblichen internen Kosten verbundenen - Konsultativstatus zu bewerben, zeugt in diesem Sinne von einer subjektiven Anerkennung der VN als einflussreicher Organisation. Ähnliches lässt sich mit Blick auf die internationale Lobbyarbeit nationaler Interessengruppen wie Gewerkschaften und Unternehmensverbände behaupten. Schließlich nutzen gesellschaftliche Akteure international kodifizierte Standards als wesentliche Anspruchsgrundlage ihrer Forderungen gegenüber nationalen Regierungen und verhelfen diesen Standards bzw. den vorhandenen Verifikationsagenturen im Gegenzug zu verstärkter Geltung. Im Menschenrechtsbereich profitieren etwa das VN-Hochkommissariat für Menschenrechte und verschiedene Sonderberichterstatter davon, dass sich Medien und Menschenrechtsaktivitäten immer wieder auf die Zahlen und Bewertungen dieser Institutionen stützen und ihnen damit Autorität zuweisen.

Dazu passt schließlich auch, dass das Phänomen des political consumerism sich längst transnational darstellt: Viele Konsumenten folgen bei ihren Kaufentscheidungen den Appellen internationaler und transnationaler Institutionen. Der gesellschaftliche Boykott südafrikanischer Produkte stützte bereits während der 1970er Jahre maßgeblich die VN-Sanktionen. In Form so genannter Buycotts belohnen Konsumenten darüber hinaus auch die Einhaltung transnationaler Zertifizierungssysteme wie dem Marine Stewardship Council (MSC), Rugmark, FLO Certification Programme oder der Clean Clothes Campaign (CCC) und zeigen damit, dass diese Institutionen immer wieder von einer erheblichen und augenscheinlich steigenden Zahl gesellschaftlicher Akteure als bedeutsam wahrgenommen werden.

Kontextbedingungen der neuen Ansprüche

Die Wahrnehmung institutioneller Macht jenseits nationalstaatlicher Autoritäten erzeugt beides: Zustimmung und Zuwendung für, aber auch Misstrauen und Widerstände gegen internationale Institutionen. Angesichts der gewachsenen Autonomie internationaler Institutionen kommt es in den betroffenen Gesellschaften zu einer gesteigerten Auseinandersetzung über deren Legitimitätsgrundlagen. Eine gewichtige Rolle spielen dabei auch die kognitiven und kulturellen Grundlagen gesellschaftlicher Politisierung, die sich in den vergangenen Dekaden gleichfalls geändert haben. So treffen die ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Folgen der Globalisierung bei vielen Menschen auf eine Haltung, sie tatsächlich als "eigene" Probleme zu verstehen. Im Zuge zunehmender Bildung werden immer breitere Bevölkerungsteile in die Lage versetzt, globale Zusammenhänge und Wechselwirkungen zu erkennen. Auch ändert sich das Vermögen, sich jenseits nationaler Grenzen und kultureller Räume in andere hineinzuversetzen, Mitleid und Solidarität zu empfinden - wie sich nicht zuletzt an der zunehmenden Bereitschaft zeigt, sich angesichts entfernter humanitärer Krisen und Menschenrechtsverletzungen für die Betroffenen einzusetzen. Im Ergebnis sehen wir einezunehmend denationalisierte politische Problemwahrnehmung - ein Prozess, der nicht auf westliche Industriegesellschaften beschränkt sein dürfte und durch die Verdichtung bzw. Kommerzialisierung medialer Kommunikationsprozesse noch verstärkt wird. Sofern die Definition ökonomischer, sozialer und auch moralischer Interdependenzen Phänomenen wie Hungersnöten, Seuchen oder Völkermord einen steigenden Nachrichtenwert zuweist, erzeugen die Medien nämlich einen immer schnelleren Fluss von Informationen. Dieser forciert seinerseits die Auseinandersetzung mit internationalen Problemen und Zusammenhängen.

Die konstatierte kognitive Mobilisierung führt auch zu einer wachsenden Sensibilität von Gesellschaften für Machtfragen im Allgemeinen und dürfte schon von daher eine Politisierung gesellschaftlicher Akteure im Hinblick auf inter- und transnationale Institutionen begünstigen. Mit Blick auf die westlichen Industrienationen sind die damit einhergehenden Ansprüche auf politische Teilhabe als Ausdruck eines Wertewandels diskutiert worden. In der Folge eines solchen Wertewandels lässt sich eine Bedeutungszunahme von Kriterien wie Repräsentativität und Transparenz als Bedingungen gesellschaftlicher Anerkennung von Global Governance beobachten. Außerhalb der OECD-Welt bleibt Bildung zwar vielfach ein knappes Gut. Dennoch erreicht und formt sie aber auch dort die Ansprüche an politische Ordnung bei einem signifikanten Teil der Bevölkerung - einer Elite, die zunehmend nach Beteiligung am politischen Prozess strebt, darüber hinaus jedoch auch immer wieder die westliche Dominanz in internationalen Institutionen kritisiert.

Enttäuschte Ansprüche

Allerdings kann ein Wandel der kognitiven und kulturellen Kontextbedingungen allein das Entstehen gesellschaftlicher Widerstände gegen internationale Institutionen noch nicht erklären. Erst die Enttäuschung über Verfahren und materielle Politik einflussreicher Institutionen macht diese zum Zielobjekt gesellschaftlicher Kritik und Widerstände. Sofern sich die substanzielle Reichweite und die "Eingriffstiefe" internationaler Institutionen vielfach erhöht haben, erscheinen deren Entscheidungsprozesse aus gesellschaftlicher Sicht häufig als nicht legitim. Am Entscheidungsmodell des exekutiven Multilateralismus hat sich nämlich über die Jahre kaum etwas geändert. Die Politik in den internationalen Institutionen findet meist immer noch unter Ausschluss der breiten Öffentlichkeit statt, bleibt hermetisch und ist folglich aus Sicht der letztlich Betroffenen undemokratisch.

Erstens verletzt der Ausschluss eines Teils der Betroffenen von den Entscheidungsverfahren Ansprüche an die Partizipation bzw. an die Repräsentativität von trans- und supranationalen Institutionen. Diese Exklusion lässt sich auf zwei Ebenen beobachten. Einerseits sind nicht alle Staaten an den Entscheidungen beteiligt und andererseits führt die Neigung zum exekutiven Multilateralismus zum Ausschluss gesellschaftlicher Akteure in exekutiv-staatlich dominierten Entscheidungsprozessen. Hinsichtlich der in den zentralen Gremien internationaler Organisationen vertretenen Staaten hat etwa der Ausschluss ganzer Regionen aus dem entscheidenden Prozess der Vor- und Parallelverhandlungen im green room der WTO für massive Kritik gesorgt. Besonders eklatant bleibt auch die fehlende Repräsentativität des Sicherheitsrats der VN, eine Tatsache, die über die Vetorechte der ständigen Mitglieder noch verschärft wird. Ein aufschlussreiches Beispiel fehlender gesellschaftlicher Partizipation stellt der Bereich der humanitären Hilfe und der Entwicklungshilfe durch private wie staatliche Organisationen dar, an deren Steuerung die Empfänger kaum beteiligt werden. Als glaubwürdige Experten humanitären Leids gelten aus Sicht der Gebergesellschaften letztlich, so lässt sich zeigen, doch nur die vermeintlich "unabhängigen" Vertreter der internationalen Hilfsorganisationen, jedoch kaum die Betroffenen selbst. Entsprechende Kritik hat zu einer umfassenden Debatte zwischen den in diesem Feld engagierten Organisationen geführt.

Zweitens verletzt die Öffentlichkeitsferne vieler Entscheidungsprozesse normative Ansprüche an die Kontrollierbarkeit und Begründungspflicht "guten Regierens". So haben etwa mangelnde Kontrollmöglichkeiten der Unternehmen, die am Global Compact beteiligt sind, Kritik ausgelöst. Dadurch ist auch generell die von Kofi Annan betriebene Öffnung der Vereinten Nationen gegenüber transnationalen Unternehmen in die Kritik geraten. Auch wenn eine Reihe internationaler Institutionen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds seit Längerem den Kontakt zu gesellschaftlichen stakeholdern sucht, bleiben ihre Entscheidungsprozesse für Vertreter von Betroffenengruppen versperrt und ein steter Stein des Anstoßes. Insbesondere die Kritik an den so genannten green-room-Gesprächen bei der WTO richtet sich in diesem Sinne neben der mangelnden Inklusivität auch gegen die mangelnde Transparenz der WTO-Verfahren. Die Schaffung von Transparenz ist der Bereich, in dem am meisten Bewegung zu verzeichnen ist. So ist mittlerweile eine ganze Reihe wichtiger Dokumente zum Verhandlungsprozess öffentlich zugänglich. Aus der Sicht vieler NGOs bleibt diese Öffnung der WTO allerdings unbefriedigend, da vermutet wird, dass die wesentlichen Entscheidungen außerhalb des dokumentierten Verhandlungsprozesses getroffen werden.

Drittens enttäuscht eine hohe Selektivität bei der Regelsetzung und der Regelanwendung gesellschaftliche Ansprüche nach gerechter Verteilung bzw. Fairness. Die im Allgemeinen unter dem Begriff der "Globalisierungskritik" zusammengefassten Widerstände identifizieren und adressieren Institutionen wie Weltbank oder IWF vornehmlich als neoliberale Protagonisten eines globalen "Kasino-Kapitalismus", die nach Ansicht ihrer Kritiker Interessenlagen recht einseitig widerspiegeln und daher weltgesellschaftliche Probleme wie Armut, Unterentwicklung und Dependenz nicht lösen, sondern sogar noch verschärfen. Ihre Legitimität wird somit nicht nur verfahrenstechnisch, sondern eben auch substanziell mit Blick auf die Wirkung ihrer Politiken in Frage gestellt. Die selektive Umsetzung von Normen lässt sich am Fall des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zeigen. Da die VN über keine eigenen Ressourcen verfügen, sind sie beim peace enforcement noch mehr als beim peace keeping auf einzelne, besonders mächtige Staaten angewiesen. Sie können nur dort militärisch eingreifen, wo mächtige Staaten willens sind, eine UN-autorisierte Intervention durchzuführen. Während in Somalia, dem ehemaligen Jugoslawien oder auch in Afghanistan militärisch eingegriffen worden ist, sind derartige Interventionen in ähnlich gelagerten Fällen wie Myanmar, Sudan, Angola oder Liberia unterblieben. Das peace enforcement der VN verletzt somit Prinzipien der Rechtsgleichheit. Dies führte zur Verfestigung des Bildes der VN als einerseits "zahnlosem Tiger" - nicht nur, aber besonders folgenreich in den USA - und andererseits als einseitigem Instrument des Westens - nicht nur, aber besonders folgenreich in der arabischen Welt. Damit ist den VN bleibender Schaden zugefügt worden. Ähnlich kritisch wird die selektive Verteilung humanitärer Hilfe durch staatliche wie zivilgesellschaftliche Akteure betrachtet. Nicht erst angesichts der Tsunami-Krise 2004/2005 trat zutage, dass Regierungen wie NGOs ihre Mittel nicht nur nach Maßgabe akuter Bedürftigkeit neutral und unparteilich verteilen, sondern auch, um den aktuell medial formulierten Ansprüchen möglichst eindrucksvoll und unmittelbar nachkommen zu können.

Freilich setzen Ansprüche auf Partizipation, Transparenz und Rechtsgleichheit zumindest eine implizite Anerkennung einer gegebenen Institution als wünschenswert voraus. Einer ganzen Reihe von Institutionen tritt die gesellschaftliche Ablehnung jedoch mit der Behauptung entgegen, dass man eine weitere Stärkung internationaler Institutionen grundsätzlich abwehren sollte. Hierbei geht es viertens um maximale Autonomie, ggf. auch nur in Gestalt regulierter Subsidiarität. Idealtypisch für dieses Phänomen scheinen die innergesellschaftlichen Diskussionen im Vorfeld nationaler Referenden über einen Beitritt zur Europäischen Union zu sein. Gegner der europäischen Integration nutzten diese Debatten, um grundlegend gegen eine Abgabe politischer Macht an internationale Institutionen mit Hinweis auf einen drohenden Verlust an Autonomie zu argumentieren. Offen bleibt die Frage, inwieweit sich auch das Auftreten von transnationaler Gewalt in den neuen Kriegen bzw. in Gestalt des transnational agierenden Terrorismus als Ausdruck des Widerstandes gegen die OECD-Welt und ihre internationalen Institutionen deuten lässt, deren Einfluss man im Verweis auf eine politisch bestimmte Idee von Autonomie abwehren (nicht aber kontrollieren oder gar durch Partizipation "demokratisieren") will.

In der hier vorgetragenen These schwingt die Vermutung mit, dass die im Kontext eines allgemeinen Modernisierungsprozesses verstärkt wahrgenommenen Legitimationsdefizite internationaler Institutionen zu einer Politisierung weltgesellschaftlicher Akteure führen. Zur Politisierung gehören die konstruktive Nutzung internationaler Institutionen durch gesellschaftliche Gruppen etwa im Bereich der Umweltpolitik, aber auch die vehemente Ablehnung internationaler Institutionen. Die Kritik und die Widerstände gegen internationale Institutionen können unterschiedliche Formen annehmen - von der Unterstützung rechtspopulistischer Parteien in Europa über die Demokratiekritik an der EU bis zu den unkonventionellen Aktionsformen globalisierungskritischer Gruppen gegen WTO, IWF und Weltbank. Die Politisierung ist Ausdruck eines institutionellen Machtzuwachses, gestiegener Erwartungen und wahrgenommener Defizite internationaler Institutionen. Dabei variieren die institutionellen Gelegenheitsstrukturen der Politisierung erheblich; sie ergeben sich auf der internationalen wie auf der nationalen Ebene.

Zum einen bilden internationale Institutionen eigene Politikarenen, die unterschiedliche Anreize und Gelegenheiten bieten, gesellschaftliche Ansprüche direkt zu artikulieren - nicht zuletzt angesichts unterschiedlicher Partizipationsmöglichkeiten als Experten bzw. stakeholder. Internationale Institutionen sind in diesem Sinne nicht nur Auslöser von Kritik angesichts mangelnder Partizipationsmöglichkeiten, sie werden vielmehr auch wie erwähnt zur Durchsetzung bestimmter politischer Vorstellungen genutzt. Amnesty International und Oxfam beispielsweise nutzen und unterstützen internationale Menschenrechts- und Umweltregime. Gleichzeitig nehmen sie gerade auch darum am Global Compact zwischen VN und Unternehmen teil, um ihre schon vorab bestehende Kritik an der fehlenden Repräsentativität und Effektivität des Global Compacts von "innen heraus" als Mitglieder formulieren zu können. Dies sichert nicht nur eine Aufmerksamkeit bei den anderen Mitgliedern nach innen und signalisiert nach außen die Bereitschaft, sich konstruktiv an der Lösung der skizzierten Probleme zu beteiligen. Es gibt den beteiligten NGOs darüber hinaus die - mittlerweile mehrfach genutzte - Möglichkeit, spektakulär mit einem Austritt zu drohen. Umgekehrt bleiben solche Strategien nur auserwählten NGOs vorbehalten, die tatsächlich Zugang erhalten - etwa eine Mitgliedschaft beim Global Compact oder einen Konsultativstatus beim Wirtschafts- und Sozialrat der VN. Der Weg "interner" Kritik steht somit nur einer Auswahl von Kritikern offen, andere müssen den Weg des "stillen" Lobbyings beschreiten oder durch medienwirksamen Protest auf ihre Forderungen aufmerksam machen.

Sofern internationale Institutionen normative Ansprüche enttäuschen, haben sie zum anderen nicht nur "direkt" mit gesellschaftlichen Widerständen zu rechnen, sie geraten auch von Seiten relevanter Regierungen unter Druck, die auf eine mangelnde Zustimmung ihrer Wähler reagieren. Hierbei spielt eine Rolle, dass durch sich lockernde Bindungen zwischen Bürgern und politischen Institutionen im nationalen Rahmen die Spielräume für unpopuläre Entscheidungen zugunsten internationaler Institutionen enger werden. Langfristig orientierte Regeleinhaltung der Regierung kann Angriffsflächen für innenpolitische Opponenten eröffnen, denen mediale Resonanz zumindest so lange gewiss ist, wie ihre radikale Ablehnung die Stimmung des Publikums tatsächlich trifft.

Der gesellschaftliche Widerstand nimmt in diesem Sinne immer wieder erheblichen Einfluss auf die Politik von Regierungen gegenüber internationalen Institutionen. Die Ablehnung verschiedener multilateraler Vereinbarungen durch die USA während der Clinton-Administration kann am besten als vorauseilender Gehorsam gegenüber einer im Senat verankerten gesellschaftlichen Skepsis gegenüber internationalen Institutionen gedeutet werden. Auch in der EU lassen sich solche Fälle beobachten, etwa im Zusammenhang mit der Bewältigung der BSE-Krise. Und sicherlich hat das Scheitern der Referenden zur Europäischen Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden die weitere Verhandlung zur Reform des institutionellen Systems der EU nicht einfacher gemacht.

Schlussbemerkung

Das Ergebnis der skizzierten Politisierung ist noch nicht abzusehen. Manches spricht dafür, dass die weltgesellschaftlichen Forderungen nach mehr Transparenz und Inklusivität sowie einer geringeren Selektivität der internationalen Institutionen ihre Früchte tragen. Die Transparenz der Entscheidungsprozesse hat sich insbesondere bei den internationalen Wirtschaftsinstitutionen erhöht, viele internationale Organisationen öffnen sich für neue Mitgliedschaften, und die Zunahme von internationalen Schiedsgerichten reduziert die Selektivität in der Anwendung internationaler Regeln. Gleichzeitig ist nicht zu übersehen, dass nationale Widerstände gegen internationale Institutionen nicht zuletzt in so wichtigen Staaten wie den USA, Russland und China deutlich zugenommen haben.

Ob wir uns also auf dem Weg zurück zur zwischenstaatlichen Ordnung des 19. Jahrhunderts oder zu einer konstitutionell und normativ fundierten Ordnung jenseits des Nationalstaates befinden, wird sich erweisen müssen. Eine Analyse der gegenwärtigen Entwicklungstrends legt freilich nahe, dass dabei neue, ungekannte Formen einer politischen Ordnung entstehen können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die in diesem Beitrag entwickelten Überlegungen beruhen auf dem breiter angelegten Forschungsprogramm der Abteilung "Transnationale Konflikte undInternationale Institutionen" am Wissenschaftszentrum Berlin. Vgl. hierzu Michael Zürn/Martin Binder/Matthias Ecker-Ehrhardt/Katrin Radtke, Politische Ordnungsbildung wider Willen, in: Zeitschrift für InternationaleBeziehungen, 14 (2007) 1, S. 129 - 164. Attac Deutschland 2007, in: http://www.attac.de/heiligendamm07/pages/alternativen.php (16. 4. 2007).

  2. Walden Bello 2003, in: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/agp/free/cancun/action/cancun/0915walden_ bello.htm (16.4. 2007).

  3. Vgl. Michael Zürn, Global Governance in der Legitimationskrise?, in: Claus Offe (Hrsg.), Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge, Frankfurt/M. 2003.

  4. Vgl. European Opinion Research Group EEIG, Eurobarometer 60/Herbst 2003 - Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union, 2004; European Opinion Research Group EEIG, Eurobarometer 61/Frühjahr 2004 - Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union (gemeinsamer Bericht der Eurobarometer 61 und CC Eurobarometer 2004.1), 2004.

  5. Instruktiv ist darüber hinaus, dass eine Wiederholungsbefragung des Pew Research Center for the People and the Press (2003:1) einen gewissen subjektiven Bedeutungsverlust der VN belegt, nachdem sich die VN im Fall des Irakkonfliktes weder gegen das Regime Saddam Husseins noch gegenüber der von den Vereinigen Staaten angeführten "Koalition der Willigen" als übermäßig durchsetzungsfähig erwiesen hatte. (Vgl. Pew Research Center for the People and the Press, Pew Global Attitudes Project 2003: Views of a Changing World, Washington, DC 2003.)

  6. Vgl. www.icbl.org (16. 4. 2007).

  7. http://ww1.transparency.org/building_coalitions/oecd/oecd.html (16. 4. 2007); vgl. auch Günter Metzges, NGO-Kampagnen und ihr Einfluss auf internationale Verhandlungen, Baden-Baden 2006.

  8. Vgl. Michael Zürn/Gregor Walter (Hrsg.), Globalizing Interests. Pressure Groups and Denationalization, Albany 2005.

  9. Mit Blick auf den Menschenrechtsbereich etwa Thomas Risse/Anja Jetschke/Hans P. Schmitz, Die Macht der Menschenrechte. Internationale Normen, kommunikatives Handeln und politischer Wandel in den Ländern des Südens, Baden-Baden 2002; vgl. auch Matthias Ecker-Ehrhardt, Neue Autoritäten? Die öffentliche Definition humanitärer Krisen durch trans- und internationale Institutionen, WZB Discussion Paper, Berlin 2007 (i E.).

  10. Vgl. David Black, The Long and Winding Road: International Norms and Domestic Political Change in South Africa, in: Thomas Risse/Stephen C. Ropp/Kathryn Sikkink (Hrsg.), The Power of Human Rights. International Norms and Domestic Change, Cambridge 1999, S. 78 - 108; Michele Micheletti, Political Virtue and Shopping, New York 2003.

  11. Schon Rosenau sah hierin ein wesentliches Charakteristikum einer "multizentrischen Welt". Vgl. James N. Rosenau, Along the Domestic Foreign Frontier. Exploring Governance in a Turbulent World, Cambridge 1997.

  12. Vgl. Hans W. Bierhoff/Beate Küpper, Sozialpsychologie der Solidarität, in: Kurt Bayertz (Hrsg.), Solidarität, Frankfurt/M. 1998, S. 263 - 296; Martha Finnemore, The Purpose of Intervention: Changing Beliefs About the Use of Force, Ithaca 2004.

  13. Zur Zunahme solcher globalen Orientierung vgl. Peter A. Furia, Global Citizenship, Anyone? Cosmopolitanism, Privilege and Public Opinion, in: Global Society, 19 (2005) 4, S. 331 - 359. Vgl. auch die Arbeiten von Ulrich Beck zum Kosmopolitismus: Ulrich Beck, Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden, Frankfurt/M. 2004.

  14. Vgl. Pippa Norris, Democratic Phoenix: Reinventing Political Activism, Cambridge 2002; Ronald Inglehart/Christian Welzel, Modernization, Cultural Change, and Democracy: The Human Development Sequence, Cambridge 2005.

  15. Vgl. Zeyno Baran, Fighting the War of Ideas, in: Foreign Affairs, 84 (2005) 6, S. 68 - 78.

  16. Vgl. Martin Khor, Rethinking Liberalisation and Reforming the WTO: Martin Khor's Presentation at Davos, 2000; Martin Khor, Preliminary Comments on the WHO's July Decisionand Process, 2004; Markus Krajewski, Democratic Legitimacy and Constitutional Perspectives of WTO Law, in: Journal of World Trade, 35 (2002) 1, S. 167 - 186.

  17. Vgl. M. Ecker-Ehrhardt (Anm. 9).

  18. Vgl. Charlotte Dufour/François Grünewald/Karla Levy, ALNAP Global Study. Participation by Crisis Affected Populations in Humanitarian Action. A Handbook for Practitioners, ALNAP, Overseas Development Institute, London 2003; Paul Harvey/Jeremy Lind, Dependency and Humanitarian Relief. A Critical Analysis. HPG Report 19, Humanitarian Policy Group at ODI, London 2005. Am Beispiel des ISO-14000-Prozesses hat beispielsweise Susan Raines aufgezeigt, dass die Exklusion wesentlicher Betroffenengruppen sowohl der Legitimität als auch der Effektivität von Institutionen schadet. Vgl. Susan Raines, Perceptions of Legitimacy and Efficacy in International Management Standards: The Impact of the Participation Gap, in: Global Environmental Politics, 3 (2003), S. 47 - 73.

  19. Der United Nations Global Compact ist ein weltweiter Pakt zwischen Unternehmen und den VN, welcher 1999 auf dem Weltwirtschaftsgipfel vom VN-Generalsekretär Kofi Annan initiiert wurde, um die Globalisierung gemeinsam sozialer und ökologischer zu gestalten. Vgl. Lothar Rieth, Der VN Global Compact: Was als Experiment begann ..., in: Die Friedens-Warte, 79 (2004) 1 - 2, S. 151 - 170.

  20. Vgl. die U.N. Alliance for a Corporate-Free U.N.von CorpWatch ?http://www.corpwatch.org? (25.5. 2006) und der dort dokumentierte Appell vonEarthRights International an UNEP, UNDP, UNHCR, UNIDO und ILO, aus dem Global Compact auszutreten.

  21. Vgl. Margaret E. Keck/Kathryn Sikkink, Activists beyond Borders. Advocacy Networks in International Politics, Ithaca, NY-London 1998; Sebastian Oberthür/Jacob Werksman/Matthias Buck/Sebastian Müller/Alice Palmer/Stefanie Pfahl/Richard G. Tarasofsky, Participation of Non-governmental Organizations in International Environmental Governance. Legal Basis and Practical Experience, Berlin 2002; Margaret P. Karns/Karen A. Mingst, International Organizations. The Politics and Processes of Global Governance, Boulder-London 2004.

  22. Vgl. Ngaire Woods/Amrita Narlikar, Governance and the Limits of Accountability: The WTO, the IMF and the World Bank, in: International Social Science Journal, 53 (2001) 170, S. 569 - 583.

  23. Vgl. Robert O'Brian/Anne M. Goetz/Jan A. Scholte/Marc Williams, Contesting Global Governance: Multilateral Institutions and Global Social Movements, Cambridge 2000; Richard M. Price, Transnational Civil Society and Advocacy in World Politics, in: World Politics, 55 (2003) 4, S. 579 - 606; Achim Brunnengräber, Gipfelstürmer und Straßenkämpfer. NGOs und globale Protestbewegungen in der Weltpolitik, in: Ders./Ansgar Klein/Heike Walk (Hrsg.), NGOs im Prozess der Globalisierung. Mächtige Zwerge - umstrittene Riesen, Bonn 2005, S. 328 - 365.

  24. Vgl. Bernhard Zangl/Michael Zürn, Frieden und Krieg. Sicherheit in der nationalen und post-nationalen Konstellation, Frankfurt/M. 2003; Martin Binder, Violent Humanitarian Crises and the Politics of Selectivity. Paper presented at the annual meeting of the International Studies Association 48th Annual Convention, 28. 2. 2007.

  25. Vgl. Katrin Radtke, Ein Trend zu transnationaler Solidarität? Die Entwicklung des Spendenaufkommens für die Katastrophen- und Entwicklungshilfe in Deutschland, WZB Discussion Paper, Berlin 2007 (i.E.).

  26. Vgl. etwa Mark Juergensmeyer, The Global Dimensions of Religious Terrorism, in: Rodney B. Hall/ Thomas J. Biersteker (Eds.), The Emergence of Private Authority in Global Governance, Cambridge 2002, S. 141 - 157.

  27. Vgl. M. E. Keck/K. Sikkink (Anm. 21); Sidney Tarrow, Transnational Politics: Contention and Institutions in International Politics, in: Annual Review of Political Science, 4 (2001) 1, S. 1 - 20; Erik Voeten, The Political Origins of the UN Security Council's Ability to Legitimize the Use of Force, in: International Organization, 59 (2005) 3, S. 527 - 557.

  28. Vgl. etwa ihren offenen Brief vom 7. 4. 2003 http://web.amnesty.org/pages/ec-gcletter070403-eng (16. 4. 2007).

  29. Vgl. Jürgen Neyer, Domestic Limits of Supranational Law: Comparing Compliance with European and International Foodstuffs Regulations, in: Michael Zürn/Christian Joerges (Eds.), Law and Governance in Postnational Europe, Cambridge 2005.

  30. Vgl. Michael Zürn, Institutionalisierte Ungleichheit. Jenseits der Alternative "Global Governance" versus "American Empire". Vorlesung am 31. Oktober 2006, in: WZB Vorlesung 18, Berlin 2007.

Dr. phil., geb. 1967; wiss. Mitarbeiter der Abteilung Transnationale Konflikte und Internationale Institutionen am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) gGmbH, Reichpietschufer 50, 10785 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: Ecker@wzb.eu

Prof. Dr. rer. soc., geb. 1959; Dean der Hertie School of Governance und Direktor der Abteilung Transnationale Konflikte und Internationale Institutionen am WZB.
E-Mail: E-Mail Link: Zuern@wzb.eu